25. Dezember 2003
Weihnachten, Geschenk und Aufgabe
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, in heiliger Weihnachtsfreude Versammelte!
„Heute werdet ihr wissen, daß der Herr kommt, und morgen werdet ihr sein Heil schauen.“ So hat die Liturgie des gestrigen Vigiltages uns versichert. „Heute werdet ihr wissen, daß der Herr kommt, und morgen werdet ihr sein Heil schauen.“ Nicht mehr bloß Hoffnung wird uns hier verkündet, sondern Gewißheit, nicht mehr bloß Erwartung, sondern Erfüllung. Wir wissen: Jetzt ist er da. Die Weissagungen des Propheten Isaias haben uns die ganze Adventszeit begleitet, und die letzte dieser Weissagungen lautet: „Siehe, ich leite den Frieden über sie wie ein Strom. Wie eine Mutter ihr Kind tröstet, so will ich euch trösten. Ihr werdet es erfahren, und euer Herz wird sich freuen.“ In der Epistel wird uns das Wesen des neugeborenen Kindes vor Paulus vorgeführt. Es ist von einer doppelten Gestalt: „Dem Fleische nach aus dem Geschlechte Davids, dem Geiste nach kraftvoll erwiesen als Sohn Gottes.“ Und von Maria heißt es: „Was in ihrem Schoße geworden ist, das ist vom Heiligen Geiste.“
Weihnachten ist ein Fest von dreifacher Vitalität. Es ist erstens ein Fest der Familie, es ist zweitens ein Fest der Erinnerung, und es ist drittens ein Fest der Neugeburt. In deutschen Landen ist das Weihnachtsfest in besonders ergreifender Weise zum Fest der Familie ausgestaltet worden. Die Familienangehörigen, wenn immer sie noch Familiensinn bewahrt haben, drängen an diesem Tage in den Schoß der Familie, wollen daheim sein, wollen hier ausrasten, wollen sich gegenseitig ihre Liebe, ihre Treue, ihre Zugehörigkeit bezeugen. Viele Familien haben einen eigenen Ritus, eine eigene Liturgie entwickelt, die sie an diesem heiligen Abend üben, um sich in das Geheimnis der Weihnacht einzuführen. Der gehetzte Mensch, der Mensch der Bilanzen und der Arbeitsstunden, der gehetzte Mensch sucht und findet hoffentlich endlich einmal seine Ruhe im Schoß der Familie. Und der hart gewordene Mensch im Kampfe des Lebens, der hart gewordene Mensch wird weich, wenn die Weihnachtslieder an sein Ohr ertönen. Auch dem Menschen der Gottesferne, der den Glauben an das Geheimnis der Weihnacht verloren hat, auch einem solchen Menschen ringt sich irgendwo in einer Faser seiner Seele die Erinnerung los an selige Kindertage, und er hört die Glocken anders, als sie sonst klingen, zur heiligen Weihnachtszeit. Wahrhaftig, Weihnachten ist ein Fest der Familie und soll es bleiben; denn wir feiern ja das Fest einer heiligen Familie.
Freilich, nicht allen ist es vergönnt, in der Familie eine Weihnachtsidylle zu finden. Vor wenigen Tagen sprach ich mit einem Herrn, dem vor einem halben Jahr die Frau durchgegangen ist mit einem anderen Manne. Er hat sie angefleht, er hat sie gebeten, er hat sie ersucht: Komm doch zurück; wir wollen doch zusammen Weihnachten feiern! Es soll wieder werden wie früher. Ich mache dir keine Vorwürfe, nichts. Es soll so sein, wie es früher war vor zwanzig Jahren. Aber die Frau hat ihn nicht erhört. Sie bleibt auch zu Weihnachten im unzüchtigen Verhältnis bei ihrem Freund. Wahrhaftig, Weihnachten ist ein Fest der Familie und soll es sein, soll die Familien wieder zusammenführen. Da soll die Eifersucht und der Zank und der Streit endlich aufhören im Frieden der Weihnacht.
Weihnachten ist ein Fest der Erinnerung. Das ist eigentlich noch viel gewichtiger als das Fest der Familie. Wir erinnern uns an das Geschehnis, das da vor 2000 Jahren sich vollzogen hat: Gott ward ein Mensch. Wir haben eben im Evangelium gehört, daß das Wort, also die ewige Person Gottes, die zweite Person Gottes, ein Mensch geworden ist, Fleisch geworden ist. Mit aller Drastik sagt es der Evangelist Johannes. Und wir müssen uns durch den Schleier der Gewohnheit hindurchringen, um das Unbegreifliche, das Unfaßbare, das Unsagbare dieses Geheimnisses zu begreifen, daß der Unsichtbare sichtbar wird, daß Gott ein Mensch werden kann, daß er das bleiben will und auch geblieben ist, was er war, aber daß er das annahm, was er nicht hatte. Im Te Deum heißt es in ergreifender Weise: „Du hast vor dem Schoß der Jungfrau nicht zurückgeschreckt.“ Nein, wahrhaftig, er ist in den Schoß der Jungfrau herniedergestiegen; er hat die Niedrigkeit des Menschen mit der Majestät Gottes vereinigt. Und so mußte es sein. Die Kirchenväter werden nicht müde zu erklären, daß er weder als Gott allein noch als Mensch allein die Menschheit erlösen konnte. Er mußte sich in derselben Natur dem Satan entgegenwerfen, in der Satan den Menschen besiegt hatte, in der menschlichen Natur. Aber da die menschliche Ntaur nicht ausreichte, weil ihre Kraft zu gering war, um den Sieg über den Satan zu erringen, mußte er sich verbinden mit der göttlichen Natur. Papst Leo spricht es so aus, wenn er sagt: „Es konnte weder die Niedrigkeit des Menschen ohne die Majestät Gottes noch die Majestät Gottes ohne die Niedrigkeit des Menschen unser Geschlecht erlösen.“ Um die Schuld des Sündenzustandes zu tilgen, hat sich die unversehrbare Natur mit der leidensfähigen vereint, sind wahrer Gott und wahrer Mensch zur Einheit des Herrn verbunden. Er hat die menschliche Natur zu sich erhoben, die göttliche Natur aber ungeschmälert gelassen. Und das ist das Geheimnis der Weihnacht: Es liegt ein Kindlein in der Krippe, und derselbe ist die Himmelsspeise der Engel. Er trinkt an der Mutterbrust, und seine Hand trägt das Weltall. Er ist Gott und Mensch; er nahm an, was er nicht hatte, und blieb, was er war.
Weihnachten ist das Fest der Erinnerung an die Großtat Gottes. Ich begreife schwer, meine lieben Freunde, warum man mit anderen Religionen Dialoge führt, angebliche oder wirkliche Gemeinsamkeiten feststellt. Denn das Ereignis, das wir heute feiern, schlägt alle anderen Religionen heillos in die Flucht. Keine einzige Religion kann einen Stifter vorweisen, der vom Himmel herabgestiegen ist. Das Christentum ist die einzige absolute, allgemein gültige und endgültige Religion. Weihnachten ist darum ein Fest der Erinnerung, aber nicht nur der Erinnerung.
Es ist auch ein Fest der Neugeburt. Der Sinn der Weihnachtsbotschaft geht tiefer. Die Kirche legt uns die Ereignisse der Vergangenheit vor, nicht, damit wir nur an sie denken, sondern damit wir sie uns aneignen. Wir erinnern uns nicht nur an das Geschehen der Heiligen Nacht, um uns einer historischen Gedächtniskultur zu ergeben, nein, wir erinnern uns, damit, was an Weihnachten vor 2000 Jahren geschehen ist, sich in mystischer Weise in uns vollzieht. Es ist damit das gemeint, was der schlesische Dichter Scheffler in die Worte gefaßt hat: „Wär' Christus tausendmal in Bethlehem geboren, doch nicht in dir, du bliebst doch ewiglich verloren.“ Weihnachten muß eine Neugeburt in unseren Herzen sein. Der in Bethlehem Geborene will, mystisch gewiß, aber wirklich und real in unserer Seele wiedergeboren werden. Christus will in uns Gestalt annehmen.
Und da freilich tut sich eine große Bangnis auf, denn wird er auch Aufnahme finden in unseren Herzen? Peter Rossegger, der große Dichter, hat einmal einen Traum geschildert. Er hat den Weltenrichter auf dem Throne sitzen sehen, und vor ihm erschienen die Großen der Erde. Zuerst kam Moses, und er fragte ihn: „Was hast du deinem Volke gegeben?“ Moses antwortete: „Das Gesetz.“ „Und was hat es daraus gemacht?“ „Die Sünde.“ Dann trat Karl der Große vor den Weltenrichter, und er fragte ihn: „Was hast du deinem Volke gegeben?“ „Den Altar“, antwortete Karl der Große. „Und was hat es daraus gemacht?“ „Den Scheiterstoß.“ Dann kam Napoleon, und Gott fragte ihn: „Was hast du deinem Volke gegeben?“ „Den Ruhm.“ „Und was hat das Volk daraus gemacht?“ „Die Schmach.“ Ganz zum Schluß kam unser Herr Jesus Christus selbst vor den Thron des Weltenrichters. Und der Vater fragte ihn: „Was hast du dem Volke gegeben?“ Jesus antwortete: „Den Frieden.“ „Und was hat das Volk daraus gemacht?“ Da verhüllte der Herr mit den Händen sein Gesicht und fing an zu weinen.
Wahrhaftig, meine lieben Freunde, wie ein Bettler steht der Herr vor den Menschenseelen und begehrt Einlaß. Wer sehnt sich nicht nach Frieden? Alle Menschen sehen sich nach Frieden, und doch gehen sie friedlos. Sie gehen friedlos, weil sie nicht dir Vorbedingungen des Friedens erfüllen wollen, weil sie nicht zulassen wollen, daß Christus in ihnen geboren wird. Wenn Christus nicht in der Seele Gestalt annimmt, dann ist alles äußere Getue sinnlos und zwecklos. Das ist ja die Tragik des Volkes Israel gewesen, daß der Herr kam, um ihm den Frieden zu bringen, daß er in sein Eigentum kam, aber die Seinigen ihn nicht aufnahmen. Das Licht leuchtet in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht erkannt. Und dennoch, so düster der Prolog des Johannesevangeliums, den wir heute als Evangelium vorgetragen haben, so düster der Prolog des Johannesevangeliums ist, einige haben ihn doch aufgenommen. „Denen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“ Es ist also doch möglich, durch alle Dunkelheiten und Nächte dieser Welt hindurch das Licht zu erkennen und zu finden. Es ist also doch möglich, neu geboren zu werden an Weihnachten. Es ist also doch möglich, die Voraussetzung der Gotteskindschaft in uns zu schaffen.
Wir müssen uns in dieser Stunde die Frage stellen: Leuchtet das göttliche Licht in uns und leuchtet es um uns? Ist unser Leben, unser Handeln, unser Streben und unser Denken vom Licht der Weihnacht durchstrahlt? Ist unser Leben ein Zeugnis für die Neugeburt, die wir an Weihnachten erleben sollen und die wir erlebt haben? Diese Neugeburt muß unsere Tage prägen, muß unser Leben formen. Wir haben die Macht, Kinder Gottes zu werden, und wir sollen diese Macht benutzen. Wir sollen in dieser weihnachtlichen Stunde das Gotteslicht in unsere Seele lassen mit seiner Helle und mit seiner Wärme, das Gotteslicht, das uns leuchtet auf allen unseren Wegen und unseren Brüdern und Schwestern, die auf Irrwegen gehen, damit sich an uns das Lied vom Gottesfrieden erfülle, vom Gottesfrieden, der allen Menschen bestimmt ist, die guten Willens sind.
Amen.