26. Dezember 2016
Ihr mordet die Propheten
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Gott hatte das jüdische Volk auserwählt, die Stätte seiner Offenbarung zu sein. Es war in seiner Art einzigartig. Alle Völker der alten Welt stehen in dem Bann der Naturvergötterung. Nur Israel blickt zu dem überweltlichen Gott auf, wiewohl es vor ihm zittert. Alle Völker der alten Welt leben trostlos in rückwärtsgewandter Sehnsucht nach einem verlorenen goldenen Zeitalter der immer schlimmeren Zukunft entgegen. Nur Israel schaut voll Hoffnung in eine künftige goldene Zeit und schwingt sich immer höher hinauf, je hoffnungsloser sich die Gegenwart gestaltet. Jesus hat um die Erwählung seines Volkes gewusst. Im Evangelium der heutigen heiligen Messe spricht er über die Gnadenerweise, die Gott ihm hat zuteil werden lassen. Gott sendet dem jüdischen Volk Propheten, Weise und Schriftgelehrte. Damit werden die Männer bezeichnet, die den Willen Gottes verkünden. Propheten waren die charismatischen Organe der Offenbarung. Sie standen in ganz besonderer Weise mit Gott in Verbindung und verfügten über gottgegebene Kräfte. Sie bewahrten das religiöse Erbe des Moses und kämpften gegen die sittliche Verwilderung. Sie verteidigten die Rechte Gottes und redeten dem Volk ins Gewissen. Schriftgelehrte galten den Juden der Zeit Jesu als Erben und Nachfolger der Propheten. Ihre Entscheidungen bei der Auslegung der Heiligen Schrift wurden nicht als Privatmeinungen angesehen, sondern als inspiriert betrachtet. Darum war der Schriftgelehrte zugleich der wahre Weise. Aber die unerschrockenen Verkünder der Rechte und der Gerichte Gottes waren dem Volk und seinen Führern häufig nicht willkommen. Sie unterbreiteten Wahrheiten, die ihnen unangenehm waren. Sie sprachen ihnen nicht nach dem Munde. Sie suchten dem Volke die Wahrheit seines Verhaltens vor Augen zu führen. Und so suchte sich das Volk und suchten sich seine Führer der Propheten zu entledigen. Sie stellten sich ihnen entgegen, sie vergriffen sich an ihnen. „Einige von ihnen werdet ihr töten und kreuzigen, andere geißeln und verfolgen.“ Der Herr wusste, wovon er sprach. Der Prophet Elias wurde verfolgt, ihm wurde nach dem Leben getrachtet. Dem Propheten Elisäus wurde vom König Joram die Enthauptung angedroht. Der Prophet Michäas wurde misshandelt und eingekerkert. Durch das, was die Juden den Gesandten Gottes zufügen, erfüllen sie Gottes Ratschluss. „Damit über euch komme alles gerechte Blut, das auf Erden vergossen ward.“ Diese Generation muss schuldig werden, selbst noch schuldig werden, um dann gewissermaßen für die gesamte Schuld an dem seit Beginn vergossenen unschuldigen Blut zu büßen. Dieses unschuldige Blut, das über die gegenwärtige Generation kommen muss, d.h. an ihr gerächt werden soll, wird durch die Nennung des ersten und des letzten im Alten Testament berichteten derartigen Mordes zeitlich umgrenzt. Abel, der Gerechte, war der erste, der schuldlos getötet wurde und dessen Blut von der Erde zum Himmel um Rache schrie. Der von den Juden zwischen dem Tempelhaus und dem Brandopferaltar ermordete Zacharias ist auf Befehl des Königs Joas im Vorhof des Hauses des Herrn gesteinigt worden. Er hatte das Volk zur Abkehr vom Götzendienst gemahnt. „Dies alles“, sagt Jesus, nämlich die Vergeltung für das von Anbeginn vergossene unschuldige Blut, „wird dieses Geschlecht der Juden treffen.“ Das Strafgericht begann mit der Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. Im Jahre 66 kam es zum gewaltsamen Aufstand der Juden gegen die römische Herrschaft. Die Römer schickten sofort ein Heer nach Palästina. Der Feldherr Vespasian unterwarf zunächst Galiläa. Als er zum Kaiser ausgerufen wurde, übernahm sein Sohn Titus den Oberbefehl. Der Aufstand wurde niedergeworfen, Jerusalem im Jahre 70 nach erbittertem Kampf erobert. Der Tempel ging in Flammen auf, die Stadt wurde verwüstet. Aber das Strafgericht erschöpft sich nicht mit der Zerstörung Jerusalems. Es besteht vielmehr in der Verwerfung des Judentums als des auserwählten Volkes. „Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volke gegeben, das seine Früchte bringt.“ Es gibt ein neues Volk Gottes, das sind die Jesuaner, das sind die Christianer, das sind die Christen, das ist die katholische Kirche. Gott lässt seiner nicht spotten. Wer die angebotene Gnade ablehnt, der läuft in sein Verderben.
Dann wendet sich der Herr an die Hauptstadt der Juden: „Jerusalem, Jerusalem, du mordest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind.“ Jesus kannte die Geschichte seines Volkes. Jezabel war die Frau des Königs Ahab. Sie war eine Verehrerin des heidnischen Gottes Baal; sie führte seinen Kult in Samaria ein. Und diese Jezabel ließ die Propheten Jahwes ermorden und trachtete auch Elias nach dem Leben. Der Prophet Urias weissagte gegen Jerusalem und Israel. Als der König Jojakim und seine Großen davon hörten, suchten sie ihn zu beseitigen. Urias floh nach Ägypten, doch die Häscher des Königs setzten ihm nach und brachten ihn vor Jojakim. Dieser ließ ihn mit dem Schwert töten. So verfuhr Israel mit den Gottgesandten.
Jetzt wendet sich Jesus seinem eigenen Wirken zu, dem Misserfolg seines eigenen Wirkens. Jerusalem hat die zu ihm gesandten Gottesboten abgelehnt und getötet, es hat sich auch seinem, des Messias Werben versagt. „Wie oft wollte ich dein Kinder sammeln.“ Das Sammeln, von dem der Herr hier redet, ist das Zusammenrufen und Zusammenführen der Israeliten unter die Herrschaft Gottes, die Jesus in seinem Kommen ankündigt und verkörpert. „Wie oft“, sagt er, d.h. Jesus muss mehrmals, muss wiederholt in Jerusalem gewirkt haben. „Wie oft“, dieses Wort macht die Behauptung, Jesus habe nur ein Jahr öffentlich gewirkt, zunichte. „Aber ihr habt nicht gewollt.“ Die Juden haben den bergenden Schutz Gottes, dargestellt unter dem Bilde einer Henne, die ihre Flügel schützend über ihre Jungen breitet, verschmäht. So trifft sie die Strafe. „Euer Haus wird euch verödet überlassen werden“, d.h. die Stadt Jerusalem wird von Gott den Bewohnern selbst überlassen werden, denn Gott zieht sich aus ihr zurück. Die Zerstörung des Tempels und der Stadt wird äußerlich sichtbar machen, dass sie von Gott preisgegeben und verworfen ist. Die Bewohner Jerusalems werden Jesus nicht mehr sehen, bis sie ihn mit einem Wort aus dem Psalm 118 begrüßen werden. Damit ist nicht etwa der Einzug in Jerusalem gemeint, sondern damit weissagt Jesus seine Wiederkunft als verherrlichter Menschensohn; dann werden die Juden ihm huldigen.
Wie wahr und lebensnahe die Worte Jesu waren, sollte sich bald nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt zeigen. Die Urgemeinde in Jerusalem bestellte sieben Männer für die Liebestätigkeit und die Verkündigung des Evangeliums. Einer unter ihnen war Stephanus, ein Mann voll Glauben und Heiligen Geistes. Stephanus entfaltete in Jerusalem eine erfolgreiche Predigttätigkeit, und dabei kam es zu Disputationen zwischen ihm und den Diasporajuden, also den Israeliten, die aus Gegenden wie Ägypten und Libyen in die jüdische Hauptstadt gekommen waren. Sie konnten gegen Stephanus, in dem Gottes Kraft und Weisheit wirksam waren, nicht aufkommen. Darum gehen sie über zur Verleumdung, er habe Moses und Gott gelästert. Sie hetzen das Volk auf, sie bedienen sich der Schriftgelehrten und Ältesten, und nachdem sie die öffentliche Meinung bearbeitet haben, greifen sie zur Gewalt. Sie packen den verhassten Jünger des Herrn und schleppen ihn vor den Hohen Rat. Dort erheben sie verklausuliert die nämliche Anklage, er rede gegen die heilige Stätte und gegen das Gesetz, der Nazoräer, Jesus, werde diese Stätte zerstören und die von Moses überlieferten Bräuche abändern. Die Richter schauen sein Antlitz, und es ist strahlend hell geworden. Es ist von Licht erfüllt, die Kraft des Heiligen Geistes hat sich auf seinem Jünger niedergelassen und verlässt ihn nicht, wie es der Herr vorausgesagt hatte, wenn sie vor die Gerichte gestellt werden. In seiner Verteidigungsrede geht Stephanus auf die beiden Anklagepunkte ein, also die Angriffe gegen den Tempel und das Gesetz, und er zeigt seine wirkliche Stellung zu beidem auf. Gottes Heilsgegenwart und Gottes Heilswirken ist nicht an den Tempel gebunden. Seine Zeit ist abgelaufen. Das Gesetz des Moses ist lebensspendend. Moses ist der Befreier Israels, aber das Volk wandte sich von ihm ab. Danach geht Stephanus auf das Verhalten der Juden in der Gegenwart und Vergangenheit ein: „Ihr Halsstarrigen“, so sagt er ihnen, „ihr Unbeschnittenen am Herzen! Ihr widersetzt euch immer dem Heiligen Geist, wie eure Väter so auch ihr! Welchen der Propheten haben eure Vater nicht verfolgt? Sie haben diejenigen getötet, die von dem Kommen des Gerechten geweissagt haben, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid.“ Die Juden haben das gottwidrige Treiben der Väter zu einem grauenhaften Abschluss gebracht. Sie haben den gottgesandten Messias, den Gerechten, den Heiligen, den Schuldlosen getötet. Die Rede des Stephanus versetzt die Zuhörer in rasende Wut. Stephanus ist sich sicher bewusst gewesen, dass er seine Gegner gereizt hat, aber es war ihm aufgegeben. Da erlebt er eine Verzückung. Der Himmel öffnet sich, er schaut die Lichtherrlichkeit Gottes und Jesus, den Menschensohn, zu seiner Rechten, nicht wie sonst sitzend, sondern stehend. Warum? Jesus hat sich erhoben, um seinem Zeugen Mut zuzusprechen und um ihn zu sich in den Himmel zu holen; deswegen hat er sich erhoben. Als er von diesem Gesicht Mitteilung macht, geraten seine Feinde in Raserei, sie werden handgreiflich. Sie stürzen sich auf ihn, stoßen ihn zur Stadt hinaus und töten ihn durch Steinigung. Im Sterben offenbart sich die ganze Größe des ersten Blutzeugen. Er ruft den Herrn an und spricht: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ Er betet so, wie sein Herr sterbend gebetet hat. Und er spricht mit lauter Stimme: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Er betet, wie der Herr seine Verfolger behandelt hat, als er für sie betete. Er verzeiht seinen Mördern und Henkern und empfiehlt seine Seele dem himmlischen Herrn. So sterben die Zeugen Gottes.
Das Evangelium und die Epistel des heutigen Tages berühren einen traurigen Sachverhalt. Die Boten Gottes für sein Volk werden häufig nicht angenommen, sondern verfolgt und getötet. Der Grund für dieses Verhalten ist in der Ablehnung der Botschaft gelegen. Die Menschen, viele Menschen wollen sich von Gott im Ernste nichts sagen lassen. Sie bevorzugen eine Glaubens- und Sittenlehre, die ihnen eingeht, weil sie geringe Anforderungen an Verstand und Willen stellt. Man möchte irgendwie religiös sein, aber die Religion darf nichts kosten. Warum, warum, meine lieben Freunde, fallen in Südamerika Millionen Menschen zu den Pfingstkirchen ab? Weil diese die Religion billig machen. Die katholische Religion ist ihnen zu anspruchsvoll. Hier liegt der Punkt, an dem wir gefordert sind. Ein Inhalt der Glaubenslehre, der allen mühelos eingeht, kann nicht von Gott stammen, denn Gottes Wirklichkeit und Gottes Wirken sind erhaben über alles Denken der Menschen. Ebenso: Ein Inhalt der Sittenlehre, der fraglos akzeptiert wird, weil er keine Anforderungen stellt, ein solcher Inhalt kann nicht Gott zum Urheber haben, denn Gottes Heiligkeit erhebt Ansprüche an die Menschen, Ansprüche, die über eine billige Moral der Anpassung – wie sie auch in Mainz verkündet wird – hinausgeht. Wären die Werke Gottes nur so groß, dass sie von der Vernunft des Menschen leicht begriffen werden könnten, so wären sie eben darum nicht wunderbar, nicht göttlich zu nennen. Beugen wir uns, meine lieben Freunde, vor Gottes Weisheit und Gottes Willen in der Glaubens- und in der Sittenlehre. Sie haben uns die Freude geschenkt, dass wir den Willen Gottes erkannt haben, und sie heben uns über das Irdische hinaus. Sie führen uns in die Nähe Gottes, und da allein ist unser Friede und unser Heil.
Amen.