Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. November 1990

Die Armen Seelen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir können den Seelen im Läuterungszustand wirksam helfen. Das ist die Überzeugung der Kirche von Anfang an. Diese Überzeugung gründet sich auf den Glaubenssatz von der Gemeinschaft der Heiligen. Alle in Christus Verbundenen sind auch untereinander verbunden. Was einer tut, das tut er als Glied der Gemeinschaft, ja in seinem Tun wird gleichsam das Wort der Gemeinschaft laut, stellt sich das Tun der Gemeinschaft dar. Alle, die in der Gemeinschaft der Heiligen leben, sind miteinander verbunden, voneinander abhängig und sollen einander Heilsbringer, Heilsträger sein. Das ist nicht so zu verstehen, als ob wir über das Heil oder das Unheil der anderen verfügen könnten, sondern wieweit unser Tun und Lassen, unser Hassen und Lieben auf die anderen einwirkt, das hängt von der gnädigen Zulassung Gottes, von seinem Walten, ab.

Die Verbundenheit zwischen den in der Gemeinschaft der Heiligen Lebenden wird durch den Tod nicht beendet. Der Tod zerstört nicht die Gemeinschaft, sondern vervollkommnet sie. Wenn die biologischen Bande zwischen den Menschen durch den Zerfall des Körpers erlöschen, hört doch nicht die Verbindung im Heiligen Geiste auf. Der Heilige Geist schlingt sich oder legt sich wie ein allmächtiges Liebesband um die irdischen und um die jenseitigen Menschen, er verbindet sie. Die Gemeinschaft der Heiligen überdauert den Tod. Und diese Gemeinschaft der Heiligen ist auch eine Gemeinschaft der Sühne, d.h. was die einen versäumen und fehlen lassen, das können andere – jedenfalls bis zu einem bestimmten Grade – ersetzen. Das gilt schon für die Lebenden. Wenn ein Glied der Gemeinschaft der Heiligen, ein Glied der Kirche nachlässig, müde, bequem, trocken ist, dann vermag ein anderes bis zu einem gewissen Grade dieses Versäumnis, diesen Fehler, diesen Mangel zu ersetzen. Deswegen war in der alten Kirche die Kirchenbuße öffentlich. Der Büßer mußte öffentlich büßen. Das hatte auch darin seinen Sinn, daß die anderen Glieder der Kirche ihm bei der Verbüßung seiner Strafe halfen, daß sie für ihn eintraten.

Was auf Erden möglich ist, das gilt auch in bezug auf die in die Ewigkeit Eingegangenen. Wir dürfen, ja wir sollen ihnen mit unserer Buße, mit unserer Sühne zu Hilfe kommen. Wir können einen Teil ihres Strafleidens übernehmen. Wir können das, was Gott ihnen als Strafmaß zugedacht hat, bis zu einem gewissen Grade auf uns nehmen, während der Verstorbene den Rest aufzuarbeiten hat. Die Liebe und die Treue, die wir unseren Verstorbenen erweisen, folgen ihnen nach. Und diese Liebe und diese Treue werden von Gott wie ein Gebet angesehen. Sie wirken wie eine Fürbitte für die Verstorbenen. Deswegen ist es so wichtig, daß wir unsere Gebete für die Verstorbenen darbringen, daß wir das heilige Meßopfer für sie feiern, daß wir Ablässe für sie gewinnen.

Ein Wort noch zum Ablaß: Der Ablaß ist Nachlaß zeitlicher Sündenstrafen. Zeitliche Sündenstrafen sind solche, die nicht immer dauern, sondern die einen bestimmten Zeitfluß, einen bestimmten Zug in der Zeit haben. Dieser Nachlaß von zeitlichen Sündenstrafen wird den Lebenden in der Weise der Lossprechung gewährt. Den Verstorbenen kann er nicht in dieser Weise gewährt werden, weil die Verstorbenen der Gewalt der Kirche nicht mehr unterstehen. Aber er kann ihnen in der Weise der Fürbitte zugewendet werden. Das heißt: Wir Lebenden können einen Ablaß gewinnen und Gott bitten, daß er den Straferlaß, der mit diesem Ablaß verknüpft ist, den Verstorbenen zuwendet. Wir sind sicher, daß Gott dieses Gebet erhört. Wir sind nicht immer gewiß, in welchem Maße unsere Gebete, unsere Ablässe von Gott den Verstorbenen angerechnet werden. Wir sind nicht einmal gewiß, ob sie immer dem zugewendet werden, für den sie dargebracht sind. Aber daß sie Wirkungen haben, das ist gewiß. Wenn wir also einen Ablaß gewinnen, mit dem früher Zeitangaben verbunden waren, meinetwegen einen Ablaß von sieben Jahren, dann bedeutet das, Gott schenkt dem Verstorbenen einen Straferlaß, der einer irdischen Buße von sieben Jahren Dauer entspricht; das ist also nicht etwa so zu verstehen, als ob jetzt sieben Jahre Fegefeuer erlassen würden. Über das Fegefeuer können wir, wie ich am vergangenen Sonntag sagte, keine zeithaften Aussagen machen, sondern es besteht nur eine Entsprechung zwischen dem Nachlaß der Strafen im Jenseits und den irdischen Bußzeiten, welche die Kirche – jedenfalls in der alten Zeit – für die Sünder verhängt hatte.

Da könnte jemand fragen: Schiebt sich dann nicht unsere eigene Buße und Sühne zwischen den Verstorbenen und das Sühnewerk Christi? Sucht man nicht hier seine eigene Sühne aufzurichten im Gegensatz zur Sühne Christi? Reicht die Sühne Christi denn nicht aus? Dieser Einwand würde nur dann gelten, wenn unsere Sühne eine selbständige, eine vom Sühnewerk Christi losgelöste Sühne wäre. Aber gerade das ist sie nicht. Unsere Sühne ist Christi Sühne, unsere Tat ist Christi Tat. Wie ist das zu verstehen? Die Erlösung besteht darin, daß wir in das Leiden und Sterben Christi eingehen, daß wir Anteil gewinnen an seinem Leiden und Sterben. Wie anders kann man in dieses Leiden und Sterben eingehen, als indem man mit Christus leidet und in Christus hinein stirbt. Wenn also unser Leiden mit dem Leiden Christi verbunden ist, dann sieht der Vater im Himmel in unserem Leiden das Leiden seines Sohnes. In unserem Leiden kommt das Leiden Christi zur Auswirkung. Wenn wir also unsere Sühne Gott darbieten, dann bieten wir ihm die Sühne seines Sohnes im Gefäß unserer Leiden an. Und darauf ruht Gottes Wohlgefallen, wann immer wir, mit den Zügen unseres Heilandes ausgestattet, zu ihm treten. Also keine selbständige, sondern eine aus der Kraft Christi lebende Sühne.

Man darf auch nicht glauben, daß wir durch unsere Gebete dem Verstorbenen den schmerzhaften Umwandlungsprozeß ersparen können. Das können wir nicht, das dürfen wir gar nicht, denn der Verstorbene will, er bejaht diesen Vorgang. Aber wir können ihm helfen, daß er mit seinem ganzen Willen und mit seiner vollen Bereitschaft sich von der Liebe Gotts durchglühen läßt. Wir können ihm helfen und Gott bitten, daß der Schmerz, der in der Vorenthaltung der Gottesschau besteht, gemildert wird. Wir können bitten, daß die Strafmedien, die auf die Verstorbenen einwirken, sie mit geringerer Intensität treffen. Es geht also nicht um das Ersparen des Umwandlungsprozesses, sondern um eine Hilfe. Wir stehen ihm bei, um ganz in das Reinigungsgeschehen einzugehen, um immer mehr geläutert zu werden und die Strafe, die Gott verhängt hat, zu verbüßen. Wir können einen Teil dieser Strafe auf uns nehmen, der Rest bleibt dem Verstorbenen zu verbüßen.

Es ist auch nicht so, als ob wir Gott mit unseren Gebeten umstimmen könnten. Gottes Wille ist unveränderlich. Aber er hat eben unsere Teilnahme an den Leiden der Verstorbenen vorhergesehen und sie in sein Gericht der Barmherzigkeit einbezogen. Als Gott die Verfügung über den Verstorbenen traf, da hat er vorausgesehen, was für den Verstorbenen an Gebeten und heiligen Messen und Sühneleistungen dargebracht werden wird und es einbezogen in seinen Urteilsspruch. Also nicht wir bestimmen den Willen Gottes, sondern Gottes Wille verleiht unseren gelebten Bußen und Sühneleistungen die Heilskraft. Das ist also die Weise, meine lieben Freunde, wie wir den Verstorbenen helfen, wie wir ihre Bereitschaft, ganz in die Glut der Liebe Gottes einzugehen, vermehren können, wie wir ihr Leiden vermindern können.

Die Verstorbenen können auch für uns etwas tun. Es ist allgemeine Überzeugung der Theologen – der gläubigen Theologen –, daß die Verstorbenen aus der Liebe, in der sie leben, auch uns zu Hilfe kommen können. Sie können Gott Gebete für uns darbringen. Wir dürfen die Verstorbenen also anrufen um ihre Fürbitte, und sie können ihre Fürbitte vor Gott tragen und so uns Hilfe bringen.

Als die heilige Monika, die Mutter des heiligen Augustinus, auf dem Sterbebett lag, sagte sie zu ihrem Sohn: „Begrabt meinen Leib, wo Ihr wollt, macht Euch darum keine Sorgen! Aber um eines bitte ich Euch: Gedenket meiner am Altare des Herrn, wo immer Ihr seid!“ Gedenket meiner am Altare des Herrn, wo immer ihr seid! Ja, meine lieben Freunde, das ist es, was wir tun wollen und was wir tun sollen, immer unserer Verstorbenen gedenken, derer, die uns nahegestanden haben und derer, die uns ferne waren, derer, die Freunde auf Erden zurückgelassen haben und jener, an die niemand mehr denkt. Wir wollen an sie denken, und wir wollen für sie bitten. Es ist, als ob ein Ruf, ein Ruf aus der Ewigkeit zu uns dringt: Gedenket wenigstens ihr unser! Gedenket unser in unserer Not! Helft uns, daß wir die Seligkeit, die Gottesschau, die unverhüllte Gottesliebe gewinnen! Habt Erbarmen mit uns, die ihr noch kämpft und ringt!

„Herr,“ so wollen wir sagen, „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen! Lasse sie ruhen in Frieden!“

Amen.

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