Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. Mai 1997

Das Leid als Strafübel Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Ist die Fülle des Leidens auf dieser Welt nicht ein Einwand gegen Gottes Liebe? Sind die zahllosen Martern und Foltern, die über die Menschen kommen, nicht ein entscheidendes Argument gegen die Aussage der Heiligen Schrift: Gott ist die Liebe? In der Tat, meine lieben Freunde, ist das Leiden auf dieser Welt ein undurchdringliches Geheimnis und für den wachen Christen eine schwere Last. Diese Last wird uns nicht abgenommen, solange diese Weltzeit läuft. Die Menschen haben versucht, das Übel in der Welt zu erklären. Es ist das eine der Hauptaufgaben der Philosophie. Aber was immer auch die Philosophen über das Leid in der Welt lehren mögen, zu einer schlüssigen Lösung sind sie nicht gelangt. Im Gegenteil. Es gibt radikale Lösungen, etwa im historischen Materialismus, der Gott leugnet, oder in der indischen Philosophie, die das Übel bestreitet. Während der gegenwärtigen Weltzeit wird uns die Last dieses Geheimnisses nicht abgenommen.

Der Apokalyptiker Johannes sah, wie vor Gott das Buch der Geschichte mit sieben Siegeln versehen war, und ein Engel fragte: „Wer ist würdig, die Siegel zu lösen?“ Aber es war kein einziges von den Geschöpfen fähig, die Siegel dieses Buches zu lösen. Der Seher weinte deswegen, weil niemand würdig befunden ward, die Siegel des Lebensbuches der Welt und der Menschen zu lösen. Aber er wurde getröstet: „Siehe, der Christus, der Löwe aus Juda, das Lamm Gottes, das ist würdig, die Siegel zu lösen.“ Also in der Ewigkeit wird die Erklärung des Leids und der Unglücksfälle dieser Weltzeit erfolgen. Für jetzt sind wir angewiesen auf den Glauben, wir haben es im Glauben anzunehmen und zu bejahen, daß es eine Lösung geben wird. Erst in der Zukunft, in der jenseitigen Zukunft wird uns die Einsicht in die Fügungen und Führungen Gottes gewährt sein.

Dennoch läßt sich einiges über den Sinn des Leides auf dieser Erde sagen. An erster Stelle muß man mit der Offenbarung hervorheben: Gott ist nicht der Urheber des sittlichen Übels; Gott will nicht die Sünde. Es ist mit seiner Heiligkeit absolut unverträglich, daß Gott die Sünde wollen könnte oder sollte. Aber freilich: Er läßt sie zu. Um des hohen Gutes der Freiheit willen läßt er geschehen, daß die Menschen ihren Arm gegen Gott erheben und sich gegen sein Gesetz empören. Aber noch einmal: Er ist nicht der Urheber des Bösen, sondern er besitzt die Macht und die Weisheit, auch das Böse zum Guten zu wenden; deswegen läßt er das Böse zu.

Ein zweites müssen wir hinzufügen. Die Straf- und Naturübel, also das Leid in der Welt, sind von Gott nicht um ihrer selbst willen gewollt, sondern um höherer Zwecke willen. Das Leid ist an sich mit der Ordnung der Welt gegeben; denn in der Welt besteht eine Über- und Unterordnung, ein Gebrauchen und Verbrauchen des einen durch das andere. Und das Leid ist an sich auch mit der Vergänglichkeit der Welt gegeben, wo die Dinge eben ihre begrenzte Zeit haben. Am Anfang hat Gott beides hintangehalten. Das Dienen des einen gegenüber dem anderen sollte in einer selbstverständlichen Leichtigkeit geschehen, ohne Grausamkeit und ohne Bitterkeit. Und die Vergänglichkeit sollte hintangehalten werden. Es gab das hohe Gut der Unsterblichkeit. Aber durch die Ursünde sind der Tod und das Leid in die Welt gekommen. Durch die Ursünde hat sich der Mensch auf die Brücke begeben, die das Sein vom Nichtsein trennt. Als er in selbstherrlicher Weise sich von Gott loslöste, da hat er sich selbst das Gericht gesprochen. Der Mensch hat das Leid erzeugt durch seine Schuld. Diese Ursünde setzt sich fort in den persönlichen Sünden. Die persönlichen Sünden sind eine Quelle des Leides. Haben wir nicht alle, meine lieben Freunde, erfahren, wie unsere Sünden bezahlt werden mußten? Es gibt Folgen der Sünden, und es gibt Strafen für die Sünden. Folgen der Sünden sind jene, die mit der Sünde automatisch gegeben sind. Womit man sündigt, damit wird man bestraft; das ist ein eherner Grundsatz.

Es können auch von Gott Strafübel für die Sünden eigens verhängt werden. Die Heilige Schrift ist hier ganz eindeutig. Sie sagt: Es gibt Leid, das wegen der Schuld von Gott verhängt wird. Ich erinnere an den Mann, der 38 Jahre krank war und in Jerusalem am Bethestateiche lag. Der Herr hat ihn geheilt, aber er hat ihn dann später getroffen und zu ihm gesagt: „Siehe zu, du bist gesund geworden. Sündige jetzt nicht mehr, damit dir nicht etwas Schlimmeres begegne!“ Das heißt, diese lange Krankheit des Mannes war Strafe für seine Sünden. Aber das ist nicht immer so. Es gibt auch Leid, das keine Strafe für die Sünden ist. Der Herr hat es mehrfach deutlich ausgesprochen. Zu seiner Zeit hat Pilatus ein Blutbad unter den Galiläern angerichtet, während sie eben opferten, und die Jünger haben Jesus davon berichtet. Da sagte er: „Glaubt ihr, daß diese Galiläer größere Sünder gewesen seien als alle anderen Galiläer, weil sie solches erleiden mußten? Nein, sage ich euch.“ Dann erzählte man ihm von einem Turm, der eingestürzt war, wobei 18 Menschen ums Leben kamen. „Glaubt ihr, sie seien schuldiger gewesen als alle anderen Einwohner von Jerusalem? Nein, sage ich. Aber wenn ihr euch nicht bekehrt, werdet ihr alle gleichfalls umkommen.“ Hier weist also der Herr die einfache Schuld- und Leidrechnung, welche die Menschen so leicht aufstellen, zurück. Es ist nicht eindeutig, ob in einem bestimmten Falle ein Leid eine Strafe für eine Sünde ist. Das sagt der Herr noch einmal bei der Heilung des Blindgeborenen. Er traf dort einen Mann, der von Geburt an blind war, und die Jünger fragten ihn mit ihrer etwas einfältigen Theologie: „Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde?“ Jesus gab die Antwort: „Weder dieser noch seine Eltern haben sich versündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden.“ Er weist also die primitive Theologie zurück, die jedes Leid als Strafe für Sünde ausgibt.

Wir müssen weiter sagen: Das Leid ist in der Absicht Gottes ein Werkzeug des Heiles und des Segens sowie eine Teilnahme an den Leiden Christi. Das Leid ist ein Werkzeug des Heiles und des Segens. Diese Wahrheit sieht man am Leiden Christi. Die Abgründigkeit und das Grauen der Sünde hat sich am Kreuze gezeigt; aber durch diese willige Aufsichnahme des Kreuzesleidens wurde die Sünde innerlich entmächtigt, und so wurde der Kreuzweg für Christus – zunächst für Christus – der Heilsweg. Und so muß es dann bei allen Christen sein, denn die Christen sind ja diejenigen, die mit Christus in Verbindung stehen. Es muß sich also das Schicksal Christi über sie ausbreiten. Sie müssen in das Schicksal Christi eingehen. Sie müssen in Gemeinschaft mit Christus die Leiden und Drangsale dieses Lebens bewältigen. Auch über sie muß notwendig das Leiden kommen, denn es kann dem Leibe Christi nicht erspart bleiben, was am Haupte geschehen ist. Das Mysterium des Leidens, das am Haupte geschehen ist, muß sich auch am Leibe Christi auswirken. Und darin ist die erlöserische Macht des Leidens Christi wirksam. Wenn der Christ in der Gesinnung Christi und in Verbindung mit Christus das Leiden auf sich nimmt, dann erfährt er die erlöserische Wirkung des Leidens Christi an sich selbst.

Das Leiden ist sodann, meine lieben Freunde, eine Offenbarung Gottes und eine Erinnerung. Das Leiden offenbart, daß der Mensch in der Ferne von Gott nicht leben, sondern nur sterben kann. Das Leiden zeigt, daß die Verflochtenheit in die Sünde die Bedrohtheit der Existenz und die Armut des Lebens mit sich bringt. Es erinnert den Menschen daran, daß diese Welt im argen liegt, und daß er, wenn er sich dieser Welt überläßt, notwendig in Leid und Kummer verfällt. Der Mensch bedarf dieser Erinnerung, weil er immerfort in Gefahr ist, sich selbstherrlich von Gott zu lösen und behaglich in dieser Welt einzurichten.

Für die Zukunft ist das Leid eine Warnung und eine Verheißung. Im Leid vollzieht sich ja immer irgendwie ein Gericht über die Sünde. Und jeder muß nach dem unergründlichen Willen Gottes an diesem Schicksal seinen Anteil übernehmen. Das Leid ist also eine Warnung, daß dieser Vorentwurf des Gerichtes, den das Leid bedeutet, uns vor dem endgültigen Gericht bewahrt. Es warnt uns davor, auf dem Wege der Selbstherrlichkeit weiterzuschreiten und dadurch in die ewige Verlorenheit zu geraten. Es ist zugleich eine Verheißung; denn derjenige, der sich in Buße und Gehorsam, in Sühnewillen dem Leid unterwirft, der kommt nicht ins Gericht, der wird nicht gerichtet, der ist dem Gericht entzogen.  Also für die Zukunft eine Warnung, nicht etwa in dem Zustand aus dieser Welt zu scheiden, der zur Verdammnis führt; und eine Verheißung, vielmehr in der Gnade Gottes dieses Leben zu bewältigen und in den Tod hineinzugehen, damit wir eine ewige Zukunft besitzen.

So wird das Leid auch ein Zeichen der Nähe Gottes und ein Anruf Gottes. Ein Zeichen der Nähe Gottes. Das Leid zeigt, daß Gott sich um den Menschen kümmert. Er führt ihn zur Erkenntnis dessen, was er anrichtet mit seiner Schuld. Er bringt ihm zum Bewußtsein, daß er verantwortlich ist für sein Tun und sein Lassen. Das Leid ist ein Zeichen, daß Gott den Menschen als einen Erwachsenen behandelt, der für seine Taten einstehen muß. Und es ist zugleich ein Anruf Gottes, auf die Zukunft zu vertrauen. Diese Welt und ihre Schätze vergehen, aber in der Zukunft, in der Ewigkeit liegt eine himmlische Wohnung bereit, und auf die sollen wir unsere Hoffnung richten, für sie sollen wir arbeiten, für sie kämpfen und für sie auch leiden. Das Leid will uns also besser und tiefer, ruhiger und friedvoller, milder und gehaltvoller machen. Das Leid will uns zur Würde und zur Größe führen. Das Leid ist also gewissermaßen der Meißel, mit dem Gott das Bild an uns herausmeißelt, das er an uns sehen will.

Niemand hat das deutlicher gesagt als der Mystiker Heinrich Seuse. Er läßt Gott, die ewige Weisheit, sprechen: „Leiden ist ein Löscher meines Zornes und ein Erwerber meiner Huld. Leiden macht mir den Menschen liebwert, denn der leidende Mensch ist mir ähnlich. Leiden bringt Entfremdung der Welt und gibt dafür ein beständiges Vertrauen. Es vermindert die Zahl der Freunde und mehrt die Gnade. Der muß gänzlich verleugnet und verlassen werden von aller Welt, dessen ich mich freundlich annehme. Es ist der sicherste und der kürzeste und der nächste Weg. Leiden behütet vor schwerem Fallen. Es läßt den Menschen sich selbst erkennen, gegen seinen Nächsten nachsichtig sein. Leiden hält die Seele in Demut und lehrt Geduld. Es ist ein Hüter der Reinheit. Es bringt die Krone der ewigen Seligkeit. Leiden wehrt die Sünde ab, es mindert das Fegfeuer, vertreibt die Versuchung, beseitigt die Fehler, erneuert den Geist. Leiden schafft ein weises Gemüt und einen erfahrenen Menschen. Ein Mensch, der nicht gelitten hat, was weiß der? Leiden ist eine Liebesrute, ein väterlicher Schlag für meine Auserwählten. Leiden zieht und zwingt den Menschen zu Gott, es sei ihm leid oder übel. Ich schüfe eher Leid aus nichts, ehe ich meine Freunde ohne Leiden ließe; denn im Leiden werden alle Tugenden bewährt, der Mensch geziert, der Nächste gebessert, Gott gelobt. Geduld im Leiden ist ein lebendiges Opfer.“

Ich meine, schöner und ergreifender kann man den Anruf Gottes, den das Leid bedeutet, nicht ausdrücken, als Heinrich Seuse es getan hat. Aber nicht nur die Gottverbundenen, auch die Gottentfremdeten haben manchmal erstaunliche Erkenntnisse über das Leid gehabt. Ich erinnere an Friedrich Nietzsche. Er schreibt einmal in seinem Buche „Der Wille zur Macht“, daß er denjenigen, die ihn etwas angehen, Verlassenheit, Krankheit, Entwürdigung, Mißhandlung wünsche. „Ich wünsche ihnen, daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, das Mißtrauen gegen sich selbst, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt. Ich habe kein Mitleid mit ihnen, denn ich wünsche ihnen das einzige, was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder nicht: daß er standhält.“ Wahrhaftig, hier hat sich Friedrich Nietzsche zu einer Höhe erhoben, die an unsere christliche Wahrheit heranreicht. Freilich wird durch diesen heroischen Trotz das Leiden nicht überwunden. Überwunden wird das Leiden erst, indem man es aus der Liebe Gottes entgegennimmt. Das Leiden muß als Heimsuchung Gottes begriffen werden. Man muß es sich innerlich zu eigen machen. Man muß es als sein Werk vollziehen, dann wird es für uns zur Quelle des Heiles und des Segens.

Amen.

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