25. Dezember 2000
Das Geschehnis der geweihten Nacht
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, in heiliger Weihnachtsfreude Versammelte!
Wenn in der Kirche der Satz gesprochen wird: „Und das Wort ist Fleisch geworden“, da kniet die ganze Gemeinde nieder, um den zu ehren, der auf Erden erschienen ist. Weihnachten ist das Fest einer geweihten Nacht. Die Weihe dieser Nacht geschah durch ein Geschehnis, nicht durch ein Märchen. Weihnachten werden nicht Geschichten erzählt, Weihnachten wird Geschichte gemacht. An Weihnachten ist etwas geschehen, etwas Unerhörtes, etwas Einmaliges, etwas noch nie Dagewesenes und etwas, was sich nie wiederholen wird. Gott ward ein Mensch. Für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist er vom Himmel herabgestiegen. Drei Fragen sind es, die wir an diesem festlichen Tage uns stellen wollen und die wir zu beantworten versuchen werden, nämlich
1. Was ist an Weihnachten geschehen?
2. Warum ist es geschehen?
3. Wie ist es geschehen?
Die erste Frage lautet: Was ist an Weihnachten geschehen? Darauf gibt das Credo der Kirche die Antwort: „Für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist er vom Himmel herabgestiegen und hat Fleisch angenommen und ist ein Mensch geworden.“ Gott ward ein Mensch. Er hörte nicht auf, Gott zu sein, aber er nahm an, was er noch nicht hatte. Er blieb, was er war, und er wurde, was er nicht war, nämlich ein Mensch. Nicht mehr, aber auch nicht weniger ist das Geheimnis der Weihenacht. Gott ward ein Mensch. Das ist etwas derart Unerhörtes, Unvergleichliches, nicht Überbietbares, daß wegen dieser Tatsache alle anderen Religionen, die wir achten, dahinter weit, weit zurückfallen. Keine Religion, keine einzige, kann beten wie die christliche Religion: Gott ward ein Mensch. Sie mögen träumen, und sie mögen sehnen, sie mögen hoffen, sie mögen erwarten, aber nicht eine von ihnen kann sagen: Er ist ein Mensch geworden; er ist vom Himmel herabgestiegen und hat Fleisch angenommen. Für uns und um unseres Heiles willen ist er ein Mensch geworden.
Über dieses Geheimnis kann man nur fassungslos staunen. Anton Bruckner, der große Symphoniker Österreichs, hatte in der Weihnachtsnacht in St. Florian die Orgel gespielt und war nach Beendigung der Christnacht nicht nach Hause gekommen. Man suchte ihn. Stundenlang hatte er ausgeharrt an der Krippe, und man fragte ihn: „Ja, Meister, was habt Ihr die ganze Nacht hier gemacht?“ Da gab Bruckner zur Antwort: „Ich habe immer nur vor mich hingesagt: Er ist ein Mensch geworden! Er ist ein Mensch geworden! Und da bin ich vor Staunen nicht mehr fertig geworden.“ Da kann man vor Staunen nicht mehr fertig werden, daß der Unsichtbare sichtbar wird, daß der Ewige in die Zeit eingeht, daß der Schöpfer des Universums die Gestalt eines Geschöpfes annimmt. Was ist an Weihnachten geschehen? Es ist der Einbruch Gottes in diese Welt. Es ist das Kommen des Heilands in seine Schöpfung. Es ist das Erscheinen der Wahrheit und der Gnade Gottes unter den Menschen.
Warum ist das geschehen? Gibt es darauf eine Antwort? O ja. Der heilige Thomas von Aquin gibt zehn Inkarnationsmotive an. Er weiß zehn Gründe zu nennen, weshalb Gott ein Mensch geworden ist. Ich will Ihnen drei von diesen Gründen vorführen. Erstens: Gott ist ein Mensch geworden, um alles in dem Gottmenschen Jesus Christus zusammenzufassen. Die Menschheit, die Schöpfung sollte ein Haupt gewinnen, und dieses Haupt ist jetzt da; es ist der menschgewordene Gottessohn, Christus, unser Herr. Dieses Inkarnationsmotiv kann sich auf den Brief des heiligen Apostels Paulus an die Epheser berufen. Dort heißt es nämlich: „Er hat uns vorherbestimmt, daß wir in ein Kindesverhältnis zu ihm treten sollten durch Jesus Christus nach seinem gnädigen Willensentschluß zum Preise seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadigt hat durch seinen geliebten Sohn. In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade, die überreich uns zuteil geworden ist in aller Weisheit und Erkenntnis; denn er hat uns das Geheimnis seines Willens kundgetan. So hat es ihm nämlich gefallen, und so hatte er es sich vorgenommen, um seinen Heilsplan zu verwirklichen in ihm in der Fülle der Zeiten. In Christus wollte er alles im Himmel und auf Erden wieder einheitlich zusammenfassen.“ Das ist der entscheidende Satz: In Christus wollte er alles im Himmel und auf Erden wieder einheitlich zusammenfassen. Die Menschen waren zerstreut, und sie waren in ein Durcheinander geraten, sie waren zersprengt, und sie waren uneinig. Aber sie sollten einig sein, weil sie nämlich alle Geschöpfe des ewigen Vaters sind. Und so hat sich Gott entschlossen, diese Vereinigung durchzuführen in Christus Jesus, unserem Herrn. In ihm wollte er alles einheitlich zusammenfassen. Dieser Plan ist von Ewigkeit vorherbestimmt, und jetzt, in der Zeit, ist er verwirklicht worden. Das ist der erste Grund, weshalb Gott ein Mensch geworden ist.
Der zweite Grund wird von den Kirchenvätern folgendermaßen beschrieben: „Gott wurde ein Mensch, damit wir Menschen Gott werden.“ Das klingt ja fast blasphemisch. Gott wurde ein Mensch, damit wir Menschen Gott werden, das heißt, damit wir Menschen vergöttlicht werden, damit wir Menschen an der göttlichen Natur Anteil bekommen. Das ist nämlich gemeint. Selbstverständlich ist es unmöglich, daß Menschen zu Gott werden. Aber was damit ausgedrückt werden soll, ist klar: Die Menschen sollten durch die Menschwerdung in die Gemeinschaft mit dem Gottessohn kommen. Christus sollte Brüder haben und Schwestern, unendlich viele Brüder und Schwestern; und das ist die Vergöttlichung, die hier gemeint ist. Durch die Aufnahme in die Gnadengemeinschaft mit ihm sollte die Menschheit vergöttlicht werden. Denn das ist ja die Gnade: Anteil an der göttlichen Natur. Das beten wir in jeder heiligen Messe. Wenn der Priester den Wein und das Wasser mischt, da fleht er darum, daß wir Anteil bekommen an der göttlichen Natur Christi, so wie er unsere Natur angenommen hat. Das ist also das zweite Inkarnationsmotiv: Wir sollten Anteil gewinnen an der göttlichen Natur Jesu Christi. „Ich und die Kinder, die mir der Vater gegeben hat.“ Er wollte nicht allein bleiben, auch wenn er der Einzige ist; er wollte nicht allein bleiben, sondern er wollte Gemeinschaft haben mit vielen Brüdern und Schwestern.
Das dritte Inkarnationsmotiv wird von allen Schriftstellern des Neuen Testamentes immer wieder genannt: „Er ist gekommen, um uns zu erlösen.“ Schon der Engel hatte ja gesagt: „Du sollst seinen Namen Jesus nennen, denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen.“ Und das hat dann der Lieblingsjünger Johannes in folgender Weise ausgedrückt: „Darin ist die Liebe Gottes zu uns offenbar geworden, daß Gott seinen eingeborenen Sohn auf die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Darin erweist sich die Liebe. Nicht wir haben Gott geliebt, sondern er hat uns geliebt und seinen Sohn gesandt als Sühneopfer für unsere Sünden.“ Als Sühneopfer für unsere Sünden! „Wir haben gesehen und bezeugen es, daß der Vater seinen Sohn schickte als Heiland der Welt.“ Das ist das dritte Inkarnationsmotiv: Christus ist erschienen, um die Macht der Sünde zu brechen, um die Sündenmacht zu überwinden, um die Bollwerke des Teufels, des Vaters der Sünde, zu zerstören. Er ist gekommen, um sein Volk zu erlösen.
Die dritte Frage lautet: Wie ist das geschehen? Es ist geschehen, indem aus der Jungfrau Maria der Sohn Gottes geboren wurde. Er nahm Fleisch an aus der Jungfrau Maria, und zwar durch Überschattung des Heiligen Geistes. Das, was aus ihr geboren wurde, ist vom Heiligen Geist entstanden. Ohne ein männliches, ohne ein irdisches Prinzip hat Maria einen Sohn empfangen. Das ist das große Geheimnis der geweihten Nacht: die geistgewirkte, jungfräuliche Geburt Mariens. So irdisch, so real ist diese Geburt, daß man das gar nicht überbieten könnte. „Er ist geboren aus der Frau, untertan geworden unter das Gesetz“, so sagt es mit aller Härte der Apostel Paulus im Galaterbrief. So irdisch, so konkret ist dieses Geschehen, daß es der Verdächtigung Raum gegeben hat. Es konnte mißverstanden werden, und es ist mißverstanden worden. Wir wissen seit dem 1. Jahrhundert, daß die Juden die Lüge aufgebracht haben, Maria sei schwanger geworden von einem römischen Soldaten. Maria konnte nur bezeugen, was ihr widerfahren war, nämlich daß der Engel ihr die Botschaft brachte und daß der Wille Gottes an ihr kraft ihres Ja-Wortes in Erfüllung ging. Aber an das, was Maria ihrem Bräutigam Josef und vielleicht auch anderen erzählt hat, daran kann man nur glauben. Einen Beweis dafür konnte auch Maria nicht liefern. Sie konnte nur sagen: Was in mir geschehen ist, das ist vom Heiligen Geiste.
Nun, meine lieben Freunde, meldet sich der ungläubige Theologe zu Wort. Er sagt: Die geistgewirkte jungfräuliche Geburt ist ein Theologumenon. Was heißt das? Die geistgewirkte jungfräuliche Geburt ist eine Schlußfolgerung, eine Überlegung, die Theologen angestellt haben aus einer primären Glaubenswahrheit, nämlich: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes. Und um dessen Überlegenheit über alle Propheten und alle sonstigen Söhne Gottes zu beweisen, hat man eine Rahmenhandlung geschaffen, hat man einen Bilderrahmen angefertigt, und das ist die geistgewirkte jungfräuliche Geburt Jesu. Ist eine solche Erklärung – die der Unglaube eingibt –, plausibel? Es sollte ja doch angeblich nach diesen Theologen die Geburt Jesu dadurch hervorgehoben werden für die Zeitgenossen. War das bei den Zeitgenossen Jesu möglich? Wir wissen: Es war nicht möglich. Es war keine Verstehensbrücke für die Zeitgenossen der Prediger der jungen Kirche. Im Gegenteil, sie nahmen an der geistgewirkten jungfräulichen Geburt Mariens Ärgernis. Aus dem Jahre 155 ist uns ein Dialog, ein Gespräch eines Christen, nämlich Justins, mit einem Juden namens Tryphon überliefert. In diesem Zwiegespräch sagt der Jude Tryphon: Ihr solltet euch schämen, so etwas zu behaupten, was ihr da den griechischen Mythen nachsprecht, wo eben Götter mit Menschen verkehren und dadurch Halbgötter zeugen. Der Jude Tryphon hat also die christliche Wahrheit als eine Ausformung der Mythen der Griechen verstanden, mißverstanden, absichtlich mißverstanden. Denn das ist eben gerade nicht der Fall, daß die Überschattung des Heiligen Geistes eine irgendwie geartete geschlechtliche Betätigung in sich schließt. Sie ist fern von jedem geschlechtlichen Geschehen zu denken. Sie ist ein Wunder über alle Wunder, für uns unerklärlich, nur im Glauben zu erfassen und nur im Glauben zu bejahen.
Die geistgewirkte jungfräuliche Empfängnis Jesu ist kein Theologumenon, sie ist ein Faktum. Und weil sie ein Faktum ist, deswegen hat die Kirche nicht aufgehört, dieses Faktum zu verkündigen. Es wäre ja viel leichter gewesen, dieses Faktum preiszugeben, um kein Ärgernis zu erregen. Nein, das Faktum, so anstößig es war, war für sie unumgänglich. Sie hat daran festgehalten, weil es eben eine Tatsache war und nicht ein Theologumenon, weil es Wirklichkeit war und nicht eine Erfindung, weil es nicht ein Gemächte von Theologen war, sondern ein Geschehnis, das Gott gewirkt hatte.
Jetzt wissen wir also, meine lieben Freunde, was in dieser geweihten Nacht geschehen ist. Gott ist ein Mensch geworden, einmal und unwiederholbar. Er ist es geworden, um alles in sich zusammenzufassen, um den Menschen Anteil an der göttlichen Natur zu geben, um uns zu erlösen von unseren Sünden. Und das ist geschehen aus Maria, der Jungfrau, durch die Macht des Heiligen Geistes, desselben Geistes, der über den Wassern schwebte und das Chaos am Anfang der Schöpfung gebändigt hat. Wenn wir jetzt das Credo, das Glaubensbekenntnis beten, wollen wir uns gläubig beugen vor diesem Geheimnis und mit Überzeugung und mit Glut und auch mit Dankbarkeit sprechen: Er ist vom Himmel herabgestiegen und ist ein Mensch geworden um unseres Heiles willen.
Amen.