Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
17. Februar 2013

Der politische Prozess

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, in dieser Bußzeit das Leiden des Herrn in seinen Einzelheiten vor unseren Augen hinzustellen. Am letzten Sonntag hatten wir gehört, dass die Juden, der Hohe Rat, das Synedrium, unsern Herrn zum Tode verurteilt hatte, wegen Gotteslästerung. Die Gotteslästerung fanden sie darin, dass er sich zu seinem Messiaswesen bekannt hatte. Der Hohe Rat konnte Todesurteile aussprechen, aber er konnte sie nicht vollstrecken. Damit Todesurteile ausgeführt wurden, musste er sich an den obersten Besatzer, den Prokurator Pontius Pilatus, wenden. Dieser musste nicht das Todesurteil des jüdischen Gerichtes bestätigen. Er hatte das Recht, es zu prüfen und es entweder zu bestätigen oder zu verwerfen. Dazu bedurfte es eines neuen Verfahrens. Während des Prozesses vor dem Hohen Rat waren Jesus die Fesseln abgenommen worden. Jetzt wurde er erneut gefesselt, denn er musste ja durch die Stadt geführt werden, zum Richtplatz des Pilatus. Sie hatten Angst, dass er ihnen entkommen könnte. Sie hatten Zweifel, vielleicht auch die Besorgnis, dass seine Anhänger ihn befreien könnten. So haben sie ihn gefesselt durch die Stadt geführt zum Richthaus des Pilatus. Es war morgens früh etwa um sechs Uhr. Die Römer hielten nämlich sehr früh Gericht. Schon nach Sonnenaufgang hielten die römischen Richter Gericht. Das Richthaus des Pilatus könnte an zwei Stellen gelegen haben, nämlich in dem Palast des Herodes oder in der Burg Antonia auf dem Tempelplatz. Der Palast des Herodes lag an der Nordwestecke Jerusalems. Die Burg Antonia, wie gesagt, am Tempelplatz. Der gewöhnliche Wohnort des Prokurators in Jerusalem war der Palast des Herodes. Er war weiträumig, er war groß, auch mit einer Kaserne verbunden, wo die Kohorte Platz finden konnte. Aber die Burg Antonia hatte einen anderen Vorteil. Sie lag am Tempelplatz. Man war den Ereignissen nahe. Man konnte in dieser brisanten Zeit, wo leicht ein Volksaufstand ausbrechen konnte, sofort eingreifen. So können wir annehmen, wir wissen es nicht genau, aber wir können annehmen, dass Pilatus in der Burg Antonia das Prätorium, den Richtplatz, hatte. Jesus wurde am Tor des Prätoriums von den Dienern des Hohen Rates den römischen Soldaten übergeben. Diese führten ihn ins Prätorium hinein. Die Juden blieben vor dem Prätorium stehen. Warum? Weil sie nicht unrein werden wollten. Nach jüdischer Auffassung wurde man unrein, wenn man in das Haus eines Heiden trat. Man wurde auch unrein, wenn man im Heidenland gewesen war. Und deswegen schüttelten die Juden, wenn sie ins Heilige Land zurückkehrten, den Staub von ihren Füssen.

Jetzt bringen sie Jesus zu Pontius Pilatus. Wer war dieser Mann? Er war der 5. Prokurator in Palästina, der Nachfolger des Gratus und hatte sein Amt inne von 26 bis 36 n. Chr., also zehn Jahre. Wahrscheinlich stammte er aus dem Rittergeschlecht der Pontier, deswegen Pontius Pilatus. Er hatte seine hohe Stelle durch die Gönnerschaft eines mächtigen Mannes erreicht, nämlich des Gardepräfekten Sejanus. Dieser Gardepräfekt war ein fanatischer Antisemit. Und er übergab das Amt einem ebenso fanatischen Antisemiten, Pontius Pilatus. Pilatus war ein Feind der Juden. Die jüdischen Nachrichten, die wir von ihm haben, stimmen ganz und gar mit dem überein, was die Evangelisten von ihm berichten. Herodes Agrippa, der König von Galiläa, hat einen Brief an den Kaiser Caligula geschrieben, und in diesem Brief beschreibt er den Pilatus. Was sagt er von ihm? Er sei unbeugsam, rücksichtslos, starrsinnig gewesen. Er wirft ihm Bestechlichkeit, übermütige Gewalttätigkeit, Räubereien, Misshandlungen, Kränkungen, häufige Hinrichtungen ohne Urteilsspruch, unerträgliche, fortgesetzte Grausamkeit vor. Wir wissen von mindestens vier Ereignissen, in denen Pilatus seine Abneigung gegen die Juden kundtat. Einmal ließ er seine Truppen mit Feldzeichen, also mit Bildern und gemalten Kaiserporträts, in die Stadt Jerusalem einrücken. Das war für die Juden ein Graus, sie waren kurz vor dem Aufstand, sie beschwerten sich beim Kaiser, und der Kaiser befahl dem Pilatus, er muss diese Bilder wieder herausnehmen. Ein andermal ließ er vergoldete Schilde im Palast des Herodes aufstellen. Und auch das war den Juden, und vor allem den Söhnen des Herodes, ein Ärgernis. Er wurde vom Kaiser gezwungen, diese Schilde wieder abzutransportieren in die Residenz in Caesarea. Aus dieser Zeit stammt die Feindschaft zwischen Pilatus und Herodes Antipas. Und natürlich auch die Verachtung der Juden. Ein drittes Mal nahm Pilatus Geld aus dem Tempelschatz und baute damit eine Wasserleitung. Das führte zum Aufstand der Juden. Er wurde blutig niedergeschlagen. Und der Barabbas, von dem wir noch hören werden, hat wahrscheinlich an diesem Aufstand teilgenommen. Das vierte Ereignis war eine Metzelei, die Pilatus an den Samaritanern am Berge Garizim beging. Damit war das Mass voll. Die Samaritaner beschwerten sich bei dem Statthalter von Syrien, Vitellius. Dieser zeigte Pilatus an, enthob ihn seines Amtes und schickte ihn nach Rom. Das war kurz vor dem Tode des Kaisers Tiberius. Was mit ihm geworden ist, wissen wir nicht. Möglicherweise hat ihn die Strafe ereilt. Zu diesem Mann also bringen die Juden den Heiland. Er soll ihn richten. Der Prokurator war Einzelrichter. Er hatte zwar Beisitzer, aber diese Beisitzer hatten keine richterlichen Befugnisse. Sie waren nur dazu da, Rat zu geben. Es galt das Prinzip der freien Beweiswürdigung. Der Richter war also nicht an bestimmte Vorgaben gebunden. Als Beweismittel dienten die Aussagen der Zeugen und natürlich auch die Aussage des Angeklagten. Beide wurden aufgerufen. Der Kläger brachte seine Klage vor und danach der Angeklagte seine Verteidigung. Der Richter beriet sich danach mit den Beisitzern und fällte das Urteil. Es wurde sofort ohne Möglichkeit der Revision oder der Berufung vollstreckt. Als Verhandlungssprache diente das Griechische in diesen östlichen Provinzen. Wir können ausgehen davon, dass auch die Verhandlung zwischen Jesus und Pilatus auf griechisch geführt wurde. Viele Galiläer, vielleicht auch Jesus, verstanden griechisch. Wenn Jesus aramäisch gesprochen hat, dann wurde ein Dolmetscher herbeigezogen.

Der Hohe Rat musste nun versuchen, Pilatus von dem Verbrechen Jesu zu überzeugen. Und zwar von einem Verbrechen, das nach römischem Recht den Tod verdiente. Dazu war der Vorwurf der Gotteslästerung nicht geeignet. Gotteslästerung war nach römischem Recht kein todeswürdiges Verbrechen. So musste die Anklage umgestellt werden. Sie wurde umgestellt auf Hochverrat. Auf den Religionsprozess folgte der politische Prozess. Warum aber hat der Hohe Rat dann zuvor ein Todesurteil wegen Gotteslästerung gefällt? Aus zwei Gründen: einmal war es geeignet, den Prokurator unter Druck zu setzen. Sie sagten: Das Verbrechen ist nach unserer Rechtsordnung so geartet, dass er den Tod verdient. Und zum anderen konnte man damit Einfluss auf das Volk nehmen. Bei der Verurteilung nach jüdischem Recht war das Volk geneigter, dem Hohen Rat zu glauben, als wenn eine Verurteilung nur nach römischem Recht erfolgt wäre.

Pilatus gab in diesem Falle zu erkennen, dass er Rücksicht nimmt auf die Gewohnheiten der Juden. Er kam zu ihnen heraus, weil sie nicht hereingehen wollten, um sich nicht unrein zu machen, er kam zu ihnen heraus. Nach den Regeln des römischen Gerichtsverfahrens fragte er nach der Anklage. "Was für eine Anklage bringt ihr vor gegen diesen Menschen?" Er erwartete, dass sie ein bestimmtes Vergehen nennen. Aber die Juden sagten: "Wenn er kein Verbrecher wäre, hätten wir ihn dir nicht überliefert!" Man spürt die Gereiztheit. Beide Seiten sind gereizt. Er, weil er ein Judenfeind ist, und die Juden, weil sie ein Gegner der Besatzungsmacht sind. Pilatus drängt sich nicht, den Prozess gegen Jesus zu führen. Daher sagt er: „Nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz!" Der Prokurator denkt an ein nicht-todeswürdiges Verbrechen, und ein solches konnten die Juden aburteilen. Das konnten sie selbständig richten. Jetzt müssen aber die Ankläger Farbe bekennen. Sie wollen Jesus hinrichten. "Uns ist es nicht gestattet, ihn zu töten!" Aha, das ist ihre Absicht. Sie wollen, dass er liquidiert wird. Und deswegen muss Pilatus den Prozess führen, so ungern er es tut. Er beginnt mit dem Verhör des Gefangenen. "Bist du der König der Juden?" Er muss also etwas gehört haben davon. Bei der Einlieferung vermutlich haben die Juden ihm schon gesagt: "Wir bringen dir hier den Mann, der beansprucht, der König der Juden zu sein." Für das rein religiöse Verbrechen der Gotteslästerung konnten sie keinen Todesspruch des Pilatus erwarten. Und deswegen beschuldigen sie ihn, "König", also ein politischer Herrscher zu sein – und den Vorwurf konnte Pilatus nicht gleichgültig übergehen, denn das war Verfassungsumsturz, das war Hochverrat. Eine solche Anklage musste er anhören. Der Hohe Rat beging mit der Umbiegung der Anklage eine bewusste und grobe Täuschung. Der Hohe Rat musste wissen, dass "König der Juden" nach der Auffassung des Pilatus etwas ganz anderes bedeutet als nach der religiösen Auffassung der Juden. Für die Juden war "König der Juden" eine religiöse Angelegenheit. Im Munde Jesu schon gar, er wollte kein politischer Herrscher sein. Aber Pilatus musste aus dieser Anklage heraushören, dass Jesus politische Ziele erstrebte. Wie sollte Jesuds jetzt antworten? "Bist du der König der Juden?" Er konnte nicht mit einem glatten „Ja“ antworten, denn ihm lag ja nichts ferner als ein politischer Herrscher zu sein. Er konnte aber auch nicht mit einem bestimmten "Nein" antworten, denn in einem gewissen Sinne verstand er sich als König. Und so gab er eine abwägende Antwort, ein "Ja" mit Vorbehalt: "Du sagst es!" Wenn in der Formel "du sagst es" eine uneingeschränkte Bejahung läge, dann wäre der Prozess fertig gewesen. Dann hätte Pilatus sagen können: Wir wissen es jetzt, er hat ein politisches Königtum angestrebt, er ist zu verurteilen. Aber es lag eben keine uneingeschränkte Bejahung in diesem Worte: "Du sagst es!" Pilatus verlangte weiteres Material, und die Juden brachten es herbei. In drei Punkten ergänzten sie ihre Anklage. Erstens: „Er bringt das ganze Volk in Aufruhr, von Galiläa angefangen bis hierher.“ Eine glatte Lüge. Von Volksaufwiegelung konnte keine Rede sein. Die religiöse Bewegung, die Jesus entfacht hatte, war keine politische Empörung. Der zweite Vorwurf: „Er hält das Volk ab, Steuern zu zahlen.“ Steuerstreik! Vom Aufruf zur Steuerverweigerung war Jesus weit entfernt. Er hatte, als man ihm die Steuermünze zeigte, gesagt: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist", also auch die Steuer. Der dritte Vorwurf: „Er behauptet, er sei der Messias-König!“ Und damit tritt er in einen Gegensatz zum Kaiser. Sie unterstellen ihm in böswilliger Absicht, ein politischer Thronprätendent zu sein, ein politischer Messias. Jetzt hatten sie endlich das politische Verbrechen, das sie brauchten, um wirksam auf eine Todesstrafe dringen zu können. Pilatus fordert Jesus auf, dazu Stellung zu nehmen. Zu seiner Verwunderung verzichtet Jesus darauf, sich zu den Vorwürfen zu äußern. "Antwortest du nichts? Sieh doch, welche Dinge sie gegen dich vorbringen!" Aber Jesus schweigt. So ein Angeklagter war ihm vermutlich noch nicht vor die Augen gekommen. Es steht fest, dass Pilatus nach dem Verhör Jesu und nach der Anhörung der Anklage nicht an die Schuld Jesu glaubte. Es muss etwas an der Eigenart dieses Mannes gewesen sein, das ihn bestimmte, weiter zu fragen.

Es fand, und das berichtet uns Johannes, es fand dann ein Zwiegespräch im Inneren des Prätoriums statt. Ein Zwiegespräch zwischen Pilatus und Jesus. Die erste Frage, die Pilatus stellte, war, ob er der König der Juden sei. Jesus antwortete: "Sagst du das aus dir selbst – oder haben es dir andere gesagt?" Pilatus wurde unwirsch: „Ja, bin ich denn ein Jude? Natürlich haben es andere mir gesagt!" Die Behauptung stammt von den Juden. Nun hat Jesus Gelegenheit, sein Königtum zu beschreiben. Er gibt eine dreifache Antwort. Er äußert sich über sein Reich, über sein Königtum und über seine Aufgabe als Messias. An erster Stelle sagt Jesus: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, dann würden meine Diener kämpfen. Nun aber ist mein Reich nicht von hier." Er bekennt sich zu seinem Reich. Er hat ein Reich, aber es ist ein Reich, das von aller politischen Prägung weit entfernt ist. Es ist ein himmlisches, es ist ein überirdisches Reich, es ist ein Reich, das mit Waffen und mit Heeresmacht nichts zu tun hat. "Sonst würden meine Diener kämpfen. Wenn ich ein politischer Messias wäre, dann würden sie ihren Oberbefehlshaber nicht im Stich lassen. So aber ist mein Reich nicht von hier.“ Gegen Ende des 1. Jahrhunderts ließ der römische Kaiser Domitian alle Verwandten Jesu verhaften und verhören. Und er befragte sie nach Jesus und nach Jesu Reich. Die Angehörigen, die Verwandten Jesu sagten, es war niemals nach seiner Absicht ein politisches Reich. Es war ein himmlisches, ein überirdisches Reich. Daraufhin hat der Kaiser Domitian sie freigelassen. Zu einem Reiche gehört ein Herrscher. Pilatus sprach zu ihm: "Du bist also doch ein König?" Jesus antworte: "Ja, ich bin ein König!" An seinem Königtum hält er fest. Daran läßt er nicht rütteln. Weniges im Prozess Jesu ist so klar wie die Bezeugung seiner Königswürde. Deswegen haben ihn ja die Soldaten verspottet als König. Deswegen hat Pilatus die Inschrift angebracht: "König der Juden." Jesus nennt sich König, aber ohne Einschränkung. Er sagt nicht König der Juden. Er ist König des Weltalls. Er ist König aller Reiche. Er ist universaler König, nicht politischer, nicht partikularer. Er weist also den Anspruch auf ein Königtum in Palästina ab, um dafür das viel ausgedehntere Königtum über die ganze Welt zu beanspruchen. Und dann erklärt er die Art seines Königtums. "Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich der Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme." Das also ist der Inhalt, das ist der Zweck, das ist die Bedeutung seines Königtums: der Wahrheit Zeugnis zu geben. Durch sein ganzes Leben, durch seine Lehre, durch seine Wunder richtet er dieses Königtum auf, gibt er Zeugnis von diesem Königtum, bezeugt er die Wahrheit seiner Königswürde. Das Königtum Jesu wird dadurch praktisch, sein Herrschaftsanspruch wird dadurch vollzogen, dass er die göttliche Offenbarung verkündet und Gottes Sache zum Siege führt. Alle, die aus der Wahrheit, d. h. die aus Gott sind, die sich durch Gottes Offenbarung bestimmen lassen, alle diese hören auf ihn, sind die Glieder seines Reiches.

Jetzt wissen wir, meine lieben Freunde, wer zu Jesus dem König gehört. Jetzt wissen wir, worauf es ankommt, um zu ihm zu gehören. Man muss auf seine Stimme hören. Für ein solches Königtum hat der Statthalter kein Verständnis. Deswegen die skeptische Frage: "Was ist Wahrheit?" Mit der Wahrheit weiß er nichts anzufangen. Er versteht etwas vom Nutzen, vom Gelde, von der Macht. Davon versteht er etwas. Aber von der Wahrheit hält er nichts. Doch Pilatus hat die Überzeugung gewonnen, der Mann ist ungefährlich. Das ist kein politischer Verbrecher. Er hält ihn für einen harmlosen, im Grunde bedauernswerten Schwärmer, und deswegen erklärt er den Juden: "Ich für meine Person finde keine Schuld an ihm!"

Pilatus fragt, was ist Wahrheit? Wir antworten darauf: Wahrheit wird in einem doppelten Sinne gebraucht. Wenn wir nach der logischen Wahrheit fragen, dann ist Wahrheit die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit der Sache. Wenn wir nach der religiösen Wahrheit fragen, dann ist Wahrheit die offenbare Wirklichkeit Gottes. Wo sich Gott offenbart, wo Gott wirklich zugegen ist, da ist Wahrheit. Und diese Wahrheit ist in Jesus. Er sagt ja von sich: "Ich bin der Weg, die Wahrheit“ –die Wahrheit- „und das Leben." Der geschichtlich erschienene Christus ist es, der das Evangelium Gottes verkündet und sein Heilswerk vollbringt. Und die Kirche weiß sich von diesem Wahrheitsbringer auf den Weg der Wahrheit gesetzt und auf diesem Wege gehalten. Der Geist der Wahrheit führt sie in alle Wahrheit ein. Wenn wir in dieser Kirche bleiben, meine lieben Freunde, dann allein deswegen, weil sie die Wahrheit weiterträgt. Auf der Stelle würde ich austreten aus dieser Kirche, wenn ich nicht überzeugt wäre, das ist die Kirche der Wahrheit. "Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme." Die Wahrheit ist eine befreiende Macht. Der Herr sagt es ja selber. "Die Wahrheit wird euch frei machen." Wovon? Erstens befreit die Wahrheit vom Irrtum, von irrigen Vorstellungen über Gott, von Bedürfnis- und Furchtgöttern, wie Feuerbach sie angenommen hat. Von Fruchtbarkeits- und Vegetationsgottheiten, wie die Griechen und die orientalischen Völker sie bekannten. Von der Verwechslung des Weltalls mit dem Weltherrscher, wie Hegel und Fichte behauptet haben. Der wahre Gott ist auch anders als die von Menschen erzeugte Vorstellung eines allgemeinen Gesetzes, wie der deutsche Idealismus behauptet hat. Nein, die Wahrheit befreit von falschen Vorstellungen über Gott. Zweitens: Sie befreit von dem Wahn der Selbsterlösung. Auf vielfältige Weise versuchen die Menschen diese Selbsterlösung: durch Abkehr von der Sinnenwelt und Unterdrückung des Lebenswillens – Schopnhauer. Durch Pflichterfüllung und Selbstbeherrschung – die Stoa. Durch Bejahung des kraftvollen Menschentums – Friedrich Nietzsche. Durch Beseitigung der irdischen Nöte mittels wirtschaftlicher Maßnahmen – Karl Marx. Alles das vermag den Menschen nicht von seiner Schuld und von seiner Todesverfallenheit zu erlösen. Die Wahrheit ist es, die die Erlösung bringt, und nur die Wahrheit. Das Dritte: Die Wahrheit befreit von falschen Rezepten für das sittliche Handeln. Von der Ansicht, Tugend und Wissen seien identisch – Sokrates. Von der Meinung, erlaubt sei das, was Lust und Gewinn verspricht – der Eudämonismus. Von der Auffassung, sittlich sei das, was man sich als ein Gesetz für alle vorstellen kann – Immanuel Kant. Sittlich ist, was Gott befiehlt. Nur Gebote, die Gott zum Urheber haben, sind verbindlich und heilsam. Die Wahrheit befreit.

Aber die Äußerung des Pilatus wird von vielen Menschen nachgesprochen. Sie wissen nichts von der Wahrheit, und sie wollen nichts davon wissen. Die Wahrheit ist den meisten Menschen das Gleichgültigste. Was sie interessiert, ist Leben. Das Leben genießen, überleben. Die Masse fragt nicht nach der Wahrheit, sondern wie man am besten durchkommt. Für das Ringen um die Wahrheit und für die Treue zur Wahrheit haben die meisten Menschen kein Verständnis. Sie mögen für die Wahrheit nichts aufwenden und schon gar nichts preisgeben. Aber Christus hat vor Pilatus gesagt: "Dazu bin ich geboren und dazu bin ich in die Welt gekommen, dass ich der Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme." Seitdem es Christus als seine Lebensaufgabe erklärt hat, der Wahrheit Zeugnis zu geben, müssen die Menschen die Wahrheit über alles setzen. Seitdem der LOGOS auf Erden erschienen ist, um der Wahrheit Zeugnis zu geben, kann es nie mehr gleichgültig sein, was einer glaubt und was einer für wahr hält. Wer nicht an die Wahrheit glaubt, der hält sich an den Aberglauben, an die Unwahrheit, an den Irrtum. Eine evangelische Kirchengemeinde in Dänemark in Mejdal hat eine Annonce in die Zeitung gesetzt: Sie sucht einen Pfarrer, der an Gott glaubt, denn der vorige hat nicht an Gott geglaubt.

Für die Verkündigung und Bewahrung der Wahrheit ist die Kirche gegründet worden. Sie ist Gottes Organ, um seine Wahrheit zu erhalten und zu verbreiten. Dieser Aufgabe ist die Kirche seit zweitausend Jahren nachgekommen. Diese Aufgabe hat sie erfüllt in guten und schlimmen Zeiten. Für die Wahrheit hat sie gezeugt vor römischen Herrschern und vor Gewalthabern der Neuzeit. Für die Wahrheit hat Benedikt XVI. acht Jahre lang das Kreuz getragen. Für die Wahrheit hat die Kirche Spott und Verfolgung auf sich genommen, und bis zur Stunde wird sie gehasst und bekämpft, weil sie die Wahrheit Gottes vorträgt. Es gibt eigentlich nur einen Grund, um zur Kirche zu kommen und in der Kirche zu bleiben: weil sie der Hort der Wahrheit ist. Wir dürfen stolz sein, meine lieben Freunde, der wahren Kirche anzugehören. Wir dürfen dankbar sein, dass wir in dieser Kirche leben dürfen. Wir sind gewiss: Weil wir aus der Wahrheit sind, hören wir auf die Stimme dessen, der die Wahrheit kündet, unsern Herrn und Heiland Jesus Christus.

Amen.

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