26. Dezember 1989
Der Anspruch der Weihnachtsbotschaft
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, in weihnachtlicher Freude Versammelte!
Gestern haben wir erkannt, daß es Menschen, Christen, katholische Christen gibt, welche von der Weihnachtserzählung sprechen, die also einen Teil des Evangeliums als Legende ausgeben. Ja, es gibt solche, die von einem Weihnachtsmythos sprechen. Denn immer, so sagen sie, wenn vom Erscheinen Gottes auf Erden die Rede ist, dann ist das mythische Rede. Wir haben erkannt, daß damit aus gewaltigen Tatsachen eine harmlose Moralanweisung gemacht wird. Nun wollen aber diese Leute am Christentum festhalten. Sie wollen weiter Christen bleiben. Viele von ihnen leben ja aus dem Glauben, insofern sie ihr Gehalt von der Kirche beziehen; und das möchten sie nicht verspielen. So versuchen sie, das Weihnachtsfest in umgedeuteter Gestalt zu erhalten. Sie sagen, man müßte das Weihnachtsfest in „Fest der Mitmenschlichkeit“ umbenennen. Jesus hat eben – nach ihrer Meinung – uns eine neue Art des Füreinanders und des Miteinanders gelehrt, und so könnte man an Weihnachten die Mitmenschlichkeit zum Kernpunkt der Verkündigung erheben.
Es ist keine Frage, daß damit dem Weihnachtsfest das Herz herausgerissen wird. Denn es geht an Weihnachten nicht bloß um Verkündigung, es geht um Fakten. Nicht bloß Worte, nicht bloß Mahnungen, nicht bloß sittliche Forderungen sind an Weihnachten zu erheben, sondern es ist die unerhörte Tatsache zu verkünden, daß Gott auf diese Erde niedergestiegen ist, daß er Fleisch angenommen hat und ein Mensch geworden ist, daß er bei uns geblieben ist, daß er in menschlicher Gestalt auf dieser Erde gewandert ist, sich müde gegangen hat, ja, in menschlicher Gestalt das Kreuz bestiegen hat.
Von Mitmenschlichkeit, von Nächstenliebe haben auch andere gesprochen. Buddha spricht auch davon, daß man das, was Menschenantlitz trägt, lieben soll, und die Philosophen der Neuzeit, wie Immanuel Kant oder Hegel haben ebenfalls von der Liebe zu den Menschen geredet. Aber damit rücken sie nicht in eine Linie mit dem Jesus aus Nazareth. Er hat nicht nur von der Menschenliebe gekündet, er hat die Menschenliebe gelebt, er ist die eingefleischte Menschenliebe.
Weihnachten will uns mehr sagen, als die Forderung erneuern: Ihr Menschen, liebet einander! Auch diese Botschaft ist im Munde Jesu eine andere, als wenn Propheten oder Philosophen sie verkünden. Propheten sind Gottgesandte, sprechen im Auftrag Gottes. Aber ihre Botschaft wird weit überboten, wenn Gott seinen Sohn schickt. Das ist ja die wunderbare, erhebende Botschaft des Hebräerbriefes: „Oft und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern geredet durch die Propheten. Zuletzt aber sprach er zu uns durch seinen Sohn.“ Der Sohn ist mehr als die Propheten. Er ist der Abglanz des Vaters, das Ebenbild seines Wesens. Darum ist seine Verkündigung absolut verbindlich. Ihr kann sich niemand entziehen. Sie ist verpflichtend für alle Menschen und alle Zeiten, weil es der Sohn ist, der mit göttlicher Autorität spricht. Aber damit nicht genug; er fordert nicht nur die Menschenliebe, sondern er lebt sie. Er hat ja die Menschheit angenommen. Indem er eine Menschennatur annahm, hat er die Menschheit angenommen. Alle Menschen sind jetzt, jedenfalls der Kraft nach, virtuell und potentiell, zu Brüdern dieses einen Menschen Jesus von Nazareth geworden. Alle Menschen, die schon die natürliche Gottebenbildlichkeit von der Schöpfung an besitzen, können jetzt die übernatürliche Gottebenbildlichkeit erwerben durch die Gnade. Und das ist die Botschaft der Weihnacht, daß in diesem Kinde das Heil für alle Menschen liegt, nicht nur durch Hören auf seine Botschaft, sondern durch Empfangen seiner Gnade, dadurch, daß wir zu Blutsbrüdern mit diesem einen Jesus von Nazareth werden.
Das haben manchmal Menschen begriffen. Ich will Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, die sich tatsächlich in meiner schlesischen Heimat zugetragen hat. Es war in einem großen Kirchdorf in einer Zeit, wo die Menschen noch allgemein gläubig waren und auf strenge Sitte hielten. Es galt als eine böse Schande, wenn Menschen vor der Ehe zusammenkamen und unehelich ein Kind zeugten. Aber gerade das geschah in diesem Dorfe im Hause des Bürgermeisters, der den größten Hof im Dorfe besaß. Gertrud, so hieß die 18jährige Tochter, hatte sich mit dem Knecht, also mit dem Gehilfen des Hofherrn, vergangen, und spürte das wachsende Leben unter ihrem Herzen. Der Knecht kündigte, weil er keine Aussicht sah, die Tochter des Bürgermeisters jemals zu heiraten. Und es kam die Stunde, da Gertrud ihren Eltern gestehen mußte, was geschehen war. Die Mutter erstarrte zu einer Salzsäule. Der Vater tobte. Das Ergebnis der gemeinsamen Beratung war: Der Balg kommt uns nicht ins Haus! Als die Stunde der Tochter kam, wurde sie in die Kreisstadt gebracht. Dort brachte sie ihr Kind zur Welt in der Klinik, das Kind kam in ein städtisches Kinderheim. Und als sie wieder aus der Kreisstadt zurückkam, da verbreitete man das Gerücht, sie habe einen hauswirtschaftlichen Kursus gemacht. Das Mädchen, das Gertrud zur Welt gebracht hatte, war ein prächtiges Kind, gesund, es wuchs heran, und immer, wenn Gertrud in die Stadt kam, versuchte sie, einen Blick auf ihr Kind zu erhaschen. Aber die Oberin des Heimes war streng und gestattete nur kurz, daß sie das Kind besuchte. Nun ging das Kind schon ins zweite Lebensjahr. Da bekam Gertrud einen Brief von der Oberin, sie möge doch einmal – es war der Beginn des Advents – in die Stadt kommen wegen einer wichtigen Angelegenheit. Als Gertrud vor der Oberin stand, unterbreitete ihr die Frau Oberin, daß ein junges kinderloses Ehepaar das Kind adoptieren wolle. Es komme in gute Hände. Die in Aussicht genommenen Pflegeeltern seien von dem Kinde sehr angetan und würden ihm gute Eltern sein. Da schrie die Gertrud auf: „Nein, nein. Das ist mein Kind, das muß mir bleiben, ich gebe es nicht her!“ Als sie aus dem Hause des Kinderheimes hinausging, da überfiel sie ein bitteres Weinen und Schluchzen, sie setzte sich auf eine Bank und ließ ihren Tränen vollen Lauf. Da kam eine andere Frau vorbei, die Fürsorgerin, eine robuste, aber kluge und besonnene Frau. Sie drang in das Mädchen, ihr zu sagen, warum sie weine, und sie eröffnete der Frau ihr ganzes Geschick. Die Fürsorgerin wußte Rat. „Sie werden von mir hören.“ Das Mädchen hörte zunächst einige Wochen nichts von der Fürsorgerin. Dann kam der 24. Dezember, der Heilige Abend. Am Morgen dieses Heiligen Abends kam die Fürsorgerin zu der Frau Bürgermeister und brachte ihr ein kleines Kind. „Nehmen Sie sich einmal dieses Kindes an, ich habe noch Besorgungen zu machen, und dann hole ich es wieder ab.“ Die Frau Bürgermeister versorgte das Kind, fütterte es, legte es auf weiche Kissen. Gertrud, die innerlich bebte, zog ihren Wintermantel an und ging in den eiskalten Morgen hinaus, um mit sich allein zu sein ob der Dinge, die jetzt kommen würden. Es verging Stunde um Stunde. Der Heilige Abend kam heran, die Sterne funkelten schon, es sind ja kurze Tage im Dezember. Endlich kam die Fürsorgerin zurück. Da sagte die Frau Bürgermeister zu ihr: „Wissen Sie, ich weiß gar nicht, wie mir wird. Ich möchte dieses Kind gar nicht mehr herausgeben. Es ist so lieb und mir schon ans Herz gewachsen.“ Da entgegnete ihr die Fürsorgerin: „Sie dürfen es behalten. Das Christkind ist zu Ihnen gekommen! Es ist das Kind Ihrer Tochter. Es ist Ihr Enkelkind.“ Da umfaßte die Frau Bürgermeister ihre Tochter und drückte sie an sich und sagte: „Verzeih mir, ich ahne, was du gelitten hast!“ Und der Bürgermeister küßte seine Tochter auf die Stirn: „Heute ist ja wirklich das Christkind zu uns gekommen,“ sagte er.
Meine lieben Freunde, diese Menschen haben begriffen, daß, weil Gott ein Kind geworden ist – weil Gott ein Kind geworden ist –, wir nun alle Kinder, ja alle Menschen so lieben müssen, wie man das Gotteskind lieben soll. Von der Krippe zu Bethlehem geht die Menschenliebe aus, und ohne die Krippe von Bethlehem ist die Menschenliebe nicht das, was sie sein soll, nämlich Liebe zu allem, was ähnlich dem Gotte ist, der Menschengestalt angenommen hat.
„Gott, das ist unerhört, schließt in Kindes Kleinheit sich ein. Ach, könnt' ich doch ein Kind mit diesem Kinde sein.“ So hat der schlesische Dichter Angelus Silesius einmal gedichtet. „Gott, das ist unerhört, schließt in Kindes Kleinheit sich ein. Ach, könnt' ich doch ein Kind mit diesem Kinde sein!“
Amen.