Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Dezember 1991

Er entäußerte sich selbst

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In der griechischen Mythologie ist die Rede von Tantalus. Er war ein Sohn des Zeus und König von Phrygien. Die Götter verkehrten mit ihm, weil er ja ein Göttersohn war. Eines Tages beschloß er, die Götter auf die Probe zu stellen. Er schlachtete seinen Sohn und setzte ihn den Göttern zur Speise vor, um ihre Allwissenheit zu erproben. Als die Götter dieser Untat gewahr wurden, verbannten sie ihn in die Unterwelt, und dort muß er nun Tantalusqualen leiden. Wenn er trinken will, weicht das Wasser vor ihm zurück. Wenn er nach den Früchten greift, ziehen sich die Früchte von ihm zurück. In diesem Mythos ist die Rede von Göttern, die auf die Erde kommen. Dieser Mythos ist von den Griechen, die ihn überliefert haben, niemals als ein geschichtliches Geschehnis verstanden worden, sondern als eine Erzählung, die etwas Unsagbares auszudrücken versucht.

Aber was der Mythos ahnte, wovon er in dumpfer Weise träumte, das hat sich ereignet in Christus Jesus. Hier ist wahrhaftig Gott im hellen Lichte der Geschichte in die Menschheit eingetreten und ein Mensch geworden. Dreimal an jedem Tage erinnern wir uns dieses Ereignisses, wenn wir den Engel des Herrn beten. In dem Augenblick, als Maria sprach: „Mir geschehe nach deinem Worte“, da ist das Wunder aller Wunder geschehen, da hat Gott im Schoße der allerseligsten Jungfrau den Logos Mensch werden lassen. Nur eine göttliche Person ist Mensch geworden, und zwar die zweite göttliche Person. Nicht die Gottheit ist Mensch geworden, sondern die zweite Person in der Gottheit. Diese zweite Person in der Gottheit ist durch ein unermeßliches Wunder der Allmacht Gottes mit einer menschlichen Natur, mit einem menschlichen Leib und einer menschlichen Seele, verbunden worden. In Christus ist nur eine Person, nicht zwei Personen. Es ist nicht so, wie der Patriarch Nestorius von Konstantinopel meinte, daß Gott im Menschen Jesus wie in einem Tempel gewohnt hat. Dann wären ja zwei Personen in Christus, eine menschliche und eine göttliche. Nein, es ist nur eine Person in Christus, die sich zwei Naturen, zwei Wesenheiten, angeeignet hat, eine göttliche Wesenheit und eine menschliche. Aber das Aktzentrum, das Ich in Christus, das ist nur eines, nämlich jenes des Sohnes Gottes. Weil aber dieser Sohn Gottes sich eine menschliche Natur angeeignet hat, deswegen ist Jesus auch seiner menschlichen Natur nach der Sohn Gottes.

Das Wunder, das geschah, als Gott ein Mensch wurde, als er Fleisch wurde, wie es Johannes drastisch sagt, dieses Wunder ist mit dem Dogma, mit dem Glaubenssatz der jungfräulichen Empfängnis Mariens verknüpft. Gegen diesen Glaubenssatz stößt der Unglaube heute wieder besonders vor. Ehemalige katholische Theologen wie Frau Ranke-Heinemann oder wie Eugen Drewermann gehen vor allem auch gegen dieses Dogma an. Sie befinden sich damit in der Gesellschaft protestantischer Theologen. Kurz vor Weihnachten kam der letzte Faszikel der theologischen Realenzyklopädie, die von protestantischer Seite herausgegeben wird. Und in diesem Faszikel findet sich auch das Stichwort Maria. Was wird dort als die protestantische Lehre über Maria vorgetragen? Die jungfräuliche Empfängnis ist nur eine Umschreibung der Einmaligkeit des Gottessohnes Jesus Christus. Also keine wirkliche jungfräuliche Empfängnis, kein biologisches Wunder, sondern nur eine Chiffre, eine Art Deutungsversuch, um Jesus als einen einmaligen Menschen zu beschreiben. Damit wird das Dogma im Kern zerstört. Und das ist die im Protestantismus herrschende Auffassung. Sie will auch in die katholische Kirche eindringen, wie die beiden erwähnten Persönlichkeiten zeigen. Aber das gläubige Volk wehrt sich. Es steht auf gegen die Aushöhlung des Glaubens. Der Bischof von Essen hat 5.000 Briefe von Gläubigen empfangen, die sich gegen die Falschlehre der Frau Ranke-Heinemann gewehrt haben. Da ist der Glaubenssinn des Volkes, da ist das Bewußtsein von der Würde Mariens aufgestanden gegen die Irrlehre.

Die jungfräuliche Geburt des Herrn ist aus dem katholischen Glauben, ist aus dem christlichen Glauben nicht fortzudenken, ohne daß man diesen Glauben zerstört. Denn die jungfräuliche Empfängnis zeigt einmal etwas von der Göttlichkeit Gottes, von seiner Allmacht, an. Das, was Menschen unwahrscheinlich, ja unmöglich dünkt, ist bei Gott möglich. „Bei Gott ist kein Ding unmöglich!“ Und eben das, was uns unmöglich dünkt, ist in der jungfräulichen Empfängnis Mariens geschehen. Gott hat, ohne daß ein männliches Prinzip dazwischentrat, im Schoße der Jungfrau und Gottesmutter seinen Sohn eine menschliche Natur annehmen lassen.

Er hat damit die Schöpfung erneuert. Am Anfang schuf er den ersten Adam, jetzt schafft er den zweiten Adam, den neuen Adam. Er ist der Schöpfer am Anbeginn gewesen, er ist auch der Schöpfer in der Fülle der Zeit gewesen, als er seinen Sohn „Fleisch annehmen ließ aus dem Weibe“, wie es bei Paulus heißt, und ihn unter das Gesetz tat.

Josef ist der Pflege- und Nährvater Jesu. Er ist nicht der biologische Vater Jesu, wie man heute hören kann. Um Maria und das Kind zu schützen, um ihnen in der Gesellschaft des jüdischen Volkes eine gesicherte Stellung zu geben, hat Gott Josef erwählt. Von ihm sagt die Schrift ein Wort: „Er war gerecht!“ Das heißt, er war ein Mann der Heiligkeit. Je näher man der Quelle ist, um so reiner ist das Wasser. Und ähnlich ist es bei Josef. Er war der Quelle der Heiligkeit nahe, und deswegen war er vor anderen heilig.

Jesus von Nazareth ist der menschgewordene Gottessohn. Man kann sich dieses Geheimnis zu verdeutlichen versuchen. Die Tatsache steht fest, aber ihre Erklärung ist schwer. So sagt der heilige Chrysostomus: „Ich weiß, daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, aber wie es geschehen ist, das weiß ich nicht.“ Dennoch kann man versuchen, Gleichnisse zu finden, um dieses unsagbare Geheimnis einigermaßen verständlich zu machen. Im Menschen sind ja auch zwei Prinzipien vereinigt, nämlich der Leib und die Seele. Ähnlich-unähnlich sind in Christus Jesus eine göttliche und eine menschliche Natur verbunden. Ein Gedanke ist zunächst in meinem Geiste. Wenn ich diesen Gedanken formuliere, wird er zum Wort. Aber dadurch, daß ich in der Stimme das Wort ausspreche, hört dieser Gedanke nicht auf, mein Gedanke zu sein. Ähnlich ist es mit Christus, dem Gottessohn. Er hat den Himmel nicht verlassen, obwohl er auf Erden gegenwärtig wurde.

Wenn wir die Sonne sehen wollen, muß sie sich mit Wolken bedecken, sonst ist unser Auge unfähig, in die Sonne zu schauen. Ähnlich mußte der Herr sich selbst entäußern, als er ein Mensch wurde, damit er unter uns wandeln konnte. Die Theologen haben darüber nachgedacht, warum die Menschwerdung notwendig war. Hätte Gott nicht auch auf andere Weise die Menschen erlösen können? Zweifellos. Aber es gibt Gründe, welche für diese Weise der Erlösung sprechen. Durch die Sünde, durch die Empörung gegen Gott war Gott Unehre bereitet worden, war sein Name geschändet und gelästert worden auf Erden. Wer ist dieser Gott, so konnten die Menschen sagen, gegen den die Menschen scheinbar straflos ihre Hand erheben? Nun sollte die Ehre Gottes wiederhergestellt werden. Gott sollte wieder sichtbar werden als der, der die personale Liebe, die personale Gerechtigkeit, die personale Heiligkeit ist. Das geschah, indem er seinen eigenen Sohn sandte. Indem er seines eigenen Sohnes nicht schonte, zeigte er, daß er die personale Liebe, Gerechtigkeit und Heiligkeit ist. Denn aus diesem Sohne strömt ihm ein Gehorsam, eine Liebe, eine Treue, eine Hingabe entgegen, die alle Sünde und allen Haß und alle Lüge weit, weit überstrahlt. Jetzt ist ihm Ehre geworden, Ehre Gott in der Höhe durch diesen Sohn, der jetzt geboren wird und der sein Leben im Gehorsam gegen den Vater verzehren wird.

Der heilige Anselm von Canterbury hat die Notwendigkeit der Lösung in einer anderen Weise darzustellen versucht. Er ging aus von dem Gedanken der Wiedergutmachung. Durch die Sünde ist Gott beleidigt worden. Die Beleidigung einer unendlichen Person kann von einem endlichen Wesen nicht gutgemacht werden. Ein Mensch kann nicht eine Gott zu gefügte Beleidigung sühnen. Also mußte ein unendliches Wesen diese Beleidigung wiedergutmachen. Ein unendliches Wesen aber kann nicht leiden. Durch Leiden sollte die Beleidigung wiedergutgemacht werden. Also mußte der Logos eine menschliche Natur annehmen. Als Mensch allein konnte er nicht erlösen, als Gott allein konnte er nicht leiden; also mußte er ein Gottmensch sein, um sowohl leiden als auch erlösen zu können. Das ist die Erlösungslehre, die Anselm von Canterbury in seinem Buche „Cur deus homo?“ – Warum Gott ein Mensch wurde – darlegt.

Der Sohn Gottes hat bei seinem Kommen den Himmel nicht verlassen. Er hat seine Herrlichkeit nicht aufgegeben, er hat sie nur verborgen. Wenn Paulus im Philipperbrief schreibt: „Er entäußerte sich selbst und nahm die Knechtsgestalt an“, dann will er damit nicht bestreiten, daß die göttliche Würde auch dem in Nazareth aufwachsenden Jesus zu eigen war, sondern er will damit nur sagen: Die Herrlichkeit Gottes ist verborgen unter der menschlichen Gestalt, unter der Knechtsgestalt. Er hat eine Grenze überschritten, aber nicht eine räumliche Grenze, sondern die Grenze zwischen Geschöpf und Schöpfer. Er hat seine Majestät bewahrt. Er blieb, was er war, aber er nahm an, was er noch nicht hatte. Er hat die menschliche Natur angenommen. Und weil auch wir der menschlichen Natur teilhaftig sind, weil alle Menschen der menschlichen Natur teilhaftig sind, deswegen hat Christus in seiner Menschwerdung in gewissem Sinn die ganze Menschheit angenommen. Es ist tatsächlich die Menschwerdung schon der Beginn der Erlösung, allerdings der objektiven Erlösung, der die subjektive Erlösung des Einzelnen noch folgen muß. Aber es ist wirklich so, daß dadurch, daß Gott, die zweite Person in der Gottheit, eine menschliche Natur annahm, die menschliche Natur als solche erhoben und geheiligt worden ist. Der Potenz nach sind die Menschen durch die Menschwerdung schon erlöst.

In diesem Sinne spricht sich der heilige Papst Gregor in seiner Weihnachtspredigt aus. Er nimmt die Menschwerdung Christi zum Anlaß, seine Zuhörer zu ermahnen: „Christ, erkenne deine Würde! Du bist der göttlichen Natur teilhaftig geworden.“ Jetzt kommt die ethische Wendung: „Kehre nicht zu den alten Erbärmlichkeiten zurück und lebe nicht unter deiner Würde! Denk an das Haupt und den Leib, dem du als Glied angehörst! Bedenke, daß du der Macht der Finsternis entrissen und in das Licht und in das Reich Gottes aufgenommen bist! Unterwirf dich nicht wieder der Knechtschaft Satans, denn der Preis für deine Freiheit ist das Blut Christi.“

Amen.

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