Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Dezember 2020

Weihnachten in Lagern

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Weihnachten ist gekommen, das Fest der Geburt unseres Gottes und Heilandes, des Sohnes der Jungfrau Maria. Wir haben schon viele Weihnachtsfeste erlebt. Der Inhalt war stets derselbe: Das Wort Gottes, der ewige Logos ist ein Mensch geworden. Er blieb, was er war, aber er nahm an, was er nicht hatte. Er kam, um uns zu erlösen. Der Inhalt des Weihnachtsfestes bleibt sich gleich, nicht aber die Umstände. Als Kind erlebt man Weihnachten anders denn als Erwachsener, im Frieden anders als im Kriege. Es scheint mir nützlich, uns an Weihnachtsfeste zu erinnern, die unter außergewöhnlichen Verhältnissen begangen wurden. Es war Weihnachten 1942 an der Ostfront. Anstatt des „Gloria“ heulten die Granaten, und ihre schrillen Dissonanzen erschienen wie ein Hohn auf den Frieden der Heiligen Nacht. – Da fasst sich ein deutscher Soldat ein Herz. Unter den Protesten seiner entsetzten Kameraden steigt er aus dem Schützengraben; den Russen eine leichte Beute – so schien es. Dann begann er zu singen. Er hatte eine mächtige Stimme, die selbst das Dröhnen der Einschläge übertönte. Man musste es als Wunder bezeichnen, dass die Russen nicht auf ihn schossen. Vielleicht glaubten sie zunächst an eine Kapitulation der Deutschen. Seine Stimme aber schallte über die friedlose Erde, über die tausendfach umgepflügte russische Erde. Dann hörte man nur noch diese eine Stimme über all dem Greuel und all der Angst und Not. Die Stimme – so könnte man sagen – eines Engels, eines Boten der „frohen Botschaft“; denn die Russen stellten spontan ihr Feuer ein. –Vielleicht wurde in ihnen die heimliche Sehnsucht wach nach einer besseren Welt, nach dem Glauben ihrer Großväter und Ahnen. – Und kein einziger Schuss fiel mehr in dieser Heiligen Nacht. Für kurze Zeit war mitten in einem fürchterlichen Krieg der Friede eingekehrt. Weihnachtsfriede ist möglich, wenn die Menschen ihn sich schenken lassen.

Es war Weihnachten 1943 im Reservelazarett Warstein im Sauerland. Alle hatten sich im Festsaal der früheren Heilanstalt für Geisteskranke versammelt: Ärzte, Schwestern und Helferinnen, die Verwundeten, die Kranken, die Amputierten, alles, was einigermaßen gehfähig war. Der große Weihnachtsbaum war mit nordischen Runenzeichen und roten Wachskerzen bestückt. Davor stand ein Chor von Mädchen des BDM und sang: Hohe Nacht der klaren Sterne, das Ersatzweihnachtslied für jene, die dem Christentum den Abschied gegeben hatten. Dazu gab es Sprüche und Zitate von Adolf Hitler, Alfred Rosenberg und zeitgenössischen Dichtern. Die „Weihnachtsfeier“ sollte mit einer Rede eines Parteifunktionärs sowie mit dem Deutschland- und Horst-Wessel-Lied abgeschlossen werden – so stand es im Programm. Doch kurz vor der unvermeidlichen Rede geschah etwas, was im Programm nicht vorgesehen war. Eine der Helferinnen, ein 18-jähriges Mädchen, trat plötzlich vor, hielt ein Blatt in der Hand und begann: „Kriegsweihnacht 1943“. Und dann: „Wir wollen beten! O Kind, so neige dich in dieser Nacht.“ In dem großen Saal wurde es totenstill. Mit angehaltenem Atem lauschten die Landser, die Ärzte in Uniform und die Parteigenossen. Das Mädchen las das Weihnachtsgebet seines Bruders, der Soldat war, vor. Eine unglaubliche Herausforderung. Besonders die letzten Worte: „Wir haben deinen Stern gesehen, o göttliches Kind. Und wenn die Reiche untergehen, dein Reich wird immer ohne Ende sein.“ Nach diesen Worten war eine atemlose, gespannte Stille in dem Saal. Dem jungen Oberarzt, der dieses Gedicht zuerst gelesen und das Mädchen überredet hatte, es bei der Feier vorzulesen, wurde plötzlich klar, was jetzt geschehen konnte – oder geschehen musste. Das Mädchen hatte soeben sein Leben oder seine Freiheit aufs Spiel gesetzt und wusste es nicht. Plötzlich hatte er große Angst. Doch da begann mitten unter den verwundeten Soldaten einer mit brüchiger Stimme zu singen. Ein paar noch zaghafte Stimmen fielen ein. Dann wurden es immer mehr. Und schließlich sang der ganze Saal: Stille Nacht, heilige Nacht. Christ, der Retter ist da! Christ, der Retter ist da! Die Rede wurde nicht gehalten. Das Horst-Wessel-Lied wurde nicht gesungen. Die Feier hatte ein unvorhergesehenes Ende gefunden. Dem Mädchen, das solchen Mut bewiesen hatte, geschah nichts. Niemand erstattete Anzeige. Eine einzelne, leise Stimme hat damals „das Reich des Kindes“ verkündet. Eine unhörbare Stimme im lauten Lärm des Krieges. Doch es gibt viele solche kleinen und leisen Stimmen. Es ist fast immer ein Einzelner, der mitten im Hass seinen Glauben an die Liebe bekennt. Doch es gibt viele solche Einzelne. Und das Reich des göttlichen Kindes wächst in den Herzen.

Es war im Jahre 1946. Eine furchtbare Kälte ließ alle erstarren. Der Mond warf sein volles Licht über die schneebedeckte Landschaft. In seinem bleichen Schein lag ein Kriegsgefangenenlager im hohen Norden des Ural. Ein vergessener Friedhof mit wandelnden Leichnamen. Schleppend und müde der Gang, gebeugt die Haltung, eingefallen die Wangen, glanzlos die Augen, Hunger, Durst, Kälte, Angst, Sehnsucht die steten Begleiter. Und heute war Heiliger Abend. Die Kameraden erwarteten den mitgefangenen Priester zur Feier der Weihnacht. Armselig der äußere Rahmen: ein Kerzlein flackerte auf dem Tisch, einige Tannenzweige schmückten den armseligen Raum, auf den doppelstöckigen Betten rechts und links saßen, lagen, hockten die Landser, misstrauisch, erwartungsvoll. Manche hatten sich den Glauben ihrer Kindheit entreißen lassen. Alle aber waren erfüllt von der Sehnsucht nach einer starken Hand, die fähig wäre, die Fesseln der Gefangenschaft zu lösen und die Tore zur Heimkehr zu öffnen. Der Priester las die Weihnachtsgeschichte vor aus einem Schott-Messbuch, das ein Kamerad durch viele Filzungen hindurch hatte retten können. Dann hielt er die Weihnachtsansprache. „Wehe“, so hob er an, „wir hätten Glaube, Hoffnung und Liebe in unseren Herzen ersterben lassen. Dann brächte uns der heutige Heilige Abend einen Tiefpunkt unserer Einsamkeit und Verlassenheit. Wer aber glaubt an die Botschaft über Bethlehems Fluren, wer Vertrauen hat auf den gütigen Vatergott, wer sich das Licht bewahrt hat, das ihm in der Taufe geschenkt ward, der darf auch in unserer verzweifelten Lage auf Rettung hoffen. Er schaut nicht nach unten, denn wir wollen nicht, dass uns die kalte Erde Russlands bedeckt. Er schaut nicht um sich, denn ihm öffnet sich kein Fluchtweg. Nein, er schaut über sich. Der Himmel hat sich geöffnet, und Gottes Sohn stieg herab, um Angst und Not mit uns zu teilen. Wer Ausschau hält nach dem Christkind, der erlebt auch heute und hier das Wunder der heiligen Weihnacht: Christus, der Retter ist da.“ Und die deutschen Kriegsgefangenen im hohen Ural erlebten das Wunder: „Christus, der Retter ist da.“ Ein Leuchten trat in das Antlitz der Kameraden, Tränen quollen aus vielen Augen. Als der Priester die Baracke verlassen wollte, sprangen alle, ja alle, auf, die Glaubenden wie die Zweifler, und streckten die Hände dem Priester entgegen, als wollten sie an ihm neuen Glaubensmut entzünden.

Ein schlesisches Mädchen wurde nach dem Eindringen der Roten Armee nach Russland verschleppt. Mit 200 anderen Mädchen brachte man sie an einen Ort nahe der Grenze zu China. Sie erzählt: Es kam das Weihnachtsfest, für uns das erste Mal in Sibirien. Viele der Frauen und Mädchen wollten an nichts erinnert werden, was die Sehnsucht nach der Weihnacht in der Heimat nur verstärkt hätte. Da aber der Gedanke daran nicht auszuschalten war, beschlossen meine Schwester und ich, eine kleine Weihnachtsfeier im Rahmen des Möglichen zu halten. Aus Papierschnitzeln machten wir abends zuvor Sternchen und schrieben darauf den frohen Weihnachtsgedanken: „Christus, der Retter ist da!“ Wer tagsüber einige Kartoffelschalen finden oder beim Abladen des Wagens ein erfrorenes Krautblatt erhamstern konnte, nahm das mit Freude mit, um es in getrocknetem Zustand als willkommenen Zusatz zu dem kleinen Stückchen Brot zu genießen. Hunger und Kälte und großes Heimweh quälten uns, als der Heilige Abend kam. Unter dem sehr schwachen Schein der kleinen Notlampen, die längs den Lagerstätten angebracht waren, saßen meine Schwester und ich und beteten aus dem Schott die Frohbotschaft der Heiligen Nacht und sangen die trauten Weihnachtslieder aus unserer glücklichen Kinderzeit. Alle anderen aber weinten. Da kam mir eine liebe Erinnerung aus der Heimat, und ich sagte sie den anderen, sprach über den tiefen Sinn einer solchen Weihnacht, in der wir, verlassen und in bitterer Not, die Armut des Christkindes teilen dürften. Und Er, der Welterlöser, werde uns bestimmt nicht vergessen. Er werde hierher zu uns kommen, um uns mit seiner Gnade und mit seinem Trost zu beschenken, viel reichlicher, als es je in der Heimat zu Weihnachten war. So war es auch. Langsam, langsam versiegten die Tränen, und es wurde ganz still und feierlich in dem Raume.

Meine lieben Freunde! Wir wissen nicht, was uns bevorsteht. Ob und wie wir in einem, dem nächsten Jahr das Fest der Christgeburt begehen werden. Die Zeichen stehen auf Sturm. Eines aber wissen wir: Der Retter ist da. Er ist gekommen und bei uns geblieben. Er thront nicht nur im Himmel zur Rechten des Vaters. Seine Vorsehung und seine Fürsorge wachen über uns. Welt ging verloren, Christ ward geboren. Christ ist erschienen, um uns zu dienen. Freue dich, freue dich, o Christenheit.

Amen.

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