Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
18. April 1993

Die identität und die Persönlichkeit Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

 

Geliebte im Herrn!

Eine besonders gefährliche Weise, den Glauben in den Menschen, vor allem in den Kindern zu untergraben, ist die Anführung von angeblichen oder wirklichen Parallelen aus der Religionsgeschichte. Man nimmt bestimmte Ereignisse und Personen, wie sie sich bei den Griechen oder bei den Indern, bei den Japanern oder bei den Slawen zugetragen haben, und vergleicht sie mit Geschehnissen aus dem Leben Jesu und sagt: Das, was sich da in von Jesus in den Evangelien findet, das ist auch bei anderen Religionen aufzufinden. Sie stehen alle auf derselben Ebene. Die eine ist soviel wert wie die andere, oder auch, wenn man will, keine ist etwas wert, denn sie sind alle Erfindungen der dichterischen Kraft des Menschen. Diese Weise der Betrachtung hat Eingang gefunden in manche Religionsbücher. In jenen Büchern, aus denen Ihre, unsere Kinder den Glauben entgegennehmen sollen, in diesen Religionsbüchern findet sich das Mittel, den Glauben abzutreiben.

Besonders gefährlich ist dieses Verfahren, wenn es unseren Herrn und Heiland Jesus Christus ergreift. Man führt, um ein Beispiel zu erwähnen, die Geburt und die Entwicklung von hellenistischen oder indischen Gottesmännern an, die angeblich ganz ähnlich verlaufen ist wie bei Jesus. Als Apollonius von Tyana geboren wurde, umstanden singende Schwäne seine Mutter, die auf eine Wiese ging, der Zephyr wehte, ein Blitz kam vom Himmel und zog wieder hinauf. Von Zarathustra, dem persischen Weisen, wird berichtet, daß er als einziges Kind, das je auf Erden gelebt hat, bei seiner Geburt der Mutter zugelächelt hat. Wir alle wissen, daß Kinder, wenn sie zur Welt kommen, weinen. Diese hellenistischen Gestalten sind Ausgeburten der menschlichen Phantasie; es sind Traumgestalten. In ihnen verleiblichen sich die Sehnsüchte des menschlichen Herzens. Es sind Dichtungen, Legenden. Aber in diesen Erzählungen, beispielsweise von Lukian, da wird nicht Geschichte berichtet, sondern da verdichten sich die Sehnsüchte des menschlichen Herzens; da schafft sich der Mensch eine Idealgestalt, um sie anderen vorzustellen.

Ganz anders bei Jesus Christus. In allen vier Evangelien,  meine lieben Freunde, ist kein einziges Wort enthalten, das uns das Äußere Jesu beschreibt. Wir wissen nicht, wie groß er war; wir wissen nichts vom Klange seiner Stimme; wir wissen nicht, wie sein Auge blitzte. Das kann man erschließen, aber die Evangelien berichten darüber nicht. Man kann annehmen, daß Christus eine abgehärtete, eine leistungsfähige, eine widerstandsfähige, gesunde und kraftvolle Persönlichkeit war, denn wie hätte er sonst diese langen Wanderungen ausgehalten, dieses Übernachten im Freien, diese vielen Tage, in denen er nicht genügend Speise und Trank bekam? Wir können auch annehmen, daß er eine eindrucksvolle Persönlichkeit war, denn wie hätte er sonst die Volksmassen so beeindrucken können? Wir dürfen durchaus vermuten, daß er hoheitsvoll ausschaute, daß er eine gewinnende Persönlichkeit war, daß er ein anziehendes Äußeres hatte. Aber das sind Schlußfolgerungen. Die Evangelien berichten darüber nichts. Sie haben nur Interesse daran, zu sagen: Das Leben ist erschienen, das göttliche Leben ist in einer menschlichen Gestalt, in einer menschlichen Wirklichkeit, in einer vollmenschlichen Wirklichkeit erschienen. Das ist das einzige Interesse, das sie haben. Zwischen den hellenistischen Biographien und dem neutestamentlichen Christuszeugnis klafft ein Abgrund. Diese hellenistischen Erzählungen sind Phantasiegebilde von Menschen, die Evangelien sind Berichte von Augenzeugen.

An der vollen und ganzen Leiblichkeit Jesu, an der vollen und ganzen Menschlichkeit Jesu aber hängt sein Mittlertum. Der Ort des christlichen Interesses in dieser Weltzeit,  meine lieben Freunde, ist nicht allein die Gottheit Jesu, sondern der Ort des christlichen Interesses in dieser Weltzeit ist nornehmlich die Menschheit Jesu, die freilich mit der Gottheit geeint und verbunden ist. In der Kraft dieser Wesensverbindung hat er sein Mittlertum aufgenommen und unter uns geleistet. Weil er ein Gottmensch ist, ist er der Mittler. Was ist ein Mittler? Ein Mittler ist eine Persönlichkeit, die zwischen zwei Polen vermittelt. Und was vermittelt er? Er vermittelt die Erlösung, er vermittelt zwischen dem Vater im Himmel und dem in Sünde und Tod, in Not und Aussätzigkeit liegenden Menschengeschlecht den Frieden und die Versöhnung. Und das geschieht durch seine menschliche Natur. Er ist Mittler als Mensch. Der Apostel Paulus sagt es eindeutig: Der Mittler Jesus Christus – der Mensch Jesus Christus, aber natürlich nicht losgelöst, sondern immer verbunden mit seiner göttlichen Person. Als Mensch ist er unser Hoherpriester, der opfert, und zwar sich selbst opfert. Er ist Mittler, weil sich in ihm menschliche und göttliche Natur verbinden, und er ist Mittler, weil er in dieser menschlichen Natur das Leid und die Sünde der Menschen aufgearbeitet hat. Er ist also nicht bloß dem Sein nach ein Mittler, weil er göttliche und menschliche Natur in sich verbindet, er ist auch dem Tun nach, dem Wirken nach ein Mittler, weil er nämlich in seinem Leibe, in seiner wahren Leiblichkeit die Sünde überwunden und den Tod besiegt hat. In seiner Leiblichkeit, deswegen hängt so viel an seinem Tod und an seiner Auferstehung; denn was er getan hat, das ist paradigmatisch, das ist vorbildlich. Es mußte durch einen Menschen der Feind des Menschen besiegt werden. Es mußte durch den Gehorsam eines Menschen der Ungehorsam des Menschen getilgt werden. Der Mensch Jesus Christus, verbunden mit der Gottheit, ist unser Mittler, ist unser Erlöser, ist unser Heiland.

Jede Verkürzung des Menschlichen, der menschlichen Wirklichkeit in Jesus hat schlimme Auswirkungen auf die Frömmigkeit. Ich will zwei solche Verkürzungen nennen. Die erste ist die des Gnostizismus. Der Gnostizismus sagt, die Natur, das Menschenwesen, die Welt ist böse, und deswegen kann sich Gott nicht mit ihm verbinden. Jesus ist gekommen, der Logos ist gekommen, aber er hat nur einen Scheinleib angenommen. Sein irdisches Leben ist völlig unbeachtlich. Wichtig ist allein seine Verkündigung. Er hat uns erlöst nicht durch sein Leben, Leiden und Sterben, er hat uns nur erlöst durch sein Reden, durch seine Lehre. Christus ist Lehrer, aber nicht durch Leiden und Sterben das neue Leben uns vermittelnder Erlöser. Er erlöst nur durch seine Lehre. Das ist keine alte, verbrauchte Ansicht, das ist eine Ansicht, die auch heute vertreten wird. Es gibt Theologen, die leugnen das Mittlertum Jesu durch seinen blutigen Erlösungstod. Deswegen ist es so wichtig, daß wir die wahre Leiblichkeit, die wahre Menschlichkeit Jesu festhalten und in keiner Weise abschwächen lassen. Durch ihn loben wir, durch ihn beten wir, durch ihn danken wir. In jeder heiligen Messe,  meine lieben Freunde, kommt dutzendmale vor: „Durch unseren Herrn Jesus Christus.“ Ja, was bedeutet denn das? Das bedeutet, daß wir uns an den Vater im Himmel durch die Mittlerschaft Jesu wenden. „Durch“ bedeutet immer Mittlertum, Mittlerschaft. Wir wenden uns an Jesus, damit er beim Vater für uns eintritt. Wir beten, wir danken, wir loben, wir flehen „durch unseren Herrn Jesus Christus“. Und zwar ist damit der Mensch Jesus Christus gemeint, der Mensch freilich verbunden mit der Gottheit. Denn Gott braucht nicht mit Gott zu vermitteln, das ist ja ganz überflüssig. Es kann nur der Mensch Jesus Christus mit dem Vater im Himmel vermittelnd für uns eintreten.

Die zweite Gefahr erhob sich mit dem Arianismus. Der Arianismus leugnete die wahre Gottheit Jesu, und das führte zu bedeutsamen Veränderungen im Gebet. Bis dahin hatte man gebetet: „Durch Jesus Christus im Heiligen Geiste.“ Diese Gebetsweise nahmen die Arianer zum Anlaß, zu sagen: Aha, da sieht man es ja: Jesus ist geringer als der Vater. Um diesen Mißbrauch einer Gebetsformel zu verhindern, hat man die Gebetsformel verändert. Man betete nicht mehr: „Ehre sei dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geiste“, sondern man betete jetzt: „Ehre sei dem Vater mit dem Sohne samt dem Heiligen Geist.“ Oder wie wir heute noch beten: „Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste.“ In dieser letzten Gebetsformel wird die Gleichwesentlichkeit Christi mit dem Vater betont. Ehre dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste in gleicher Weise. Die Gleichwesentlichkeit mit uns kommt in dieser Gebetsformel nicht mehr zum Ausdruck.

Und es hat Sekten gegeben, schismatische Kirchen, die die Menschheit, die wahre Menschheit Jesu, unterschlagen haben, so die Monophysiten. Die Monophysiten sind eine solche schismatische Kirche, denen die wahre Menschheit Jesu aus dem Blick geraten ist. Während wir durch Jesus Christus zum Vater beten, durch unseren Herrn Jesus Christus, schalten sie an dieser Stelle die Heiligen ein. Sie haben Jesus ganz allein auf die Seite der Gottheit gestellt, und so ist gewissermaßen der Raum zwischen Gott und den Menschen leer geworden. Um ihn zu füllen, rufen sie an den Stellen, wo wir in unserer Liturgie Christus anrufen, die Heiligen an. Das gilt für die schismatischen Kirchen, die russische, die nestorianische, die rumänische Kirche. Sie alle haben an der Stelle, wo wir durch Jesus Christus beten, die Heiligen eingeführt. Das ist eine Verzeichnung. Sie nehmen das Mittlertum Jesu, sie nehmen seine wahre Menschheit nicht mehr ernst genug.

Wenn Jesus in einer bestimmten Zeit, an einer bestimmten Stelle sein Leben vollbracht hat, uns durch sein Leben, Leiden und Sterben erlöst hat, dann erhebt sich die Frage: Wie kommen wir denn mit diesem damals lebenden Jesus in Verbindung? Geschieht das nur, indem wir den Erinnerungen an ihn nachhängen, indem wir die Evangelien lesen oder indem wir an ihn glauben? Aber wie kommen wir dann in eine lebendige Beziehung mit ihm, in eine nicht nur in Gedanken bestehende, sondern in der Wirklichkeit unseres seelischen und körperlichen Lebens angesiedelte Begegnung mit ihm? Diese Begegnung geschieht durch die Sakramente. Die Sakramente sind die Vorgänge, in denen der im Himmel lebende, verklärte Jesus Christus sich uns gegenwärtig macht. In den Sakramenten werden Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu wirksam, ja in gewisser Weise gegenwärtig. Durch die Sakramente wird unser Zusammensein, unser Zusammenleben, unser Zusammenwachsen mit Christus begründet und genährt. Unser In-Sein in Jesus und das In-Sein Jesu in uns geschieht durch die Sakramente. Die Sakramente sind die wunderbaren Vorgänge, die verhindern, daß das Jesusleben ein vergangenes Ereignis, ein in grauer Vorzeit sich abspielendes Geschehnis ist. Sie machen, daß der im Himmel lebende Jesus unsere Wirklichkeit für heute wird, daß wir mit ihm in einen Lebenszusammenhang treten, so daß Paulus sprechen kann: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“

Amen.

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