Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
15. Januar 1989

Ein Kind ist uns geboren

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf seinen Schultern ruht Weltherrschaft.“ So singen wir unermüdlich seit Weihnachten, und wir werden gar nicht fertig damit, dieses Jubellied aus dem Alten Testamente anzustimmen, das im Neuen seine Erfüllung fand. „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf seinen Schultern ruht Weltherrschaft.“

Immer wieder haben sich die erlauchtesten Geister der Kirche gefragt: Warum ist Gott ein Mensch, warum ist er ein Kind geworden? Die Antwort auf diese Frage gibt uns der Herr selbst. Er hat durch sein Sein, durch sein Leben und durch sein Reden eindeutig ausgesprochen, was es bedeutet, wenn wir jubelnd singen dürfen: „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf seinen Schultern ruht Weltherrschaft.“

Der erste Grund für sein Kommen als Kind ist darin gelegen: Er wollte das Kindsein, das Leben des Kindes adeln. Er wollte es erheben, er wollte es ehrwürdig machen. War denn das nötig? O ja, meine lieben Freunde. Wir sind genau unterrichtet durch Schriften, durch andere Monumente, wie die Lage des Kindes in der Zeit, als Jesus auf diese Erde kam, war. Das Kind wurde weithin als Spielzeug betrachtet, als ein schönes, lebendiges Spielzeug. Aber es wurde nicht in seinem Eigenwert gesehen. Die Frauen, die kleine Kinder haben wollten, gingen in Rom auf den Kindermarkt. Da wurden Kinder, Sklavenkinder natürlich, feilgeboten. Da konnten sie sich ein Kind kaufen, wie man sich einen Papagei erwirbt oder auch ein Schoßhündchen.

Die Stoiker, die teilweise eine hochstehende Ethik hatten, sahen einen Vollmenschen nur im erwachsenen Mann. Weder die Frau noch das Kind galten ihnen als voller Mensch, sondern nur der erwachsene Mann. Geringschätzig dachte man über das Kind wegen seiner Ohnmacht, seiner Unmündigkeit, seiner Hilflosigkeit. Das schlimmste aller Laster, die im Altertum herrschten, war die Kindesaussetzung. Wenn ein Kind unerwünscht war oder wenn es gar mit Schäden behaftet auf die Welt gekommen war, dann setzte man es aus. Entweder ging es elend zugrunde, oder irgend jemand erbarmte sich seiner und nahm es an. In jedem Falle war man es los. Kindesaussetzung war auch üblich bei unseren Vorfahren, den alten Germanen; sie kannten sogar die Kindestötung.

In diese Welt der Geringschätzung des Kindes kam unser Herr und Heiland, wurde er ein Kind. „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf seinen Schultern ruht Weltherrschaft.“ Dieses Kind zeigt den Wert des Kindes. An diesem Kinde kann man ablesen, wie heilig, wie kostbar, wie wertvoll ein Kind ist. Mag es immerhin unmündig sein, mag sich sein Körper, mag sich sein Geist auch entwickeln, das Kind ist eine Angelegenheit unendlichen Wertes. Es trägt eine unsterbliche Seele in sich, es ist das Ebenbild des Krippenkindes, des Christuskindes, und deswegen hat das Kind einen unermeßlichen Wert. Christus hat das Kindsein geadelt, nicht so sehr durch Worte, als durch sein Erscheinen als Kind. Seitdem das Krippenkind unter uns ist, weiß jedermann, der es wissen will, was es ein Geheimnis und eine Würde um das Kind ist.

Das war der erste Zweck seines Kommens: Er wollte das Kindsein adeln. Er wollte das Kindsein von der Geringschätzung befreien.

Die zweite Absicht war darin gelegen: Er wollte die Kinder und ihr Leben heiligen und ihnen als Vorbild dienen. In der Taufe wird in das Kind die heiligmachende Gnade eingesenkt. Die heiligmachende Gnade ist wie ein kostbares Pfand in der Seele, wie ein wunderbarer Keim. Aber dieser Keim muß wachsen, und er muß wachsen auch durch eigenes Bemühen, durch eigene Anstrengung des Kindes. Das Kind braucht dazu ein Vorbild, und es gibt kein besseres Vorbild als das Krippenkind. Seitdem Jesus, unser Erlöser, ein Kind war, ein Junge war, seitdem weiß jedes Kind in jeder Lage, wie es sich verhalten muß. Denn es braucht nur zu fragen: Was würde Jesus an meiner Stelle tun?

Das Krippenkind, der Jungfrauensohn, ist das Vorbild für jedes Kind. Es wurde einmal ein Knabe aus königlichem Geschlecht an einen fremden Königshof gesandt, damit er dort erzogen würde. Der Knabe hatte aber keine rechte Lust, dahin zu gehen, er fürchtete, daß er sich nicht recht benehmen könnte, daß er auffallen könnte. Da sagte ihm seine Mutter: „Wenn du an den Königshof kommst und der König ordnet etwas an, dann schaue nur auf den Königssohn! Und wie es der Königssohn macht, so machst du es auch.“ So hat es der Knabe gehalten, und er wurde bei dem fremden König wohlgelitten.

Ähnlich ist es auch mit unseren Kindern. Wir brauchen ihnen nur das Jesuskind nahezubringen, wir brauchen sie nur zur Krippe zu führen und nach Nazareth, dann wissen die Kinder, wie sie sich verhalten müssen. Was würde Jesus an meiner Stelle tun?

„Er war ihnen untertan.“ Schon dieses eine Wort, was ist das eine Erziehungshilfe für unsere Kinder! Er war ihnen untertan. Wer denn? Der Sohn Gottes den Menschen. Er war ihnen untertan. Der heilige Bernhard in seinem frommen Überschwang hat einmal eine wunderbare Predigt gehalten und da führte er ungefähr aus in dieser Predigt: „Es heißt im Psalm, daß die Jungfrauen besonders erwählt sind, und in der Apokalypse, im letzten Buch des Neuen Testamentes, da wird davon gesagt, daß die Jungfrauen dem Lamme folgen, wohin es immer geht (das Lamm ist natürlich Christus). Ja, was soll ich sagen – so der heilige Bernhard –, wenn die Jungfrau sogar dem Lamm vorangeht, nämlich Maria Jesus, Maria als Mutter dem Jesusknaben? Was soll ich von der Jungfrau sagen, die dem Lamme sogar vorangeht?“ Ja wahrhaftig, und dieser Mutter war Jesus untertan. „Er nahm zu an Alter und Weisheit und Gnade vor Gott und den Menschen.“ Wenn wir das in der Erziehung einsetzen, wenn wir das unseren Kindern immer wieder unterbreiten, dann wissen die Kinder, daß sie ein Vorbild haben, schöner und glänzender, wie es auf Erden nicht sein kann. Das ist also der zweite Grund, warum er ein Kind werden wollte, damit er den Kindern als Vorbild dienen konnte, damit sie wüßten, wie sie sein sollen, um Gott zu gefallen.

Der dritte Grund liegt darin, daß er auch uns das Kindsein lehren wollte. Der Herr hat die Kinder geliebt. Er hat ihnen die Hände aufgelegt. Er hat zu den Jüngern, die sie wegjagen wollten, gesagt: „Lasset die Kinder zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich.“ Er hat selber als Kind die Tugenden eines Kindes bewiesen, und diese Tugenden hat er noch als Mann geübt. Es gibt Tugenden, meine lieben Freunde, die dem Kinde eigen sind, die man aber nie verlieren darf; die muß man auch als Erwachsener beweisen und in sich tragen. Welche Tugenden sind das? Nun, etwa die heilige Einfalt, daß man nichts Arges denkt von anderen, daß man arglos ist, nicht argwöhnisch. Daß man gehorsam ist, daß man Vertrauen beweisen kann, daß man nicht berechnend ist. Das Kind ist ja nicht berechnend, das gesunde, normale Kind ist nicht berechnend. Das Kind ist offen, das Kind ist nicht verschlossen und ist nicht doppelzüngig. Diese Tugenden des Kindes müssen wir beweisen. „Wenn ihr nicht werdet wie Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“ Was heißt denn das? Das heißt doch nichts anderes als: Ihr müßt die Tugenden, die dem Kinde zugeschrieben werden und die ihm, wenn es gesund heranwächst, eigen sind, euer ganzes Leben hindurch beweisen. „Wenn ihr nicht werdet wie Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“

Das Kind weiß sich in seiner Schwäche und Ohnmacht auf die Eltern angewiesen. Es nimmt dankbar alles entgegen. Es ist bereit, sich beschenken zu lassen, und es kann sich herzlich freuen an den Geschenken. Es ist dankbar. Ja, das sind die Tugenden des Kindes, die wir auch als Erwachsene beweisen müssen.

Ich weiß, meine lieben Freunde, daß manche dieser Tugenden im harten Kampf ums Dasein fast lästig sein können. Denn die Menschen, die eben diese Tugenden nicht haben, bedienen sich ihrer Untugenden, um die kindlichen Menschen hereinzulegen. Ja, das gibt es tatsächlich. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, eine wahre Geschichte: Im März 1933 verhandelte der Führer der katholischen Zentrumspartei, der Prälat Kaas aus Trier, mit einem Manne namens Adolf Hitler. In mehreren Gesprächen legten sie fest, die beiden Männer, unter welchen Bedingungen die katholische Zentrumspartei dem Ermächtigungsgesetz zustimmen könne. Von späteren Historikern ist der Prälat Kaas wegen dieser Verhandlungen aufs schärfste getadelt worden. Was hat man alles für Vorwürfe auf ihn gehäuft! Ich, der ich drei Bände über den Prälaten Kaas geschrieben habe, bin zu einem ganz anderen Urteil gekommen, nämlich: Kaas war ein Christ. Es war für ihn unvorstellbar, daß ein Mann in hoher staatlicher Position als Reichskanzler ihn derart belügen und betrügen konnte wie dieser Hitler. Es war für ihn unbegreiflich, daß man eine solche schauspielerische Miene annehmen konnte wie sein Gegenüber. Seine Kindlichkeit hat ihn gehindert, eine solche Bosheit überhaupt nur anzunehmen. Der Christ ist eben diesen Gestalten unterlegen. Das hängt mit der Wesensart des Christen zusammen. Da kann man ihnen keinen Vorwurf machen, das ist eben die Erfüllung des Wortes, das der Heiland sagt: „Die Kinder dieser Welt sind in ihrer Art klüger als die Kinder des Lichtes.“ Ja, das sind sie wahrhaftig.

Wir wollen uns deswegen nicht irre machen lassen an dem Ideal der Kindlichkeit, an der Empfänglichkeit für Gottes Gnade, an dem mangelnden Argwohn gegenüber den Menschen, nicht mißtrauisch und argwöhnisch einem jeden Menschen begegnen, sondern aufgeschlossen, vertrauensvoll, solange ein solches Vertrauen mit vernünftigen Gründen gestützt werden kann. Auf diese Weise erfüllen wir den Wunsch des Heilandes: „Wenn ihr nicht werdet wie Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“

Das also, meine lieben Freunde, ist der Sinn des Verses, den wir von Weihnachten her singen: „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf seinen Schultern ruht Weltherrschaft.“ Er wollte das Kindsein und das Kindesleben und das Kind adeln, er wollte dem Kinde als Vorbild dienen, und er wollte uns die Kindlichkeit lehren, damit wir in kindlichem Sinne unser Leben vollziehen und einmal die himmlische Herrlichkeit aus der Hand unseres Vaters im Himmel entgegennehmen können. Rufen wir oft: „Durch deine heilige Kindheit, erlöse uns, o Jesus!“

Amen.

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