Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
17. April 1995

Herr, bleibe bei uns

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Dieser Tage wurde mir folgender Text übergeben, den Kinder in der Schule vorgelegt bekommen: „Nach dem Tode Jesu glauben die ersten Christen, daß er unter ihnen anwesend ist, wenn sie sich versammeln, um Mahl zu halten, so wie sie es früher mit ihm getan haben. Diesen Glauben bringen sie in der Erzählung von den Jüngern, die nach Emmaus gehen, zum Ausdruck.“ Ich lese es noch einmal vor: „Nach dem Tode Jesu glauben die ersten Christen, daß er unter ihnen anwesend ist, wenn sie sich versammeln, um Mahl zu halten, so wie sie es früher mit ihm getan haben. Diesen Glauben bringen sie in der Erzählung von den Jüngern, die nach Emmaus gehen, zum Ausdruck.“ Dieser Text scheint zunächst völlig harmlos. Wer nicht genau hinhört und den Inhalt sorgfältig bedenkt, könnte meinen, es werde hier der herkömmliche Osterglaube der Kirche zum Ausdruck gebracht. In Wirklichkeit schließt dieser Text eine fundamentale Verkehrung des kirchlichen Osterglaubens in sich. In den letzten Jahrzehnten hat sich in der sogenannten Theologie und im sogenannten Religionsunterricht auf weite Strecken eine Erklärung des Ostergeschehens breitgemacht, die mit katholischem Glauben nicht zu vereinbaren ist. Ich fasse diese ungläubige Erklärung in folgenden Sätzen zusammen:

1. Nach dem Tode Jesu gab es eine Begegnung der Jünger Jesu mit dem Herrn. Aber diese Begegnung war rein innerlicher Art. Sie spielte sich in der Seele derjenigen ab, die behaupteten, ihn gesehen zu haben. Es war kein äußerlicher Vorgang, sondern ein innerseelisches Geschehen.

2. Diejenigen, die dieses innere Erlebnis hatten, haben es nach außen projiziert. Um dem, was sie innerlich erfahren hatten, einen Ausdruck zu geben, haben sie Geschichten von Erscheinungen erfunden. Sie haben das, was in ihrer Seele vor sich ging, in Erscheinungsgeschichten nach außen vorgelegt. Diese Erscheinungsgeschichten sind also nicht wirklich, mit geschichtlicher Wahrheit, erfüllt, sondern sind lediglich ein Ausdruck für ein innerseelisches Geschehen.

3. Die Erscheinungsgeschichten sind ein Erzeugnis des Glaubens der Gemeinde. Die ersten Christen gewannen auf irgendeine Weise die Überzeugung, daß Jesus lebe, und sie haben diese Überzeugung in den erfundenen Geschichten tradiert und den kommenden Generationen überliefert.

Von diesen Prämissen ausgehend, ergeben sich für diese Art von Theologie wichtige Folgerungen, nämlich

1. Weg mit dem Unterschied von Ostern und Himmelfahrt! Weg mit dem Unterschied von Ostern und Pfingsten! Weder das, was an Himmelfahrt, noch das, was an Pfingsten in den Erzählungen berichtet wird, ist geschichtlich erweisbar. Es handelt sich auch bei diesen Vorgängen lediglich um erdichtete Geschichten, die von den begeisterten Anhängern Jesu erfunden wurden.

2. Die Bekehrung Pauli, die ja auf eine Erscheinung des Herrn zurückgeht, ist ebenfalls ein rein innerer Vorgang gewesen. Dreimal wird in der Apostelgeschichte gemeldet, wie Paulus vor Damaskus vom Herrn, der ihm als Lichtgestalt erschien, überwältigt wurde. Aber wir wissen nichts geschichtlich Sicheres über dieses Erlebnis.

Was ich Ihnen jetzt als die Meinung der Falschlehrer vorgetragen habe, wird heute in ungeheurem Umfang über das katholische Volk, vor allem über unsere Kinder, ausgeschüttet. Daß damit der Osterglaube tödlich getroffen wird, ist jedem klar, der sich bewußt macht, was die wahre Lehre der Kirche ist. Diese Lehre sagt nämlich

1. daß die Ostererscheinungen „äußere Erlebnisse“ waren. Sie haben sich nicht in der Seele der Jünger, sei es bei Tag oder bei Nacht, abgespielt, sondern es waren Geschehnisse, die sie von außen überwältigt haben. Wie soll es möglich sein, meine Christen, daß fünfhundert Brüder auf einmal ein inneres Erlebnis haben, Jesus sei auferstanden? Das ist schon rein psychologisch völlig unmöglich. Aber nach dem Bericht des Apostels Paulus im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes ist diese Erscheinung wie die anderen, von denen er meldet, ein äußeres Widerfahrnis. Die Jünger sind von außen überführt worden. Sie haben nicht aus Sehnsucht oder aus Nostalgie die Erscheinungen Jesu in ihrem Inneren selbst erzeugt.

2. Die Jünger bezeichnen sich als „Zeugen“. Wer ist ein Zeuge? Ein Zeuge ist jener, der etwas selbst gehört und selbst gesehen hat. Und eben diese Zeugenschaft nehmen die Jünger für sich in Anspruch. Sie sagen vor dem Hohen Rat: „Wir können nicht aufhören, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben.“ Sie haben also nicht irgendwelche inneren Erlebnisse nach außen projiziert, sondern sie haben das aufgenommen, was sich vor ihren Augen abspielte. Sie sind Zeugen und nicht Dichter. Sie sind redliche Zeugen dessen, was sie erlebt haben, und nicht Phantasten, die etwas nach außen entwerfen, was in ihrem Inneren vor sich ging.

3. Die Jünger stellen ihre Zeugenschaft nach der Auferstehung Jesu in eine Linie mit ihrer Zeugenschaft während des irdischen Lebens Jesu. Derjenige, der den Judas ersetzt, muß einer sein, der mit ihnen zusammen war von dem Tage an, da Jesus bei ihnen aus- und einging bis zu dem Tage, da er nach seinen Erscheinungen endgültig in den Himmel aufgenommen wurde. Das Zeugnis nach der Auferstehung Jesu steht in Kontinuität mit jenem Zeugnis, das von dem irdischen, auf den galiläischen Fluren wandelnden Jesus abgelegt wird. Es handelt sich beide Male um sinnenhafte Manifestationen, um sinnenhafte Kundgebungen, die auf die Jünger eingedrungen sind und die sie wahrgenommen haben. Sie haben mit Jesus gegessen, sie haben mit ihm geredet, sie sind mit ihm gewandert. Es besteht kein Unterschied, abgesehen von der verklärten Wirklichkeitsweise, zwischen dem Jesus, der nach der Auferstehung mit ihnen spricht, und jenem Jesus, der in seinem irdischen Leben unter ihnen weilte.

4. Der Glaube der Gemeinde ist die Folge des Zeugnisses der Apostel, nicht die Quelle. Nicht der Glaube der Gemeinde hat das Zeugnis der Apostel hervorgetrieben, sondern das Zeugnis der Apostel hat den Glauben der Gemeinde erweckt. Es ist also gerade umgekehrt, wie die Falschlehrer es ausdeuten.

5. Die Berichte von der Auferstehung, von den Erscheinungen Jesu sind in demselben Stil gehalten wie die Berichte von seinem irdischen Leben. Es ist kein apokalyptischer Stil in ihnen zu bemerken, d.h. eine Redeweise, welche die Einzelheiten der Vorgänge beim Ende der Welt ausmalt. Es werden auch keine Wunder berichtet von dem nach dem Tode Auferstandenen, sondern es sind das völlig normale Vorgänge, wie sie in der Apostelgeschichte und in den Evangelien uns gemeldet werden. Alles Übertriebene, alles Schattenhafte ist von diesen Erscheinungen völlig fern.

Meine lieben Freunde, Sie sind in der glücklichen Lage, nicht alles das mitzubekommen, was sich heute in unserer Kirche abspielt. Was heute in unserer Kirche vor sich geht, ist der Zusammenbruch des Glaubens. Und gegen diesen Zusammenbruch des Glaubens müssen wir uns mit aller Kraft stemmen. An diesem Zusammenbruch sind Bischöfe, Theologen, Priester und Pastoralreferenten in gleicher Weise beteiligt. Aber wir werden nicht aufhören, von dem zu reden, was wir von den Aposteln überkommen haben. Wir werden nicht aufhören, den Glauben weiterzugeben, den wir von gläubigen Lehrern tradiert erhalten haben.

Die Erscheinungen des auferstandenen Jesus sind Geschichte, nicht Phantasien. Sie sind freilich auch in einem gewissen Sinne Übergeschichte. Historisch, geschichtlich, greifbar sind zwei Dinge: das leere Grab und die Erscheinungen. Übergeschichtlich, megahistorisch, ist der verklärte Christus, ohne Frage. Aber deswegen hören die Erscheinungen Jesu nicht auf, geschichtliche Ereignisse zu sein.

Am heutigen Emmaustage haben wir gehört, wie die Jünger Jesus bitten: „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich schon geneigt.“ Es ist das eine Bitte, die die Kirche aufnehmen sollte, ein Flehruf, den wir zu Gott erheben sollten: „Herr, bleibe bei uns in dieser düsteren Stunde der Kirchengeschichte! Bleibe bei uns, denn der Abend ist tatsächlich herangekommen, der Abend, in dem der Untergang unserer Religion nahe bevorzustehen scheint. Bleibe bei uns und rette deine Kirche!“ 

Amen.

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