4. Februar 2007
Der kirchliche Ablaß
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Ich habe hier vor mir ein kleines Büchlein, das heißt „Enchiridion indulgentiarum“, das heißt zu deutsch „Verzeichnis der Ablässe“. In diesem lateinisch geschriebenen Buch sind alle Bedingungen für die Gewinnung von Ablässen aufgeführt und auch die einzelnen Ablässe angegeben. Wir wollen deswegen heute, passend nach den früheren Predigten über die Sünde und über die Strafe für die Sünde, vom Ablaß sprechen.
Dass die Sünde Strafe verdient, ist jedem von uns gewiß. Wenn Sie heute das Kirchengebet, die Oration dieser heiligen Messe aufmerksam mitgebetet haben, dann finden Sie darin den Satz, dass wir für unsere Sünden gezüchtigt werden (affligimur). Die Sünde verdient Strafe, zeitliche Strafe, d.h. eine Strafe, die eine gewisse Dauer hat, aber dann zu Ende geht, oder ewige Strafe, das ist die Verdammnis. Von dieser Strafe wollen, sollen und müssen wir befreit werden. Wenn uns die Sünden vergeben werden, wird immer auch die ewige Strafe mitvergeben. Es gibt keine Vergebung der Sünden, keine wahre Vergebung der Sünden, die nicht auch die ewige Strafe beseitigen würde. Aber nicht alle zeitlichen Strafen werden vergeben, und wir müssen deswegen besorgt sein, auch von den zeitlichen Strafen frei zu werden. Das geschieht durch die willige Übernahme der Plagen und Leiden dieses Lebens, aber auch durch den Ablaß.
Wir sind eine Gemeinschaft der Heiligen. Das heißt, wir können füreinander eintreten, füreinander beten, füreinander flehen, aber auch füreinander sühnen. Und so hat der Ablaß begonnen. Wenn in der Zeit der Christenverfolgung ein Mann oder eine Frau zur Hinrichtung geführt wurde um Christi willen, da hat sich einer, der eine Kirchenbuße auf sich hatte, an ihn oder an sie herangemacht und hat ihn oder sie gebeten: Tritt doch für mich ein beim Bischof, dass er mir die Buße, die Kirchenbuße, die harte Kirchenbuße (wie sie damals üblich war) verkürzt. Der Martyrer bat daraufhin den Bischof: „Um meines Leidens, um meines Sterbens willen laß diesem Büßer einen Teil oder auch die ganze Strafe nach.“ Das hat der Bischof getan. Das ist der Beginn des Ablasses. Die Kirche verwaltet das Sühnewerk Christi, den Schatz des Sühnewerkes Christi und die dazu gekommenen Sühnewerke der Heiligen, die viel mehr Buße geleistet haben, als für ihre Sünden nötig gewesen wäre. Und so hat sich ein Schatz von Bußwerken, von Sühne, angesammelt, aus dem die Kirche austeilt: sie verleiht Ablässe.
Die Ablaßgewährung hat im Laufe der Zeit verschiedene Gesichter angenommen. Man hat Ablässe mit Zeitbefristung versehen: Ablaß von 100 Tagen, Ablaß von 50 Tagen, sehr beliebt Ablaß von 40 Tagen. Was besagt diese Zeitangabe? Sie besagt, dass demjenigen, der einen Ablaß gewinnt, soviel zeitliche Strafe nachgelassen wird, wie er in 40 oder 100 oder 50 Tagen Kirchenbuße abgebüßt hätte. Diese Zeitangabe bezieht sich also nicht – nicht! – auf die Zeit, die im Fegfeuer zuzubringen ist. Sie bezieht sich auf die Kirchenbuße, die von der Kirche früher mit großer Härte auferlegt wurde. Die Büßer, die einen Ablaß gewinnen wollten, mussten natürlich auch ein Werk verrichten. Sie mussten fasten, sie mussten Almosen spenden, sie mussten Wallfahrten unternehmen. Die Kreuzfahrer haben auf ihren Kreuzzügen den Kreuzablaß gewonnen. Für die Teilnahme am Kreuzzug gegen die Feinde des Glaubens hat die Kirche ihnen den Nachlaß aller zeitlichen Sündenstrafen versprochen und auch selbstverständlich bewirkt. Als 1683 die Türken vor Wien standen, da bewilligte Papst Innozenz XI. einen vollkommenen Ablaß für alle, die an der Abwehr der Türkengefahr teilnehmen würden, natürlich mit den vorgeschriebenen Werken, also Beicht, Kommunion und Teilnahme am Kampfe gegen die Feinde des Glaubens.
Nun ist im 16. Jahrhundert ein Mann aufgestanden, der die Ablässe zum Anlaß – nicht zur Ursache – zum Anlaß seines Aufstandes gegen die Kirche machte. Sie kennen diesen Herrn; er heißt Martin Luther. Er hat also gegen die Ablässe Stellung genommen, und zwar nicht bloß gegen Missbräuche, die zweifellos vorgekommen sind, sondern gegen den Ablaß als solchen. Solche Missbräuche hat es gegeben, das sei nicht verschwiegen. Wenn jemand den Satz prägt: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt“, dann treibt er Missbrauch mit dem Ablaß. Wir können Ablässe auch für Verstorbene, im Fegfeuer Befindliche, gewinnen. Aber wir haben keine Gewissheit, dass unser Ablaß die betreffende Seele auch wirklich (und sogleich) aus dem Fegefeuer befreit. Insofern war dieser Satz falsch.
Der Ablaß wurde auch verwendet, um Geld zu sammeln: Geldablässe. Mit dem Geld hat man Gutes getan. Man hat Krankenhäuser gebaut, man hat Kirchen damit errichtet, man hat Brücken damit gebaut. In Torgau in Sachsen beispielsweise ist die Brücke über die Elbe mit Ablaßgeldern gebaut worden. Solche Geldablässe haben natürlich auch leicht zum Missbrauch führen können, und deswegen hat die Kirche sie später verboten. Nicht weil der Geldablaß in sich schlecht ist, sondern weil er leicht Gelegenheit zu missbräuchlichen Verwendung bietet.
Wir unterscheiden bei den Ablässen vollkommene und unvollkommene. Ein vollkommener Ablaß besagt, dass alle zeitlichen Sündenstrafen nachgelassen werden. Der Nachlaß ist eben vollkommen. Hier, in diesem Ablaßbuch, das ich vor mir habe, sind solche vollkommeine Ablässe aufgeführt. Sie setzen immer voraus Beicht, Kommunion und die Verrichtung eines bestimmten Werkes. Dieses Werk kann folgendes sein: Anbetung des heiligsten Sakramentes wenigstens für eine halbe Stunde, fromme Lesung der Heiligen Schrift wenigstens für eine halbe Stunde, Gehen des Kreuzweges, Rezitation des Rosenkranzes in der Kirche oder in der Kapelle oder in der Familie oder in einer frommen Vereinigung. Das sind vollkommene Ablässe. Wer entsprechend zugerüstet ist, von aller Sünde befreit ist, alle Anhänglichkeit an die Sünde in sich ertötet hat, Beicht und Kommunion vollzogen hat und das entsprechende Werk verrichtet, kann einen vollkommenen Ablaß gewinnen. Wegen unserer Schwäche, wegen unserer Fehler, wegen der Sündenreste, die leider häufig uns anhaften, ist es nicht leicht, einen vollkommenen Ablaß zu gewinnen; aber versuchen sollten wir es jeweils. Und wer einen vollkommenen Ablaß nicht gewinnt, der gewinnt einen unvollkommenen, und auch der ist nicht zu verachten, einen Teilablaß. Und auch da will ich Ihnen einige Beispiele geben für Teilablässe. Das Rosenkranzgebet, das wir täglich allein verrichten, bringt immer einen Teilablaß mit sich. Viele andere Gebete und Gebetsanrufungen wie „Heiligstes Herz Jesu, erbarme dich unser!“ zum Beispiel, sind mit einem Teilablaß versehen. Der Hymnus: „Komm, o Geist der Heiligkeit“, dieser Hymnus zum Heiligen Geist, ist mit einem Teilablaß ausgestattet. Und so sind viele andere Gebete und auch Handlungen mit Teilablässen versehen. Zum Beispiel wenn man bei der Erfüllung seiner Pflichten und in den täglichen Sorgen des Lebens geduldig ist, den Geist demütig zu Gott emporrichtet und irgendeine Anrufung Gottes dabei spricht, wird ein Teilablaß gewonnen. Oder wenn man im Dienste der Notleidenden, im Dienste von Kranken, im Geiste der Barmherzigkeit sich diesen Kranken, diesen Notleidenden zuwendet, gewinnt man einen Teilablaß. Oder wenn man auf eine erlaubte und angenehme Sache um Gottes willen im Geiste der Buße verzichtet, gewinnt man einen Teilablaß. Wir sollten diese Chancen, die uns Gott durch seine Kirche einräumt, nicht geringschätzen. Wir sollten die Ablässe, die so wertvoll sind, gebrauchen.
Die Ablässe werden heute nicht mehr mit Zeitangaben ausgestattet. Es heißt also nicht mehr 30 Tage, 40 Tage, sondern nur, dass man eben einen Ablaß gewinnt. Und zwar durch einen Teilablaß wird ein ebenso großer Nachlaß an zeitlicher Strafe zugeteilt, wie der Betreffende durch das Werk, das er verrichtet, selbst gewinnt. Ich wiederhole noch einmal: Durch den Teilablaß wird dem Christen ein ebenso großer Nachlaß an zeitlicher Strafe zugeteilt, wie er selbst schon durch sein Tun, eben die Verrichtung des vorgeschriebenen Werkes, erhält.
Wir können die Ablässe auch den Verstorbenen zuwenden. Sie können ja selber keine Ablässe mehr gewinnen. Die Zeit des Wirkens ist vorüber; sie können nur noch leiden. Aber wir dürfen noch wirken. Und so können wir ihnen Ablässe zuwenden, können sie gewinnen und in brüderlicher Liebe den Verstorbenen schenken, Gott bitten, dass er diesen Ablaß den Verstorbenen zuwendet. Die Ablässe helfen den Armen Seelen, und wir sollten nicht darauf verzichten, ihnen damit zu Hilfe zu kommen.
Der Ablaß ist nicht geringzuschätzen, meine lieben Freunde. Wer Ablässe gewinnt, der sagt ja zu einer ganzen Reihe von Glaubenssätzen unserer Kirche. Er bekennt sich nämlich zum Glauben an das Sühnewerk Christi und an die Gemeinschaft der Heiligen; er bekennt sich zu der Strafvergebungsgewalt der Kirche; er bekennt sich zum Fegfeuer, und er wird angehalten zu Beicht und Kommunion, die ja beim vollkommenen Ablaß vorgeschrieben sind, und zu einem Leben im Gnadenstand. Er wächst dadurch in der Liebe zu Gott, und er wirkt für den Nächsten.
Sie haben es vielleicht nicht mehr erlebt, aber wir Älteren haben noch erlebt, wie die Ablaßtage in vielen Gemeinden Segenstage waren. An den Ablaßtagen kamen die Gläubigen zur Beicht und empfingen die heilige Kommunion, sie verrichteten das vorgeschriebene Werk und gewannen auf dieser Weise Ablässe. Aus der christlichen Vergangenheit wird uns berichtet, wie die Ablaßtage wirkliche Volksmissionstage waren. Im Jahr 1476 wurden in Bern – also in der Schweiz – Ablässe gewonnen. 80 Beichtväter waren tätig. 80 Beichtväter, die Beicht hörten und danach die heilige Kommunion austeilten, um den Gläubigen die Gnade des Ablasses zu vermitteln. Das ganze religiöse Leben nahm dadurch einen Aufschwung. Wir haben vielleicht noch an den Portiunkulatagen, also am 2. August, erlebt, wie Ablässe gewonnen werden konnten, auch gewonnen worden sind durch die Gläubigen. Ein neues religiöses Leben ist durch die Ablaßgewinnung aufgeblüht.
Die Ablässe haben auch eine große kulturelle Bedeutung. Viele Kirchen, Kapellen, Wegkreuze, Krankenhäuser sind durch Ablaßgelder erbaut worden. Gefangene wurden losgekauft mit den Ablaßgeldern. Das war der große Segen, der vom Ablaß ausgegangen ist. Wer Ablässe gewinnt, der tut sich ein gutes Werk und auch für die christliche Gemeinschaft. Schätzen Sie, meine lieben Freunde, den Ablaß hoch! Machen Sie die Absicht – das muss man nämlich dazusagen – machen Sie die Absicht: Ich möchte alle Ablässe gewinnen, die die Kirche verliehen hat und die ich durch mein Handeln oder mein Unterlassen gewinnen kann. Ich möchte alle diese Ablässe gewinnen zu meinem Heile und zum Heile der Menschen, zum Heile auch der Verstorbenen, die auf mein Ablaßgebet warten.
Amen.