20. Dezember 1992
Geheimnis der Menschwerdung des Herrn
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Im Jahre 1956 war ich als Assistent an der Universität München tätig. Eines Tages mußte ich Aufsicht führen bei einer Doktorprüfung. Zu denen, die da ihre Arbeiten schrieben, gehörte auch eine junge Dame, die evangelische Theologie studiert hatte und nun im Kurzverfahren ohne volles Studium der katholischen Theologie zum Doktor der katholischen Theologie befördert werden sollte. Viele Jahr später entdeckte ich, daß diese Frau Professorin geworden war, Professorin an der Gesamthochschule Essen, wo sie Religionslehrer ausbildete, nicht Priester, aber Religionslehrer. Diese Frau heißt Uta Ranke-Heinemann. Sie ist in den letzten Jahren hervorgetreten durch kirchenkritische Bücher. So hat sie den Priesterstand verunglimpft mit dem Buche „Eunuchen für das Himmelreich“. In diesem Jahre ist ein neues Buch von ihr erschienen „Nein und Amen – Anleitung zum Glaubenszweifel“. Frau Uta Ranke-Heinemann hat nicht nur mit dem Glauben der katholischen Kirche gebrochen, sie ist auch gegen das Lehrgut der gesamten Christenheit vorgegangen. Man kann nicht mehr sagen, sie sei eine Christin. Mit einem Haß, der seinesgleichen sucht, geht sie gegen die heilige Religion an. Es gibt wohl wenige Gegenstände, die von ihrer Verhöhnung verschont bleiben. Dazu gehört auch das Geheimnis, das wir in wenigen Tagen feiern werden, nämlich das Geheimnis der Menschwerdung unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus. Sie nennt dieses Geheimnis eine infantilisierende Theologie, also eine Theologie, die kindisch ist, die sich selbst lächerlich macht. Und doch war ihr einmal der Auftrag übergeben worden, das Wort Gottes zu verkündigen in der Form der Lehre; und doch war sie einmal zur Verwalterin des Wortes Gottes bestellt worden.
Die Menschwerdung des Gottessohnes ist das Zentralgeheimnis des Christentums. Wenn Gott nicht Mensch geworden ist, dann sind wir die Gelackmeierten, dann ist unser Glaube nichtig und unsere Predigt leer. In der Heiligen Schrift, meine lieben Freunde, gibt es zwei Reihen von Aussagen über den Jesus von Nazareth. „Reißt diesen Tempel nieder, und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufbauen.“ Also, er kann sterben, aber er kann sich das Leben wieder geben. Die erste Reihe von Aussagen klingt an in dem Worte: „Reißt diesen Tempel nieder“ – also tötet ihn –, die zweite Reihe ist angedeutet in dem Worte: „Aber in drei Tagen werde ich ihn wieder aufbauen“, d.h. ich werde mir das Leben, das ihr mir genommen habt, wieder geben. Oder ein anderes Beispiel: „Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt“, sagen seine Gegner, „und willst Abraham gesehen haben,“ der vor Hunderten von Jahren gelebt hat. Es kann jeder nachprüfen, wie alt Jesus von Nazareth ist. Man kann ihn oder seine Angehörigen fragen, wann er geboren wurde. Aber dieser Auskunft zum Trotz schreibt er sich ein Alter zu, das über die Jahrhunderte hinwegreicht. Wieder eine doppelte Aussage von ein und demselben Wesen, das in der Zeit geboren wurde und doch in der Vorzeit schon lebte. Oder schließlich ein drittes Beispiel. Christus bittet den Vater: „Verherrliche mich mit der Herrlichkeit, die ich hatte, bevor die Welt war!“ Er bittet um Verherrlichung, er, der arme, demütige Menschensohn von Nazareth. Aber es soll die Herrlichkeit sein, die er schon einmal besessen hat, bevor die Welt entstand.
Diese Paradoxien, diese scheinbaren Widersprüche lösen sich nur, wenn man die kirchliche Lehre von der Menschwerdung des Sohnes Gottes ernstnimmt. Diese Lehre ist im Neuen Testament an verschiedenen Stellen deutlich ausgesprochen. In der dritten Weihnachtsmesse werden wir im Evangelium den Satz lesen: „Und das Wort ist Fleisch geworden“. Wer ist dieses Wort? Nun, das ist natürlich nicht das Wort, das wir sprechen, sondern das ist der Logos, und der Logos – das ist ein griechisches Wort – bedeutet soviel wie „die zweite Person in Gott“, „die zweite Person in der Dreifaltigkeit“. Die zweite Person in der Dreifaltigkeit ist Fleisch geworden. Warum Fleisch? Fleisch besagt die Vergänglichkeit, die Hilflosigkeit, die Nichtigkeit des Menschen. „Der Logos ist Fleisch geworden“ bedeutet also: Die zweite Person Gottes ist in die Sphäre des hinfälligen Menschen eingetreten. Nicht, als ob er aufgehört hätte, zu sein, was er war; Gott kann sich nicht ändern, Gott kann sich nicht verwandeln. Er bleibt, was er war, aber er nimmt an, was er noch nicht hat, die menschliche Natur. Es ist auch nicht so, wenn wir sagen: Er ist vom Himmel herabgestiegen, als ob er einen Ort verlassen hätte und einen unendlichen Raum durcheilt und einen anderen Ort aufgesucht hätte. Nein, so ist es nicht. Gott ist der Unendliche, der Unermeßliche, der jeden Raum schafft, erfüllt, trägt und birgt. Er ist überall gegenwärtig. Aber in der Menschwerdung hat er eine besondere Beziehung, eine einmalige Beziehung geschaffen zu einer menschlichen Natur, nämlich zu der aus der Jungfrau Maria gewordenen menschlichen Natur des Jesus von Nazareth.
Das ist also der Sinn des Satzes: „Und das Wort ist Fleisch geworden“. Ähnlich deutlich spricht es der Apostel Paulus aus: „Er war in Gottesgestalt, aber er hielt sein Gottgleichsein nicht wie einen Raub fest, sondern er entäußerte sich, ward im Äußeren erfunden wie ein Mensch, nahm Knechtsgestalt an und wurde gehorsam, gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze.“ Da ist dieselbe Aussage gemacht. Der Menschensohn, der Gottessohn, hat eine Vorexistenz. Bevor er auf Erden war, existiert er schon, und zwar in göttlicher Gestalt, in einer göttlichen Seinsweise. Und er legt sie auch nicht ab. Er verwandelt sich nicht, aber er verbirgt sie, er verhüllt sie in einer menschlichen Gestalt. Er nimmt Knechtsgestalt an. Da haben wir das katholische Dogma von den zwei Naturen in geradezu hervorragender Weise vorgebildet: Gottesgestalt – Menschengestalt. Beide sind Jesus von Nazareth eigen. Und so erklärt sich die Definition, die das Konzil von Ephesus und danach auch das Konzil von Chalcedon gelehrt haben, nämlich: „Der eine Christus existiert in zwei Naturen.“ Er hat eine doppelte Natur, eine menschliche und eine göttliche. Aber der Träger dieser beiden Naturen ist einer, es ist der vom Himmel herabgestiegene Logos.
Was besagt „Natur“? Natur ist das, was einem Ding seine Bestimmtheit, sein Sosein, sein Charakteristikum gibt. Natur ist das, was den Menschen zum Menschen macht, also Körper, freier Wille, Geist. Natur ist das, was ein Tier zu einem Tier macht. Die Natur ist der Wurzelgrund von Kräften, und diese Kräfte entfalten sich in Tätigkeiten. Mit dem Auge sieht man, mit dem Ohr hört man, mit der Hand greift man, mit den Füßen geht man. Aber man kann nicht eigentlich sagen, das Auge sieht, sondern ich sehe mit dem Auge, ich höre mit dem Ohr. Das Ohr allein ohne den Selbststand, der diese Kräfte trägt, ist nicht fähig, etwas aufzunehmen. Es muß ein Verstehen dabei sein. Und dieses Verstehen und Aufnehmen wird geleistet durch das Ich. Und dieses Ich, das die Natur besitzt, das über die Natur verfügt, dieses Ich nennt man Person. Die Person ist das die Natur durchdringende, gestaltende und besitzende Sein. Die Person ist das in geistiger Selbstbehauptung und freier Selbstbestimmung sich besitzende Sein. Die Natur steht in der Verfügungsgewalt der Person. Die Person verfügt über die Natur.
Und ebenso ist es bei dem Gottessohn, der in Menschengestalt auftrat. Seine menschliche Natur – das ist ein einzigartiger Fall, der wiederholt sich nie mehr irgendwo in der Welt – hat keinen Stand in sich selber, sondern sie hat ihren Stand im Logos, in der zweiten Person Gottes. Die menschliche Natur Christi hat keine eigene Daseinskraft, sondern ihre Daseinskraft ist der Logos, Christus, der vom Himmel herabgestiegen ist. Der Logos hat sich die menschliche Natur mit einer solchen Mächtigkeit angeeignet, daß diese menschliche Natur keinen Selbststand hat. Das Selbst dieser menschlichen Natur ist der Logos. Das Ich dieser menschlichen Natur ist der Logos. Das ist der Sinn der Menschwerdung, die wir in wenigen Tagen feiern werden. Und weil das so ist, weil also das Ich des Logos die menschliche und die göttliche Natur besitzt – er besitzt zwei Naturen –, deswegen können wir auch vom Logos die menschlichen Tätigkeiten aussagen. Wir können sagen, der Logos wird müde, der Logos ißt und trinkt, der Logos hängt am Kreuze, denn er ist es tatsächlich, der in dieser menschlichen Natur alle diese Tätigkeiten vollbracht und die Leiden auf sich genommen hat. Er hat das menschliche Schicksal mit der menschlichen Natur auf sich genommen. Wir können deswegen auch sagen: Der Logos ist von der Jungfrau Maria geboren worden, und Maria ist eben tatsächlich Gottesgebärerin. Sie hat nicht nur eine menschliche Natur, sondern sie hat in der menschlichen Natur den Logos zur Welt gebracht, der sich diese menschliche Natur angeeignet hat.
Das ist also das große, freilich von uns nur in Annäherung begreiflich zu machende Geheimnis der Menschwerdung. Wer vor diesem Geheimnis nicht stille wird und anbetend niederfällt, dem ist es niemals aufgegangen. Die Kirche hat um das Verständnis dieses Geheimnisses jahrhundertelang gerungen, und sie hat dieses Geheimnis in Begriffe gefaßt, eben Natur und Person. Das Wort für Person im Griechischen heißt hypostasis, und deswegen spricht man auch von der hypostatischen Union, also von der Vereinigung zweier Naturen in der einen Person. Diese Wahrheit hat die Kirche immer verteidigt, in besonderer Weise auf dem Konzil von Konstantinopel im Jahre 553. Da hat die Kirche in Sätzen, in Lehrsätzen, dieses Geheimnis noch einmal zusammengefaßt, und wir dürfen uns vor der Anstrengung des Begriffes nicht scheuen, wenn wir diesem Geheimnis in etwa Verständnis abgewinnen wollen. Auf dieser Kirchenversammlung in Konstantinopel im Jahre 553 wurden folgende Sätze formuliert: „Wer nicht zwei Geburten des Wortes Gottes bekennt, die eine von Ewigkeit aus dem Vater, zeitlos und körperlos, die andere in den letzten Tagen, da er herabkam aus den Himmeln und Fleisch geworden ist aus der heiligen und glorreichen Gottesgebärerin und immerwährenden Jungfrau Maria und aus ihr geboren wurde, der sei ausgeschlossen. Wer sagt, ein anderer sei das Wort Gottes, das gelitten hat, oder wer sagt, das göttliche Wort sei mit dem aus dem Weibe geborenen Christus nur zusammengewesen oder in ihm gewesen, wie einer in einem anderen ist, und es sei nicht ein und derselbe, unser Herr Jesus Christus, das Wort Gottes, welches Fleisch und Mensch geworden, und die Wunden und die Leiden, die er freiwillig im Fleische erduldete, gehörten nicht demselben an, der sei ausgeschlossen. Wer sagt, die Einigung des Wortes Gottes mit dem Menschen bestände nur der Gnade nach, wie in anderen Menschen, oder nur wirkend oder durch die Gleichheit der Ehre und der Machtvollkommenheit, kurz aus Wohlwollen, indem gleichsam dem Wort Gottes dieser Mensch gefiel, der sei ausgeschlossen.“ Aus diesen Sätzen, die ich Ihnen eben vorgetragen habe, mögen Sie ersehen, meine lieben Freunde, wieviel an der kirchlichen, echten Terminologie für die Menschwerdung Christi hängt. Man kann sich nicht flüchten in irgendwelche dunklen Aussagen, die das Geheimnis nicht treffen. Wir müssen bei dem bleiben, was der Heilige Geist in seiner Kirche durch jahrhundertelanges Nachdenken hat an Wahrheit offenbar werden lassen.
Uns bleibt noch übrig, uns dieser ungeheuren Wahrheit zu beugen, daß Gott ein Mensch geworden ist, daß Gott Fleisch angenommen hat, daß er die Knechtsgestalt über sich gebreitet hat, um uns von allen Sünden zu erlösen und den Weg zum Himmel zu bahnen.
Amen.