25. Dezember 1995
Menschwerdung und Geburt Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, in heiliger Weihnachtsfreude Versammelte!
Manchem von Ihnen wird es schon so ergangen sein, daß er in seinem Rundfunkgerät einen bestimmten Sender suchte; und als er ihn gefunden hatte, stellte er fest, daß der Empfang schlecht war. Seine Sendung wurde überlagert von anderen Klängen oder Worten. Die Stimme, die man suchte, war nur schwach zu vernehmen, und enttäuscht stellte man das Rundfunkgerät wieder ab.
Dies ist ein Gleichnis. In der Advents- und Weihnachtszeit ist auch eine Stimme zu hören. Es ist die Stimme Gottes. Sie kündet von Dunkel und Leid des Menschen, von Schuld und Sünde der Menschheit, aber auch vom Erbarmen und von der Liebe Gottes, von der Güte und Menschenfreundlichkeit unseres Heilandes. Aber es gibt Menschen, die diese Stimme nicht vernehmen, weil sich laute Stimmen anderer Art vordrängen, diese Stimme überlagern und, wenn es geschehen kann, zum Schweigen zu bringen suchen. Das Weihnachtsfest ist ein religiöses Fest. An Weihnachten begehen wir die Menschwerdung und Geburt unseres Herrn und Heilands. Nicht nur die Geburt. Wenn Sie die Texte der drei heiligen Messen, die heute gefeiert werden, einmal sorgfältig durchschauen, dann können Sie feststellen, daß auch die Menschwerdung, also die Fleischwerdung im Schoße Mariens, Gegenstand des Weihnachtsfestes ist. In viel späterer Zeit hat die Kirche das Fest Mariä Verkündigung, das früher Christi Verkündigung hieß, eingeführt. Und das ist richtig gewesen, denn dieses Fest liegt genau neun Monate vor dem Weihnachtsfest. Es wird dadurch noch einmal das Weihnachtsgeheimnis in besonderer Weise im Hinblick auf Maria uns ins Gedächtnis gerufen. Aber die Einführung dieses Festes ändert nichts daran, daß das Weihnachtsfest viel älter ist und daß an Weihnachten nicht nur die Geburt unseres Herrn und Heilandes gefeiert wird, sondern auch seine Menschwerdung. Wer an Weihnachten etwas anderes sucht und begehrt als das Kommen unseres Heilandes auf dieser Erde zu begehen, der hat an Weihnachten vorbeigelebt.
Die Auswirkungen dieses Ereignisses im Verhältnis der Menschen zueinander sind berechtigt und erfreulich. Wenn Gott uns seinen Sohn schenkt, dann will er die Liebe zu den Brüdern und Schwestern in uns aufwecken. Und so hat das Schenken und Beschenktwerden an Weihnachten seinen vollkommen berechtigten Platz.
Die Freude der Weihnacht zeigt sich auch in festtäglichen Mählern und Aufführungen. Auch das ist berechtigt, denn die Freude sucht ihren Ausdruck, und sie soll auch in einem Festmahl und einem Konzert ihren Ausdruck finden. Aber noch einmal: Das alles sind lediglich Auswirkungen, Ausstrahlungen des Weihnachtsgeheimnisses. Sein Kern ist die Menschwerdung und Geburt unseres Gottes und Heilandes Jesus Christus.
Wenn Sie die Weihnachtspredigten unserer Bischöfe einmal näher ins Auge fassen, dann werden Sie feststellen, daß bei so mancher Predigt der Kernpunkt des Weihnachtsgeheimnisses nicht getroffen wird. Sie weichen auf Äußerlichkeiten und Auswirkungen aus, sie sprechen von politischen Forderungen und Ereignissen. Aber der eigentliche Kern, nämlich daß sich ein unbegreifliches Wunder ereignet hat, daß sich der Himmel geöffnet hat und Gott selbst auf diese Erde herniedergestiegen ist, das wird von manchen nicht in aller Klarheit und Deutlichkeit gesagt. Als das Bundesverfassungsgericht das Urteil über das Anbringen von Kreuzen erließ, da wies ein deutscher Bischof warnend darauf hin, daß, wenn der Glaube schwindet, auch die Marktwirtschaft in Gefahr sei. Das ist eine geradezu erschütternde Verknüpfung. Das Kreuz als Garant der Marktwirtschaft! Meine lieben Freunde, das ist Verkehrung der christlichen Botschaft. Das Christentum hat nicht eine bestimmte Form der Wirtschaft zu gewährleisten, sondern das Christentum hat den Menschen den Frieden Gottes zu bringen!
Das Geheimnis der Weihnacht ist das Kommen Gottes zu den Menschen. Der Unsichtbare wird sichtbar, der Ewige tritt in die Zeit ein, der Allmächtige wird schwach. Die zweite Person Gottes, die in der Fülle und Herrlichkeit der Gottheit steht, die die Welt geschaffen hat, wie wir soeben im Evangelium gehört haben, die zweite Person in der Gottheit nimmt eine menschliche Natur an. Eine menschliche Natur besteht aus Leib und Seele, und diese zweite Person der Gottheit nimmt diese menschliche Natur an aus der Jungfrau Maria. Sie war das Gefäß, das die irdische Hülle der göttlichen Person bereitet und geboren hat. Im Jahre 1950 machte ich mich mit ein paar Kartons und einem Fahrrad auf, um aus München in die Ostzone zu gehen, mit mir noch neun andere junge Männer. Wir gingen in die Ostzone, um dort dem Priestermangel abzuhelfen. Wir wußten, dort sind Menschen, die nach dem Priester verlangen, aber dort gibt es zu wenige Priester. Und so überschritten wir im April 1950 die Zonengrenze, bestaunt von den Menschen: Wie kann man aus dem Wirtschaftswunderland Westdeutschland in die Öde der Ostzone gehen, in die Diktatur des SED-Staates? Was uns trieb, war das Rufen der Menschen nach dem Priester, war ihr Verlangen nach den Sakramenten und nach dem Worte Gottes. Aber das war gar nichts gegenüber dem, was der in diesem Jahr seliggesprochene Damian Deveuster getan hat. Dieser kraftvolle, gesunde Bauernsohn aus dem Flamenlande ging im vorigen Jahrhundert auf die Insel der Aussätzigen, nach Molokai. Er wollte den Aussätzigen mit seinem Körper und mit seiner Seele dienen, als Priester und mit seiner Hände Arbeit. Er wußte, der Aussatz ist eine ansteckende Krankheit. Wer dahin geht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst aussätzig und kann nicht mehr zurückkehren. Das hat ihn nicht abgehalten, dahin zu gehen. Er hat dort gewirkt, jahrelang, bis ihn die furchtbare Krankheit erfaßt und ihn allmählich zu Tode gebracht hat. Das ist schon eher ein Sinnbild für das, was Gott an Weihnachten getan hat, nämlich da ist einer aus der Fülle und aus der Geborgenheit in das Elend und in die Not gegangen. Ähnlich-unähnlich ist unser Heiland Jesus Christus erschienen, hat seine göttliche Herrlichkeit nach außen abgelegt und die menschliche Begrenztheit und Armseligkeit angenommen. Er, der reich war, wurde arm; er, der mächtig war, wurde ohnmächtig; er, der glücklich war, wurde unglücklich, der letzte aller Menschen, ein Wurm, nicht ein Mensch. Wir möchten ihn nicht anschauen, heißt es von ihm in den Gottesknechtsliedern des Üropheten Isaias, denn es ist an ihm keine Schönheit und keine Gestalt.
Die zweite Wahrheit, die an Weihnachten ausgesprochen werden muß, ist der Sinn dieses Kommens. Warum ist er gekommen? Der Engel sagt es uns: „Du sollst seinen Namen Jesus nennen, denn er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden!“ Er ist gekommen, um die Sündenmacht zu brechen. Er ist gekommen, um den Menschen das Heil zu bringen. Er ist auf der Erde gewandert, ruhelos und rastlos, damit wir Erdenwanderer den Weg zum Himmel finden. Er hat sich müde gearbeitet, damit wir Kraft haben. Er hat das Kreuz bestiegen, damit wir über die Sünde siegen. Er ist auferstanden, damit wir die ewige Seligkeit erben. Er hat alles getan um unseretwillen. Es heißt immer nur: Pro nobis, pro nobis! Für uns, um unseres Heiles willen ist er vom Himmel herabgestiegen. Das war der Sinn seines Kommens. Jetzt ist der Weltarbeiter da, der das aufarbeiten muß, was die Menschen zugrundegerichtet haben. Jetzt ist der Weltkämpfer da, der eintritt in den furchtbaren Kampf zwischen Gut und Böse, der auf dieser Erde tobt. Jetzt ist der Heiland da, an den wir uns halten können, der Heilige, der Allheilige, der mit seinem Panzer der Heiligkeit den bösen Feind überwindet. Das ist der Sinn seines Kommens. Er ist gekommen, um uns den Himmel zu öffnen. Er ist gekommen, um uns von den Sünden zu erlösen. Er wollte ein Sühnopfer darbringen, die Schuld der Menschen begleichen, den Schuldschein an das Kreuz heften. Deswegen ist er gekommen! „Für uns Menschen“ – und jetzt kommt die Apposition im Glaubensbekenntnis – „und um unseres Heiles willen ist er vom Himmel herabgestiegen.“ Das „für uns Menschen“ wird erklärt durch die Worte „um unseres Heiles willen“. Das Heil ist die Fülle der Gaben, die Gott denen gibt, die seine Freunde geworden sind. Und dieses Heil hat uns Christus verdient und wendet er uns fortwährend zu.
Wenn es so um Weihnachten steht, meine lieben Freunde, dann muß das Kommen des Herrn und das Wirken des Herrn eine Antwort finden. Gottes Gaben sind immer so geartet, daß sie die menschliche Aktivität herausfordern. Was uns an Weihnachten auferlegt wird, das läßt sich in zwei Worten zusammenfassen: Freude und Dankbarkeit. Ja, wahrhaftig, die Freude ist uns Weihnachten geboten. Wir sollen uns freuen. Die Weihnachtslieder, die vielen freudigen Weihnachtslieder sind ein genuiner Ausdruck dessen, was Gott an Antwort auf sein Kommen von uns erwartet. Die Freude der Hirten, die aus den Evangelien schimmert, die Freude der Engel, die das Kommen des Erlösers bejubeln, setzt sich fort in unserer Freude. Wir haben jetzt den Emanuel, den Gott-mit-uns. Er ist zu uns gekommen, und er ist bei uns geblieben. Ich weiß, meine lieben Freunde, die Sorgen, Ängste und Nöte gehen auch an Weihnachten nicht von uns fort. Ich weiß, wir schauen mit Besorgnis in die Zukunft. Aber es gibt eben einen Freudenanker, den uns niemand entreißen kann, es gibt einen Grund der Freude, den kein irdisches Geschütz zerstören kann, und das ist das Kommen und das Bleiben unseres Heilandes. Daß er uns in seiner grenzenlosen Liebe aufgesucht hat, daß er hienieden erschienen ist und daß er in den Gestalten der heiligen Eucharistie bei uns bleibt, das ist ein Grund zu unaufhebbarer Freude. Diese Freude kann uns niemand geben, diese Freude kann uns aber auch niemand nehmen. Wir haben den Auftrag, uns zu freuen.
Wir müssen aber auch dankbar sein. Dankbarkeit ist die Anerkennung empfangener Wohltaten. Wenn Gott so viel für uns getan hat, dann wäre es schäbig, nichts für ihn zu tun. Wenn Gott so großmütig war, dann müssen auch wir großmütig sein. Wenn Gott so freigebig war, dann dürfen wir nicht knauserig sein. Die Dankbarkeit muß sich zeigen in der Treue zu Christus und seinem mystischen Leib, der Kirche. Treue dieser Kirche bezeigen, so sehr sie auch von ihren eigenen Kindern geschändet und bloßgestellt werden mag, Treue zu dieser heiligen Kirche. Es gibt keinen Ersatz, es gibt keine Alternative zu dieser Kirche. Wir dürfen nicht fortgehen von ihr, wir dürfen uns nicht distanzieren. Treue zu dieser Kirche. Es muß aber auch Güte in uns sein zu den Mitmenschen. Der Herr hat ja mit der Menschennatur in einem gewissen Sinne jeden Menschen angenommen. Es ist nicht falsch, zu sagen, daß durch die Menschwerdung die gesamte menschliche Natur und damit ein jeder Mensch in irgendeine Verbindung zu Jesus gekommen ist, wenn es auch noch nicht eine begnadete Verbindung ist. Weil aber Jesus sich in die menschliche Natur hinein entäußert hat, deswegen muß die Güte zu jedem Menschen in uns wohnen. Die Menschen, so garstig und so widerwärtig, so wenig liebenswürdig und so wenig liebenswert viele von ihnen sein mögen, die Menschen haben Anspruch auf unsere Geduld und Güte. Das Weihnachtsgeheimnis soll in uns den Entschluß erneuern, ihnen diese Geduld und Güte zu beweisen.
Dankbarkeit muß sich aber auch schließlich zeigen in unserem Leben. Unser Leben soll ein Loblied auf Gott sein. In unserem Leben sollen die Menschen erkennen: Das ist einer, der vom Weihnachtsgeheimnis geprägt ist; das ist einer, der aus der Menschwerdung lebt; das ist einer, der von der Gnade geführt wird. Unser Leben soll ein Zeugnis sein. Es soll Tugenden bezeugen, es soll heilige Gesinnungen und Haltungen bezeugen. Alles, was an Weihnachten geschehen ist, drängt uns zum Zeugnis für die Wahrheit Gottes und seines Heilands.
Der schlesische Dichter Angelus Silesius hat das ergreifende Wort geschrieben: „Wär' Christus tausendmal in Bethlehem geboren, doch nicht in dir, du bliebst doch ewiglich verloren.“ Er will damit sagen: Das Weihnachtsgeheimnis ist ein wunderbares, objektives Geschehnis. Aber es muß von dir angeeignet werden. Du mußt dieses Geheimnis dir zu Herzen nehmen. Du mußt aus der Kraft dieses Geheimnisses leben, wirken und leiden. Dann ist Christus wahrhaftig erneut in dir geboren, und dann ist wirklich das Heil auch zu dir gekommen.
Amen.