Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Dezember 1999

Trost und Tragik der Menschwerdung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Er ist ein Mensch geworden. Das ist der wesentliche Inhalt des Weihnachtsfestes. In diesen Worten: „Er ist ein Mensch geworden“ liegt das Geheimnis der Geburt unseres Herrn und Heilandes beschlossen. Dieses Geheimnis hat eine doppelte Seite, eines Seite des Trostes und eine Seite der Tragik.

Die erste Seite der Menschwerdung unseres Heilandes ist Trost. Er ist ein Mensch geworden, das besagt: Er ist einer von uns geworden, er hat sich uns angeglichen. Er nahm an, was er nicht hatte, aber er blieb, was er war. Er ist ein Mensch geworden, das besagt, daß Gott in die Bedingtheit und Beschränktheit des Menschlichen hinabgestiegen ist. Er hat die Erfahrungen gesammelt, die ein Mensch in seinem Leben sammeln kann. Er kennt unsere Sehnsucht und unsere Schmerzen; er ist vertraut mit Hunger und Durst, mit Kälte und Hitze, mit Müdigkeit und Schlaf, mit Krankheit und Tod. Er hat wahrhaftig alles auf sich genommen, was einem Menschen widerfahren kann, die Sünde ausgenommen. Er hat Trauer und Schmerz im Herzen getragen, Verzagtheit und Jammer. Freilich war in ihm auch Freude und Mitleid, Dankbarkeit und Liebe. Er hat alles getragen, was ein Mensch auf Erden tragen kann. Das ist das Trostreiche der Weihnacht. Gott weiß jetzt gewissermaßen gleichsam aus Erfahrung, was es heißt, ein Mensch zu sein.

Gewiß, auch die Heiden haben ihre Götter vermenschlicht. Sie haben ihnen sogar die menschlichen Schwächen und Leidenschaften angedichtet, offenbar um ein Alibi für ihre eigenen Erbärmlichkeiten zu haben. Aber diese Götter waren eben erdichtete Gestalten. Der Gott, den wir anbeten an Weihnachten, ist ein wirklicher Gott, er ist der wirkliche Gott. Und dieser Gott ist ein Mensch geworden. Er hat trotz aller Erniedrigung in die Menschlichkeit hinein seine Macht und seine Kraft und seinen Willen bewahrt, die Menschheit zu retten; er kann es, und er will es. Er ist Mensch geworden, so sagen die Väter mit einem fast erschreckenden Worte, „damit wir Götter würden“. Gemeint ist natürlich: damit wir Anteil gewännen an der göttlichen Natur. Er ist herabgestiegen, damit wir hinaufsteigen können; er ist arm geworden, damit wir reich würden. Wahrhaftig, das ist der Trost des Wortes: Er ist ein Mensch geworden.

Aber diese Wahrheit hat auch ihre dunkle Seite, es ist auch eine Tragik darin. Wenn Gott Mensch wird, dann steigt er eben in die Schwäche und in die Bedingtheit und in die Begrenztheit des Menschlichen hinab, dann verhält er sich eben auch wie ein Mensch. Gewiß, Jesus hat die Wunderfähigkeit besessen, aber er hat niemals zu seinem eigenen Nutzen davon Gebrauch gemacht, sondern immer nur aus Erbarmen mit der gefallenen Menschheit. Er hat nicht auf die Seinen gehört, die ihm anrieten, er solle doch seine Wundermacht zeigen, damit die ganze Welt ihn in seinem Wesen erkennen würde. Er hat auch auf den Versucher nicht gehört, der ihm riet, ein Schauwunder zu wirken, damit die Menschen überwältigt würden von der Macht seines geheimen Wesens. Nein. Er ist nicht gekommen als der Heros, dem sich alles beugen muß; er ist nicht gekommen als das flammende Zeichen, das alles erhellt; er ist nicht gekommen als der Rächer, der endlich aufräumt; er ist nicht gekommen als der Wundertäter, der alles mit seiner Wundermacht niederwirft; er ist nicht gekommen als der unwiderstehliche Führer, dem alles sich beugen muß. Nein, er ist gekommen, wie eben ein Mensch auf Erden wandelt. Er ist gewandert und hat gepredigt, er hat geweint, und er hat getragen, er hat gemahnt und gewarnt, er hat gelitten und ist gestorben. Das war die Tragik dieses Lebens. Er hat nicht die Blitze vom Himmel gerufen, die man ihm ansann; er hat nicht das Feuer vom Himmel gerufen, als eine Stadt ihn nicht aufnahm; er hat auch nicht die Legionen von Engeln zu Hilfe gerufen, als er in der Not war. Er hat auf all das verzichtet, um das Menschenlos wahrhaftig bis zur Neige auszukosten.

Aber das ist noch nicht einmal die tiefste Tragik; denn er selbst war ja ein makelloser Mensch; niemand konnte ihn einer Sünde zeihen. Er war frei von dem, was die Menschen am meisten betrifft und bedrückt, nämlich der Schuld. Aber Christus, der auf Erden Erschienene, lebt ja fort. Die Menschwerdung war der Anfang seines Fortlebens in seiner Kirche. Er hat sich dem Menschlichen auch insofern noch ausgeliefert, daß er für die Fortführung, für die Entfaltung seines Werkes auf Menschen angewiesen ist. Das ist die tiefste Tragik seiner Menschwerdung: Gott braucht Menschen. Wir wissen, was das heißt, wenn man auf Menschen angewiesen ist. Da ist ja nicht nur die Bedingtheit und die Begrenztheit des Menschen, da ist auch die sittliche Schwäche des Menschen. Da ist seine Sündhaftigkeit, da ist seine Schuld. Auch diesen Wirklichkeiten hat sich Gott ausgeliefert, als er ein Mensch wurde. Er hat sein Werk Menschen anvertraut, und das heißt, daß er auch der menschlichen Erbärmlichkeit, der menschlichen Unzulänglichkeit sich ausgeliefert hat. Wir wissen aus der Geschichte, was es heißt, daß Gott sein Werk Menschen anvertraut hat. Wie viele sind durch die Menschlichkeiten in der Kirche schon an der Kirche irre geworden! Wie viele haben sich der Kirche nicht angeschlossen wegen dieser Menschlichkeiten, und wie viele der Besten leiden unter den Menschlichkeiten der Kirche, sind bekümmert bis ins Herz hinein, was sie an Allzu-Menschlichem in der Kirche erleben müssen. Auch das ist die Folge der Weihnacht.

Gott hat ohne Zweifel diese Entwicklung vorausgesehen, er ist nicht überrascht worden. Und wenn er es vorausgesehen hat, dann hat er es auch gewollt. Er hat trotzdem seine Menschwerdung verlängern lassen wollen in die Kirche hinein, obwohl er voraussah, was die Menschen machen würden aus dem, was er ihnen anvertraut hat, daß sie in die Versuchung der Macht, der Geltung, des Wettlaufs mit den Mächten dieser Erde verfallen könnten. Das hat er vorausgesehen, und er hat es trotzdem gewollt.

Diesem Entschluß, meine lieben Freunde, müssen auch wir uns beugen. Wir müssen das Wort: „Er ist ein Mensch geworden“ in seiner ganzen Ausweitung annehmen, so wie es Maria angenommen hat, so wie es der Täufer angenommen hat, so wie es die Apostel angenommen haben. „Selig, wer sich an mir nicht ärgert.“ Selig, wer sich an der Kirche nicht ärgert. Selig, wer sich an den Menschlichkeiten, an den Allzu-Menschlichkeiten der Kirche nicht ärgert. Sie ist und bleibt das Gefäß der göttlichen Gnade. Sie ist und bleibt das Gefäß der göttlichen Wahrheit. Alle Menschlichkeiten und Allzu-Menschlichkeiten können die Wahrheit nicht unterdrücken und können den Strom der Gnade nicht hindern.

So ist also die Menschwerdung unseres Heilandes eine Bewährungsprobe unseres Glaubens, daß wir nicht irre werden an dem Werk, das er Menschen anvertraut hat, daß wir die Bekümmerung über das Menschliche, Allzu-Menschliche nicht zum Anlaß werden lassen, uns von der Kirche zu distanzieren, daß wir festhalten an dem Wort: „Er ist ein Mensch geworden“ und an allen seinen Konsquenzen. Nur wenn wir diese Bewährungsprobe im Glauben bestimmen, haben wir ein Recht, zu singen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden.“

Amen.

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