Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. November 2003

Schwächen und Grenzen des menschlichen Bewußtseins

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Verkehr hat zugenommen, die Wagen drängen sich auf den Straßen, und so bedarf es der Ausweichstellen, damit im erforderlichen Falle die Wagen sich nicht gegenseitig ins Gedränge kommen und beschädigen. Ausweichstellen braucht es.

Ähnlich ist es in der Seele. Auch da drängen sich die Gedanken, die Eindrücke, die Gefühle, die Bestrebungen, und es gibt Menschen, die suchen sich künstlich Raum zu schaffen, indem sie sagen: Ich kann mich nur meiner Arbeit widmen, oder ich kann mich nur meiner Familie widmen, oder ich kann mich nur meiner Gesundheit widmen, für anderes habe ich keine Zeit. Durch solche Einschränkung entsteht eine bedenkliche und ungesunde Gefährdung des Bewußtseins. Der Mensch, der sich auf diese Weise von weiten Bereichen der Wirklichkeit trennt, lebt gefährlich. Notwendig ist nicht die Einengung des Bewußtseins, notwendig ist seine Verbreiterung. Es muß Ausweichstellen geben, Ausweichstellen für Gegenstände, die wir nicht bezwingen können oder die wir nicht erzwingen können. Und solche Wirklichkeiten gibt es. Es gibt Dinge, die wir nicht bezwingen können, und es gibt Dinge, die wir nicht erzwingen können.

Die erste Gruppe sind Wirklichkeiten, Ereignisse, Dinge, die wir nicht bezwingen können, weil sie einfach sich nicht beiseite schaffen lassen. Sie sind hartnäckig. Wie sagt Lenin: „Tatsachen sind hartnäckige Dinge.“ Und solche Dinge gibt es, die also nicht beiseite geschafft und auch schwer oder gar nicht ertragen werden können. Wir würden an ihnen zerbrechen, oder wir würden an ihnen verbluten, wenn wir sie so, wie sie sind, in die Seele aufnehmen müßten. Es muß für diese Dinge Ausweichstellen geben. Der Mensch hat nämlich eine doppelte Versuchung gegenüber den Dingen, die er nicht bezwingen kann. Die erste Versuchung ist, sie zu verdrängen. Er tut so, als ob sie nicht da wären; er versucht sie aus seinem Bewußtsein hinauszudrängen. Es gibt viele Menschen, die das Unangenehme, die das Unbequeme einfach nicht wahrhaben wollen und es zu verdrängen suchen. Krampfhaft wehren sie sich gegen bestimmte Ereignisse, Vorstellungen, Wirklichkeiten, Bewußtseinsinhalte und suchen sie zu verdrängen oder suchen sie zu unterdrücken. Das gilt zum Beispiel für gewisse Phantasievorstellungen, die sich immer wieder eindrängen. Die Menschen denken, es sind Versuchungen, in Wirklichkeit aber sind es in der Regel Zwangsvorstellungen, Zwangsvorstellungen, die sich eindrängen, die peinlich oder sündhaft erscheinen und die man durch Unterdrückung zum Verschwinden bringen möchte. Die Verdrängung ist immer künstlich, eine künstliche Verengung des Bewußtseins, und ihre Folge ist eine Selbstverstümmelung des Menschen, eine innere Verbiegung, eine unnatürliche und krampfhafte Haltung der Seele, eine unaufhörlich quälende Angst, nämlich daß diese Vorstellungen doch wieder kommen könnten, auch eine Minderwertigkeitsempfindung. Und tatsächlich, durch Verdrängung läßt sich nichts erledigen,  meine lieben Freunde. Das Verdrängte kommt immer wieder hoch. Es kehrt sogar mit verstärkter Hartnäckigkeit in das Bewußtsein zurück, in seiner ursprünglichen Gestalt oder in einer Verkleidung.

Eine zweite Weise, mit unbequemen Dingen fertig zu werden, ist die Flucht- die Flucht. Man will der unbequemen Tatsache entgehen, indem man die äußeren Lebensumstände wechselt. Das ist allbekannt bei Verbrechern. Verbrecher suchen ein anderes Land auf, in dem sie untertauchen möchten, um der Strafverfolgung zu entgehen. Aber wenn der flüchtige Tatbestand in der Seele selbst begründet ist, dann nimmt ihn ja der Flüchtige mit. Der Fliehende trägt den Feind in sich selbst und trägt ihn mit sich mit. Und doch wird solche Flucht immer wieder versucht, zum Beispiel bei jemandem, der mit seinem Beruf nicht zurechtkommt. Er wechselt den Beruf, er geht von einem Beruf zum anderen über, er bringt für jeden Beruf nur geringe Begabung mit, und so sattelt er um und sucht eine endgültige Lösung zu finden und findet sie nicht. Ähnlich ist es mit Menschen, die mit ihrer Umgebung nicht zurechtkommen. Sie suchen fortwährend ihre Umgebung zu wechseln. Hastig und gereizt wechseln sie die Dienstboten oder die Vorgesetzten oder die nächsten Familienangehörigen, den Gatten oder die Gattin und meinen, auf diese Weise könnten sie Ruhe finden. Weit gefehlt! Die Flucht ist vor allem dann aussichtslos und gefährlich, wenn sie einem Bewußtseinsvorgang, einem Gefühlsvorgang, einer Idee gilt. Man kann Menschen beobachten, die ihrer Traurigkeit dadurch zu entgehen versuchen, daß sie in gemachter Lustigkeit sich ergehen. Es gibt Menschen, die furchtsam sind und die die Angst übertönen wollen durch vorlautes und überlautes Wesen. Es gibt Menschen, die schüchtern sind und ihr Verzagen und Versagen durch aufdringliches, ja schroffes Gebaren zu übertünchen versuchen. Alle diese glauben, durch irgendeinen äußeren Wechsel die innere Bedrohung aufheben zu können, aber das gelingt nicht. Die Wirklichkeit läßt sich nicht durch Verleugnung, durch Verkennung oder Unterdrückung beseitigen. Die Wirklichkeit bleibt bestehen.

Ja, wie kann man aber eine solche schwer zu ertragende, unerträgliche Wirklichkeit ertragen? Wie kann man sie überwinden? Nun,  meine lieben Freunde, indem man Ausweichstellen sucht, d.h. indem man eine neue Wirklichkeit ins Bewußtsein aufnimmt, ohne daß die bestehende Wirklichkeit dadurch beseitigt wird. Aber die neue Wirklichkeit überformt die lästige, die drohende Wirklichkeit. Das Bedrohliche wird eingefügt in einen größeren Zusammenhang und erfährt dadurch eine deutliche Berichtigung. Es wird seiner gefährlichen Größe entkleidet und auf seine wirkliche Bedeutung zurückgeführt.

Einige Beispiele für das, was mit diesen Ausführungen gemeint ist. Körperliche Schmerzen, Qualen, Entbehrungen, Mühsale, die für sich allein unerträglich wären und den Menschen aufreiben würden, werden erträglich, ja manchmal sogar leicht erträglich, wenn sie eingebettet werden in den Raum einer großen Liebe. Eine wirklich liebende Frau vermag schier Unmenschliches zu ertragen um des Geliebten willen. Ähnlich ist es im religiösen Bereich. Ein Martyrer oder Bekenner vermag kraft seiner hochgespannten Christusliebe selbst unmenschliche Qualen zu ertragen, auf sich zu nehmen und hinzunehmen. Die Schmerzen des leiblichen Lebens werden gegenüber den inneren Tröstungen als gering empfunden. Und noch ein drittes Beispiel: Demütigungen, Zurücksetzungen, Ungerechtigkeiten treffen jeden Menschen, manchmal von erschreckendem Ausmaß. Wir erleben es ja jetzt in der Politik, wie solche Ungerechtigkeiten begangen werden. Wie kann man damit fertig werden? Die einzige Möglichkeit, sie zu ertragen, besteht darin, daß man Gott dafür dankt, daß man sie hinnimmt aus Gottes Hand, daß man sagt mit dem Psalm 118: „Es ist gut für mich, daß du mich gedemütigt hast. Es ist gut für mich, daß du mich geschlagen hast. Es ist gut für mich, daß du mich diese Zurücksetzung hast erleben lassen.“ Das gilt auch,  meine lieben Freunde, für unseren Kampf gegen die Zersetzung und Zerstörung in der Kirche. Wir werden ob unseres Kampfes gedemütigt, verlacht, verspottet. Wir haben wenig Aussicht, uns durchzusetzen. Als diese Zerstörung in der Kirche begann und ich mich dagegen zu wehren vornahm, da sagte meine alte Mutter zu mir: „Du kannst es allein auch nicht aufhalten.“ Gewiß, durchaus richtig. Du kannst es allein auch nicht aufhalten. Aber wir wollen unseren Beitrag leisten, um es aufzuhalten. Wir wollen das tun, was uns möglich ist, um nicht vor Gott, vor der Geschichte und vor den Menschen, die uns kennen, als Verräter und Feiglinge dazustehen. Wir können es nicht aufhalten. Gott weiß es – so ist es. Aber wir wollen deswegen nicht verzagen und versagen. Wir wollen Ausweichstellen schaffen, indem wir unsere Kräfte einsetzen, solange wir können, solange ein Atem in uns ist, und wollen nicht nachgeben und wollen nicht weichen und wollen nicht wanken. Es soll einmal heißen: Es gab noch gläubige katholische Christen, die ihr Knie vor Baal nicht gebeugt haben.

Der flüchtige und der verdrängende Mensch verleugnet die gefährliche Wirklichkeit. Der umfassende Mensch, der sich Ausweichstellen geschaffen hat, der nimmt die Wirklichkeit wahr, nimmt sie auf, verbirgt sich nicht vor ihr und macht sich keine rosarote Illusionen, sondern sucht sie nach seinem Vermögen und nach seiner Kraft umzugestalten. Das ist der Fall mit den Wirklichkeiten, die wir nicht bezwingen können, weil sie eben mächtiger sind als wir.

Es gibt aber auch Wirklichkeiten, die wir nicht erzwingen können, die wir also nicht herbeischaffen können, die wir nicht verwirklichen können, Wirklichkeiten, die wir hervorbringen sollen und uns aneignen sollen, die aber, wie wir gleich sehen werden, nicht in unserer Macht stehen. Zu diesen unerzwinglichen Dingen gehört alles, was persönlichster Art ist, was zu unserem Seelenleben gehört, was von allerpersönlichstem Wert ist, also zum Beispiel das Vertrauen. Vertrauen kann man nicht erzwingen, Vertrauen kann man nicht fordern. Wir können uns auch über den Mangel an Vertrauen nicht beklagen. Vertrauen muß wachsen, Vertrauen muß geschenkt werden. Wir können es nicht unmittelbar suchen und zu gewinnen versuchen. Gerade wenn man es absichtlich darauf anlegt, Vertrauen zu gewinnen, zieht sich der Mensch zurück, denn er ist verstimmt. Ähnlich ist es mit der Liebe. Natürlich kann Gott die Liebe gebieten als Tat, aber das, was die Liebe eben wesentlich ausmacht, also das Überfließen der Seele, das Gefühl, diese lebendig gespürte Verbundenheit, diese Neigung, diese Liebe kann nicht geboten, kann nicht gefordert und kann auch nicht erzwungen werden, am wenigsten durch direktes Werben oder gar durch Überredungsversuche. Der Mensch, der das versuchen würde, der wird schnell unleidlich, so daß das Gegenteil eintritt und er nicht einmal mehr von der allgemeinen Nächstenliebe umfaßt wird. Ähnlich ist es auch mit der Inspiration, mit der Eingebung. Die künstlerische oder die wissenschaftliche Inspiration, die Eingebung, kann nicht erzwungen werden. Der Mensch muß still und demütig auf sie warten. Er weiß, daß sie ungreifbar zurückweicht, wenn er sie mit harter Hand erfassen will. Diese Eigenart des Unerzwingbaren haben alle höheren Bewußtseinszustände, alle besonderen Ergriffenheiten, Erhobenheiten, Lebendigkeiten unserer Seele. Sie alle können nicht von uns erzwungen werden. Das gilt auch von den religiösen Erlebnissen und Zuständen. Auch sie,  meine lieben Freunde, lassen sich nicht erzwingen. Die religiöse Aufgeschlossenheit und Ergriffenheit der Seele, das Bewußtsein der Gottesnähe und der Gottverbundenheit, all das kann nicht unmittelbar beschafft oder erzwungen werden. Der Mensch kann danach verlangen, er kann darum beten, er kann sich dafür zurüsten, gewiß. Aber er kann es nicht durch irgendeine Mechanik ergreifen und erlangen, denn dann zieht es sich zurück.

Aber was nicht erzwungen werden kann, das kann doch geschenkt werden. Es kann geschenkt werden, aber nur dem Menschen, der nicht plump und dröhnend seine Hand danach ausstreckt, sondern der darauf wartet, der in Demut – in Demut – darauf wartet, der sich die Offenheit, die Empfänglichkeit, die Bereitschaft für die Stunde der Inspiration bewahrt, wenn sie je kommen sollte.

Das Gesetz von der Notwendigkeit seelischer Ausweichstellen gilt auch für die religiösen Zustände, Erfahrungen und Leistungen. Der religiöse Mensch darf nicht unaufhörlich und ohne jede Unterbrechung danach streben, sein Bewußtsein mit dem Gottesgedanken zu erfüllen. Das versuchen ja unerleuchtete Geister und kleine Seelen. Sie zählen die Stunden und Augenblicke, die sie auf Gott verwenden. Durch solche Anhäufung allein kommt man dem Ziel einer ununterbrochenen Vereinigung mit Gott nicht näher. Im Gegenteil, man entfernt sich davon. Denn gerade die Absichtlichkeit, die Zudringlichkeit, die pedantische Forderung schließt die Seelen zu, nimmt ihnen die Aufgeschlossenheit für den Augenblick der Gnade. Auch der Heilige, wenn er wirklich ein Heiliger ist, d.h. ein gottbegnadeter, gotterfüllter und gottergebener Mensch, bedarf solcher Ausweichstellen vor Gott. Auch er kann nicht immer und unmittelbar und ohne Unterlaß auf Gott zugehen; er muß auch an Gott vorbeigehen können, er muß auch um Gott herumgehen können, und das ist eben die Betätigung an den Menschen und mit den Menschen. Die täglichen Bedürfnisse des eigenen Lebens und die täglichen Bedürfnisse der anderen Menschen sind notwendig, damit er den nötigen Raum in der Seele schafft, um Gott zu finden, damit er den nötigen Abstand gewinnt, auch von den göttlichen Dingen; denn ohne diesen Abstand würden alle seine Bewegungen kümmerlich und kurz bleiben. Es ist also die ehrfurchtsvolle Ferne, die uns zu den unerzwinglichen Dingen führt, die demütige Scheu, das geduldige Harren, das schweigende Vorübergehen. Und es ist die große Weite, das offene Aufnehmen und Hineinnehmen, das uns fähig macht, die unbezwinglichen, die unerträglichen Dinge aufzunehmen. Beide Arten von Ausweichstellen sind begründet in einer tiefen Demut vor der Wirklichkeit, Demut vor der Wirklichkeit, wie sie auch beschaffen sein mag. Nur der Mensch, der sich vor der Wirklichkeit neigt, vermag mit unbezwinglichen und unerzwinglichen Dingen fertig zu werden. Wer das nicht vermag, der zerbricht oder verarmt, der kann nicht empfangen, und der kann auch nicht tragen.

Amen.

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