Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. Mai 2003

Die Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Daß zwischen dem einzelnen Menschen und seiner Umgebung Spannung besteht, das ist jedem von uns bewußt. Es wird wohl nicht viele unter uns geben, die nicht schon einmal den Wunsch gehabt haben, sich auf eine einsame Insel im Weltmeer zu begeben oder in eine Einöde zu fliehen, um von den Menschen, von den Menschen der Umgebung loszukommen. Und doch weiß jeder, daß ein solcher Wunsch unausführbar ist, denn wir sind mit tausend Banden, mit tausend Rücksichten, mit tausend Verpflichtungen an unsere Umgebung gebunden. Andererseits ist uns auch klar, daß wir es auf dieser Insel oder in der Einöde nicht lange aushalten würden, denn wir brauchen die Menschen. So sehr uns die Gesellschaft bedrückt und belastet, so notwendig ist sie für unser Leben. Es also eine Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, ja, es ist sogar ein Gegensatz zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Das erklärt sich auf folgende Weise. Der mit seiner Gemeinschaft, mit seiner Gesellschaft verbundene Mensch ist auch immer ein gebundener Mensch, und umgekehrt: Der ungebundene Mensch, der ist auch immer ein verlorener, ein isolierter, ein verlassener Mensch. Wenn wir in dem großen Ganzen aufgehen, dann werden wir Herdentiere, wenn wir uns aber von dem großen Ganzen wegbewegen, dann werden wir Raubtiere. Es ist also eine Spannung da zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, und die muß versucht werden zu bewältigen. Wir wollen sie, diese Bewältigung, in zwei Sätze fassen, nämlich

1. Der Mensch ist mehr als ein Gesellschaftswesen.

2. Der Mensch ist mehr als ein Einzelwesen.

Daß der Mensch in der Gesellschaft nicht aufgeht, ergibt sich klar daraus, daß sein Ziel nicht die Gesellschaft ist, sondern Gott. Sein Ziel ist nicht die Familie, ist nicht die Kirche, ist nicht der Staat, sondern sein Ziel ist Gott. Er hat seine Heimat bei Gott, und daraufhin ist er unterwegs. Alles, was ihm unterwegs begegnet, ist nur Weggefährte, aber nicht Ziel, und dieses Ziel, bei Gott zu sein, ist das einzige unaufgebbare, das einzige absolute, das einzige unvertauschbare Ziel.

Unser Ziel liegt also nicht in den Geschöpfen, in keinem Geschöpf, nicht in einem Menschen, nicht in der Familie, nicht in der Kirche, nicht im Staat. Es liegt über diese Gemeinschaften hinaus in Gott. Wie sagt die Heilige Schrift: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes.“ Also sind auch wir Gottes. Unser Zusammensein mit Gott ist das letzte, das überaus wertvolle Ziel, das uns gesetzt ist. Deswegen sagt auch Jesus: „Fürchtet nicht die, welche den Leib töten können; fürchtet den, der Leib und Seele in der Hölle verderben kann!“

Daraus ergibt sich auch, daß der Weg zu Gott der entscheidende Weg ist, und dieser Weg zu Gott wird durch zwei Kräfte bestimmt, nämlich durch die Gnade und durch die menschliche Mitwirkung. Gnade und menschliche Mitwirkung sind es, die uns den Weg zur Nähe Gottes finden lassen. Diese beiden Kräfte, die Gnade und die menschliche Mitwirkung,  dürfen deswegen niemals gehemmt, geschädigt, beeinträchtigt oder verkümmert werden. Keine Gesellschaft darf uns daran hindern, diesen Weg zu gehen, mit der Gnade zu arbeiten, um den Himmel zu finden. Die höchste Instanz auf Erden ist also die Persönlichkeit des Einzelnen, und zwar nicht die hemmungslose, nicht die losgelöste Persönlichkeit, sondern die in Gott ruhende Persönlichkeit, die auf Gott zugehende Persönlichkeit, die Persönlichkeit, die mit Gottes Willen in Übereinstimmung steht. Diese Persönlichkeit darf niemals geschädigt werden. Dieser Persönlichkeit darf niemand etwas zuleide tun. Diese Persönlichkeit ist so gewaltig, daß sich alles vor ihr beugen muß im Himmel und auf Erden.

Freilich, wenn diese Persönlichkeit von sich selbst abfällt, wenn sie versagt, dann muß sie sich etwas sagen lassen von anderen, dann muß sie sich dreinreden lassen, dann muß sie sich von Wesen, die sittlich höher stehen als sie selbst, zurechtweisen lassen, dann muß eine solche Persönlichkeit gemahnt, gerügt, getadelt und notfalls auch gezwungen werden. Das ist notwendig, um die Unzulänglichkeit und Schwäche des Einzelnen auszugleichen.

Wir brauchen nicht zu befürchten, daß die selbständige Persönlichkeit der Gesamtheit der Menschen schädigend gegenübertreten könnte. Nein, diese Befürchtung ist grundlos, denn der Mensch, der mit der Gnade mitwirkt, der Mensch, der auf Gott zugeht, der mit sittlichem Wollen und mit sittlicher Arbeit gereift und geformt worden ist, ein solcher Mensch ist ein Bote, ein Diener und Freund Gottes und geht als solcher zu den Menschen. Ein solcher Mensch ist es, der den wahren sittlichen Fortschritt in unserer Welt bewirkt. Der wirkliche Fortschritt wird nicht durch äußere Erfindungen und Entdeckungen bewirkt, sondern durch die sittliche Persönlichkeit, und diese sittliche Persönlichkeit darf, das sei noch einmal gesagt, durch niemanden außerhalb von uns und erst recht nicht durch uns selbst beschädigt und gestört werden. Der Mensch ist mehr als ein Gesellschaftswesen.

Er ist aber auch mehr als ein Einzelwesen. Das ergibt sich schon ganz klar daraus, daß wir von der Gesellschaft empfangen. Niemand von uns kann ohne die Gesellschaft, kann ohne andere Menschen, kann ohne die Fürsorge, ohne die Hilfe, ohne den Trost anderer Menschen leben. Wir sind auf die Menschen angewiesen. Auch das größte Genie muß von außen angeregt werden, damit es sich entfalten kann. Und erst recht gilt das für uns kleine Menschenwürmer. Wir bedürfen der Anregung, der Förderung, des Beistandes der Menschen unserer Umgebung. Wir brauchen Menschen, die schenkend und wohlwollend uns gegenübertreten. Aber zu diesen Menschen gehören wir natürlich auch selbst, und so müssen wir auch der Gesellschaft geben. Wir sind mehr als ein Einzelwesen. Wir müssen auf die Gesellschaft zugehen; wir müssen ihr schenken, und zwar nicht mit Zwang, nicht mit Mißtrauen, nicht mit Bitterkeit im Herzen, sondern freudig und mit Vertrauen und mit Liebe. Es muß das freie Schenken einer selbständigen Persönlichkeit sein, das wir der Gesellschaft entgegenbringen.

Gott ist der Schöpfer der Welt, aber er beteiligt die Geschöpfe an seiner Schöpfung. Er hat den Menschen zu einem Selbstschöpfer gemacht. Er hat dem Menschen aufgetragen, das zu werden, was er nach Gottes Plan werden soll; er muß etwas aus sich machen. Und das gilt auch gegenüber dem Mitmenschen. Er muß auch den anderen helfen, daß sie etwas aus sich machen, daß sie zu dem kommen, was Gott in ihnen sehen will. Er muß die Menschen tätig und tatkräftig lieben, er muß sie fördern, er muß ihnen Kraft und Glück spenden, damit sie das erreichen, was Gott ihnen geben will. Die Menschen dürfen uns also nicht gleichgültig sein. Wir müssen uns ihrer annehmen, wir müssen ein Herz für sie haben. Es muß uns an den Menschen etwas liegen. Ein kalter, ein berechnender, ein selbstsüchtiger Mensch ist nicht fähig, das zu verwirklichen, was Gott von ihm haben will, nämlich daß er mehr ist als ein Einzelwesen, daß er ein Gemeinschaftswesen, ein Gesellschaftswesen werden soll. Wir dürfen nicht in selbstsüchtiger Weise in uns selbst, dem eigenen Ich steckenbleiben. Wir müssen über uns selbst hinausgehen, um den anderen zu fördern und zu tragen.

Gewiß kann es in den niederen Bereichen des Lebens, vor allen Dingen in dem materiellen Bereich zu Widerstreit kommen, zu Konflikten. Man spricht ja vom Kampf ums Dasein. Aber diese Konflikte müssen bewältigt werden durch den Grundsatz: Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Im großen Ganzen, dem wir dienen, sind wir auch selbst am besten aufgehoben. Wenn es einmal so weit kommen sollte, daß sich der Einzelne für das Ganze opfern muß – und das kann geschehen –, dann ist das immer nur ein Opfer am Weg, aber nicht am Ziel. Auch der, der sich für das Ganze seiner Familie, seiner Kirche, seines Gemeinwesens, seines Staates opfert, auch er findet den Weg zum Ziele, nämlich in Gott, in der Gemeinschaft, im Beisammensein mit Gott.

 Die Konflikte, die zwischen den Menschen ausgetragen werden, haben ihre Wurzel im eigenen Inneren. Wer nämlich im eigenen Inneren nicht wohlwollend gegen die Menschen eingestellt ist, der wird auch den Konflikt, den er im Inneren trägt, nach außen bringen. Es geht also darum, im eigenen Inneren wohlwollend, geneigt, mitfühlend, tröstend gegenüber den Mitmenschen zu werden. Wir müssen den Menschen, die uns begegnen, ein Plätzchen in unserem Inneren anweisen. Wir dürfen nicht abweisend sein, wir dürfen nicht die Menschen von uns stoßen im Inneren, denn dann stoßen wir sie auch bald von uns im Äußeren. Im Inneren müssen wir geneigt und wohlwollend zu den Menschen sein, um sie im äußeren Leben auch wohlwollend umfangen zu können. Ein wahrhaft großer Mensch,  meine lieben Freunde, trägt alles in seinem Herzen, was aus dem Herzen Gottes kommt und was zum Herzen Gottes führt. Ein wahrhaft großer Mensch beherzigt das Wort des Heilandes: „Das Himmelreich ist in euch.“ Das will besagen, das Himmelreich der Gemeinschaft ist auch in euch, in eurer eigenen Seele. Ihr müßt das Zusammensein mit den Menschen erst in eurer gotterfüllten Einsamkeit suchen, dann werdet ihr es auch finden im äußeren Leben.

Amen.

 

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