14. April 2013
Wege zu Gott
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In dem katholischen Katechismus für die deutschen Bistümer vom Jahre 1955 lautet die erste Frage: „Wozu sind wir auf Erden?“ Die Antwort darauf: „Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und einst ewig mit ihm zu leben.“ In diesem kurzen Abschnitt unserer Glaubenslehre werden tiefe Wahrheiten ausgesagt. Nämlich, dass wir für Gott bestimmt sind, dass wir von Gott kommen und dass wir zu Gott gehen. Die Menschen sind Geschöpfe Gottes, und diese Geschöpflichkeit haftet ihnen unfehlbar an. Sie können nicht anders als gottgehörig sein. Die Menschen haben zu allen Zeiten dieser Gottgehörigkeit Ausdruck gegeben: Durch Gebete, durch Opfer, durch Meditation, durch Gottesdienst. Als Paulus in Athen war, hat er den damals noch heidnischen Athenern zugerufen: „Gott will, dass die Menschen Gott suchen, ob sie ihn finden und ertasten können, denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“
Wenn der Mensch von Gott stammt und wenn er auf Gott verwiesen ist, wie kommt es dann, dass viele Menschen von dieser Herkunft und von dieser Anlage angeblich oder wirklich nichts spüren oder wissen wollen? Trifft die theologische Aussage eine erfahrbare Wirklichkeit oder ist sie eine Fiktion?
Zunächst einmal: Die Herkunft von Gott und die Verwiesenheit auf Gott drängt sich den Menschen nicht auf wie ein Naturtrieb, wie Hunger und Durst. Die Wirklichkeit Gottes muss von den Menschen, als mit Verstand und Willen begabten Wesen, gesucht werden. Dem Menschen ist es aufgegeben, die Wirklichkeit Gottes, seine Gottentstammtheit und seine Gottverwiesenheit zu erkennen und im Leben zu verwirklichen. Dabei ist er nicht allein. Gott kommt ihm mit seiner helfenden Gnade entgegen. Es ist ein eherner Grundsatz der katholischen Gnadenlehre, dass Gott jedem Menschen hinreichende Gnade gibt, damit er das Heil erlangen könne. Der Mensch ist befähigt, über die sichtbare und greifbare Welt, die ihn umgibt, hinauszugreifen auf eine Wirklichkeit, die vor und hinter der Welt steht. Es ist nicht wahr, was seit Immanuel Kant in unserer Gesellschaft umgeht, es ist nicht wahr, dass die menschliche Erkenntnis auf den Bereich der unmittelbaren Erfahrung eingeschränkt ist. Eine solche Begrenzung hebt sich selbst auf. Denn wenn man den Satz aufstellt: „Der Mensch, die menschliche Erkenntnis ist auf die unmittelbare Erfahrung begrenzt“, dann stellt man einen Satz auf, der sich selbst aus der Erfahrung nicht ergibt, der die Erfahrung überschreitet! Über der Physik gibt es eine Metaphysik.
Die Verbindung mit Gott kann natürlich, wie wir alle wissen, von den Menschen vergessen, verkannt, ja ausdrücklich zurückgewiesen werden. In der früheren DDR wurde vonseiten des Staates der historische und dialektische Materialismus proklamiert und den Menschen von Kindheit an eingeflößt. Nach dieser Ideologie lassen sich die nichtmateriellen Formen der Wirklichkeit – also Bewusstsein, Geist, Vernunft – auf materielles Sein zurückführen; es gibt überhaupt nichts anderes als materielles Sein. Es wird erst recht die Existenz eines unendlichen Geistes, den wir Gott nennen, geleugnet. Die Menschen in der DDR waren abhängig von der Gesellschaft, vom Staat, viel abhängiger als wir es sind, und so haben sie diese Irrlehre aufgenommen, eingesogen und sind dieser Verirrung verfallen. Der Osten Deutschlands ist das gottloseste Land der Welt. 52 Prozent bezeichnen sich ausdrücklich als Atheisten. Auf den Philippinen sind es 94 Prozent, die sich als gläubig bezeichnen. Die Konfessionslosigkeit und damit zumeist auch die Gottlosigkeit ist auch in der alten Bundesrepublik immer mehr gewachsen. Noch bis in die 1960er Jahre gehörten 90% der Bevölkerung einer Kirche an. Seit 1980 hat sich die Zahl der Konfessionslosen verdreifacht. Die Länder, die seit 1989 zu uns gekommen sind, machen eine schreckliche Entwicklung durch. Das Eichsfeld, das katholische Eichsfeld in Thüringen, hatte sich in der materialistischen Umgebung der DDR behauptet. Es war eine katholische Insel, eine gläubige Insel, innerhalb eines Meeres des Unglaubens. Seitdem die östlichen Länder an die Bundesrepublik angeschlossen sind, geht auch dort der Glaube erschreckend zurück. In der Zeit der DDR gingen in Heiligenstadt 75 Kinder zur Erstkommunion, heute sind es noch 25. Das Land, das dem Kommunismus trotzte, scheint dem Kapitalismus zu erliegen.
Welches sind die Gründe für diesen Rückgang, der uns erschreckt und tief betrübt? In der Bundesrepublik wird ja jedenfalls von Staates wegen der Glaube nicht öffentlich bekämpft, aber es ist trotzdem die Hetze gegen Gott, Christentum und Kirche seit Jahrzehnten immer ausgedehnter und heftiger geworden. Politische Parteien – Sie wissen, welche –, weltanschauliche Gruppen und zahlreiche ideologisch verfestigte Vereine sind sich einig in der Bekämpfung des religiösen Glaubens und der Institutionen, die ihn tragen. Zahlreiche Schriftsteller setzen ihre geschäftige Feder in Bewegung und machen es sich zur Aufgabe, das Christentum, die Kirche, die Religion zu schmähen, zu schelten, zu beschimpfen. Ich erwähne einen: Karlheinz Deschner. Dieser Mann schreibt seit 1984 ein religionsfeindliches Buch nach dem anderen. Jetzt ist er beim zehnten angelangt: „Kriminalgeschichte des Christentums“. Von seinen Büchern sind 350.000 Exemplare verbreitet. Viele Menschen erliegen der Polemik. Sie benutzen diese Bücher als Alibi, sich von der Religion loszusagen, die ihnen Lasten auflegt, die sie nicht tragen wollen.
Nicht alle, die sich von der Religion lösen, erliegen dem Einfluss einer feindlichen Lektüre. Es gibt auch andere Ursachen. Manche Menschen berufen sich auf ungläubige Wissenschaftler, um ihre Gottesferne zu rechtfertigen. In den seltenen Augenblicken, in denen ich einmal das Fernsehen eingeschaltet habe, habe ich mit eigenen Ohren gehört, wie der Professor Grzimek von Frankfurt die Äußerung machte: „Ich als Naturwissenschaftler bin selbstverständlich Atheist.“ Meine lieben Freunde, ich weiß nicht, ein wie großer Naturwissenschaftler Professor Grzimek war. Aber viel größere als er sind nicht gottlos, sondern glauben an Gott. Gerade die Größten im Reiche der Naturwissenschaft sind gläubige Christen gewesen und geblieben. Ich nenne die Namen Tycho de Brahe, Kepler, Newton, Galilei. Sie alle waren ohne Ausnahme gläubige Christen, Gottgläubige. Also mit dem Zusammenhang zwischen Naturwissenschaft und Unglaube hat es nichts auf sich. Die Wissenschaftler, oder auch Pseudowissenschaftler, die sich auf die Naturwissenschaft als Quelle ihres Unglaubens berufen, greifen über das Gebiet, in dem sie vielleicht etwas verstehen, hinaus. Aber die Methoden sind in jeder Wissenschaft unterschiedlich. Ich kann nicht als Mineraloge mit den Methoden der Mineralogie an die Biologie herangehen. Und ich kann nicht mit den Methoden der Biologie über Moral und Religion urteilen wollen. In jeder Wissenschaft ist eine andere Methode üblich. Außerdem sagen uns angesehene Physiker: „Die moderne Quantenphysik hat den Schein zerstört, als ergäbe sich die atheistische materialistische Ideologie aus den Entdeckungen der Wissenschaft.“
Bei vielen ist es die Trägheit des Herzens und das Versinken im Materiellen, die sie gleichgültig machen gegen die Gottesfrage. Viele Menschen geben sich zufrieden mit Essen und Trinken, mit Arbeit und Erholung, mit Genuss und Spiel. Was jenseits der Tagesbedürfnisse und der Tagesbeschäftigungen steht, lassen sie beiseite. Es interessiert sie nicht. Sie möchten in Ruhe gelassen sein. Sie möchten der Verpflichtung zur Größe, welche die Existenz Gottes bedeutet, entgehen. Sie möchten, dass Gott, der in allem anders ist als der Mensch und der sie herausfordert mit seinen Geboten, nicht existiert, sie möchten die Beunruhigung, die von Gottes Existenz ausgeht, sich vom Leibe schaffen. Der selbstgenügsame Mensch flüchtet vor Gott, er entfernt Gott aus seinem Leben. Es gibt auch die Neigung des sündigen Menschen, Gott auszuweichen, Gott zu ignorieren, sich vor Gott zu verbergen. Denn Gott ist der Heilige, und seine Heiligkeit ist von der Art, dass sie ausgesprochen unbequem ist. Denn es gilt das Wort: „Seid heilig, wie ich, euer Gott, heilig bin.“ Der Böse empfindet Gott als Bedrohung, deshalb bemüht er sich, sich selbst über Gottes Dasein hinwegzutäuschen. In diesem Sinne heißt es im Zarathustra von Nietzsche: „Er musste sterben. Er sah mit Augen, die alles sehen. Er sah des Menschen Tiefen und Gründe. Alle seine verhehlte Hässlichkeit und Schmach. Der Gott, der alles sah, auch den Menschen, der Gott musste sterben. Der Mensch erträgt nicht, dass ein solcher Zeuge lebt.“
Wer Gott finden will, muss ihn suchen. Die Suche beginnt im Denken, im Nachdenken über die Welt und über den Menschen. Wir erleben die Natur, die unbelebte und die belebte. Und wie ist sie großartig, wie ist sie gewaltig! Die Alpen, der Himalaya, die Ozeane, die Arktis. Wir erleben den Wechsel der Jahreszeiten, den Kreislauf der Erde um die Sonne. Wir wissen um das Weltall. Die besten Fernrohre, die wir heute haben, zeigen uns, dass der uns zugängliche Teil des Weltalls einen Radius von mehr als drei Milliarden Lichtjahren hat. Ein Lichtjahr ist die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Und in diesem uns zugänglichen Teil des Weltalls befinden sich einige hundert Milliarden Sternsysteme. Jedes Sternsystem enthält einige Milliarden Sterne und eine große Menge interstellarer Materie. Albert Einstein vertrat einst die Meinung, das Weltmodell ist statisch, d.h. die Welt ist zeitlich unveränderlich und existiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Dagegen haben Edwin Powel Hubble und Carl Wilhelm Wirtz ein dynamisches Weltmodell aufgestellt. Nach diesem dynamischen Weltmodell dehnt sich die Welt fortwährend aus. Sie kann deswegen nicht seit unendlicher Zeit bestehen. Es muss einen Punkt geben, wo diese Bewegung angefangen hat. Das heißt, diese Männer erklären die Schöpfung vom naturwissenschaftlichen Standpunkt für denkbar, möglich, wahrscheinlich. Mögen die Agnostiker sagen, wir wissen nicht, wie es zu diesem Anfang kam – dann verzichten sie halt auf eine Erklärung. Wir haben eine Erklärung, und sie liegt darin, dass wir sagen: Die Welt verdankt ihre Existenz einer unendlichen, auch der Welt unendlich überlegenen Macht. Wir nennen sie Gott.
Das Denken allein genügt nicht, um Gott zu finden. Es muss die Ausrichtung des Willens dazukommen, damit der Mensch Gott findet. Im Evangelium nach Johannes steht der bedenkenswerte Satz: „Wenn einer bestrebt ist, Gottes Willen zu tun, wird er erkennen, ob meine Lehre aus Gott ist.“ Die Entschlossenheit, die Gebote Gottes zu halten, besitzt also Erkenntniskraft, führt uns zu der Erkenntnis, dass die Lehre Jesu von Gott stammt. Das Tun der Wahrheit ist der Schlüssel, der uns die Wahrheit öffnet. Umgekehrt gilt: Wer sich in seiner Lebenshaltung immer mehr vom Willen Gottes entfernt, wer in der Sünde versinkt, der macht sich unfähig, Gott zu erkennen, der ist in der Gefahr, Gott zu verfehlen und ihn zu verlieren. Von Immanuel Kant stammt das inhaltsschwere Wort: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Ja das gibt es: Es gibt ein Sittengesetz, das in das Herz des Menschen geschrieben ist. Wir nennen es das Gewissen. Es existiert eine seelische Kraft und Tätigkeit, die den Menschen heißt, das Böse zu unterlassen und das Gute zu tun. Der Mensch besitzt eine sittliche Anlage, aus der sich das sittliche Urteil ergibt. Von ihr spricht Goethe im „Tasso“: „Ganz leise spricht ein Gott in unserer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, was zu erstreben ist und was zu fliehen.“ Das Gewissen verdankt nicht, wie die Behavioristen wollen, der Gewöhnung, der Erziehung oder der Konvention seinen Ursprung. Seine Allgemeinheit und seine Unzerstörbarkeit zeigen an, dass es zur menschlichen Natur gehört. Sein Ursprung liegt im Schöpfer dieser Natur: Wir nennen ihn Gott. Wie ein Abglanz der Heiligkeit Gottes leuchtet in der Menschenseele das Gewissen. Keiner kann sagen, er habe Gott gesehen, aber auch keiner, er habe ihn nicht erlebt. Ich kenne alle Einwände gegen das Gewissen; man kann es verbilden, man kann es überhören, aber eines kann man nicht: es zerstören.
Der Mensch kann durch eigenes Nachdenken und durch Tun des Guten zu Gott finden. Es gibt eine natürliche Erkennbarkeit Gottes. Sie ist sogar vom Ersten Vatikanischen Konzil definiert worden: „Was unsichtbar an Gott ist, seine ewige Macht und Göttlichkeit, wird seit der Schöpfung der Welt deutlich an seinen Werken erschaut.“ Und dennoch sind die Menschen auf das Zeugnis anderer angewiesen. Die Menschen, die Gott kennen, die Gott gefunden haben, leiten andere an, ihn zu suchen und zu finden. Das geschieht durch Belehrung und durch Beispiel – ja, auch durch Beispiel. Es gibt Menschen, meine lieben Freunde, es gibt viele Menschen, die sich von ihrer Religion leiten lassen in ihrem täglichen Leben, die das Leben nach der Religion ausrichten. Warum lebt dieser Mann sehr bescheiden, obwohl er sich mit seinem Einkommen, wie man heute sagt, alles leisten könnte? Warum begnügt sich dieses Ehepaar nicht mit zwei Kindern, wie es üblich ist, obwohl es genau weiß, wie man weiteren Nachwuchs verhindern kann? Warum stehen diese hochgebildeten Damen jeden Sonntag früh auf und eilen zum Gottesdienst, obwohl sie, wie alle anderen, den Schlummer zu schätzen wissen? Warum verzichten junge, begabte Männer auf Ehe und Familie, obwohl sie ebenso wie andere fähig wären, eine Frau heimzuführen und Vater zu werden? Wie kommt es, dass dieser leidende Mensch sein großes Leid ohne Klage und Anklage trägt? Wie ist es möglich, in dürftiger Lage auszuharren, ohne Neid gegen andere zu hegen? In allen diesen Fällen lautet die Antwort: Diese Menschen leben so, weil es ihnen die Religion gebietet, weil es ihnen das Christentum sagt, weil es sie die Kirche lehrt, weil sie an Gott glauben. Die bewegende und tragende Kraft ihres Lebens ist der lebendige Gott. Und deswegen fordert ihr Zeugnis Beachtung.
Freilich, diese Beispiele gläubiger Menschen wecken nicht automatisch die Neigung der gottvergessenen Menschen, es ihnen gleichzutun. Viele haben das gute Beispiel vor Augen und verharren weiter in ihrer Gottlosigkeit, in ihrem gottvergessenen Leben. Sie sagen sich: „Die sind schön dumm, dass sie auf die Annehmlichkeiten des Lebens verzichten. So dumm sind wir nicht." Sie gehen kaltlächelnd und achselzuckend über das Zeugnis der Gläubigen hinweg. Und doch ist dieses Zeugnis nicht umsonst, meine lieben Freunde: Es macht die anderen unentschuldbar! Sie werden vor dem Gericht Gottes nicht sagen können: „Wir haben nicht gewusst, wie man leben muss.“ Sie haben es gewusst! Sie haben es gesehen, und sie sind diesem Beispiel nicht gefolgt. Freilich, der eine oder andere der gottvergessenen Menschen wird sich durch das Beispiel der Gläubigen angerührt fühlen. Er wird nachdenklich werden, er wird sich fragen: „Was ist schöner? Dahinleben wie ein Tier mit animalischen Trieben? Oder leben, wie es die Würde des Menschen, wie es die Würde des Gott kennenden Menschen verlangt?“
Es ist unmöglich, für die Nichtexistenz Gottes positive Gründe herbeizubringen. Atheismus ist eine Krisenerscheinung. Von Plato stammt das schöne Wort: „Atheismus ist eine Krankheit der Seele.“ Zu glauben, meine lieben Freunde, ist schwierig, aber nicht zu glauben, ist unmöglich.
Amen.