25. Dezember 1986
Venite adoremus
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, zur Feier der Christgeburt Versammelte!
"Es waren da Hirten, die ihre Herde weideten." Es werden schätzungsweise drei, vier, fünf Mann gewesen sein. Die Herde waren vermutlich Schafe. In der Nacht gehen die Raubtiere auf Beute aus. So haben die Hirten ihre Herde in einen Pferch getrieben, den sie aus Dornen angefertigt haben. Sie selbst haben sich eine Hütte aus Zweigen gebaut. Da wachen sie, die heimatlosen Nomaden, bei ihrer Herde. Wegen ihrer unsteten Lebensweise, weil sie die Städte mieden, wegen ihres dauernden Umherziehens, waren die Hirten zu der Zeit, als Jesus geboren wurde, eine Menschenklasse, die man heute als Outsider bezeichnen würde, also Menschen, die man mied, denen man nicht traute, denen man Mißtrauen entgegenbrachte, von denen man sich fernhielt. Ihr ruheloses Umherschweifen, ihre – wie es schien – lichtscheue Art erfüllte die Menschen mit Verdacht gegen die ganze Menschenklasse der Hirten.
Aber Gott teilt das Urteil der Menschen nicht. Er sieht nicht die Oberfläche, er schaut in die Tiefe. Und er kannte das Herz dieser Hirten, er wußte, daß sie arme und rauhe, aber ehrliche, anständige, Gott liebende Männer waren, die ihre Blicke zu den Sternen und manches stille Gebet zum Lenker der Sterne emporsandten. So hat er diese Hirten erwählt, die ersten menschlichen Zeugen des Eintritts seines Sohnes in die Welt zu sein. Während sie bei ihrer Herde wachten, erstrahlte ein Licht vor diesen Männern. Licht ist immer Zeichen göttlicher Gegenwart. Wenn in der Heiligen Schrift von Lichterscheinungen die Rede ist, dann ist Gott am Werke, dann sendet er seine Boten oder dann spricht er selbst zu den Menschen. Gott ist Licht, und er wohnt in einem unzugänglichen Lichte, und manchmal bricht dieses Licht in diese irdische Welt ein.
So in jener Nacht, da die Hirten bei ihrer Herde wachten. Eine Lichterscheinung, eine Engelsstimme, eine Gegenwart himmlischer Heerscharen. Die Hirten sind entsetzt, erschreckt, zermalmt, betäubt; deswegen ergeht die Mahnung an sie: Fürchtet euch nicht! Das ist das Normale, daß der Mensch auf Gotteserscheinungen mit Furcht reagiert, denn Gott ist der absolute Herr, der Allgewaltige, der Schöpfer – und der Mensch ein Geschöpf. Und wenn er, der schuldbeladene Erdenpilger, in die Nähe Gottes gerät, dann muß er sich fürchten.
"Fürchtet euch nicht!" So sagt der Engelsbote. Ich komme nicht als Künder der Gerichte, ich komme als Bote der Freude. "Ich verkünde euch eine große Freude, die euch und allem Volke bereitet ist: Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr!"
Jedes dieser kostbaren Worte, meine lieben Freunde, ist inhaltsschwer. Heute! Heute ist euch der Heiland geboren. Also nicht ein immerwährendes Gezeugtwerden und Sterben wie in den Kulten von Isis und Osiris, nicht eine Nachahmung natürlicher Begebenheiten, sondern ein geschichtliches Ereignis wird verkündigt. Heute! Heute ist der Tag oder vielmehr die Nacht, auf die Generationen von Propheten und Sehern gewartet haben, jener Tag, den die Väter jahrhundertelang herbeigesehnt, auf den sie geharrt haben: Heute!
Und dieses "Heute" ist unvergänglich. Wenn es einmal geschehen ist, dann ist es für immer geschehen. So ist darauf zu achten, daß, wenn dieser Knabe, der heute geboren wird, einmal heranwächst, immer wieder von heute die Rede ist. Das "Heute" der heiligen Nacht weitet sich gleichsam aus. Wenn der zum Mann gewordene Jesus als ein müder Pilger in Jericho einzieht und den Zachäus auf dem Baume sitzen sieht, da wird er sagen: "Heute ist diesem Hause Heil widerfahren," dem Hause des Zachäus, in das er einkehren will. Heute! Und wenn er in der Synagoge zu Nazareth die Schriftrolle in die Hand nimmt und vorliest: "Dazu bin ich gesandt, Armen die Frohbotschaft zu künden, Gefangenen Befreiung, Blinden das Augenlicht, auszurufen ein Jahr des Herrn," wenn er das sagt, dann fügt er hinzu: "Heute ist diese Schrift in Erfüllung gegangen." Und wenn dieser Mann, der jetzt als ein Kindlein in der Krippe liegt, einmal am Kreuze hängen wird und die Sonne sich verfinstert, aber es Licht wird im Herzen eines armen Verbrechers, da wird er wieder sagen: "Heute noch! Heute noch wirst du bei mir im Paradiese sein!"
Wahrhaftig, was ist das für ein Tag, dieses Heute! Heute ist euch der Heiland geboren. Euch geringgeschätzten, euch verachteten, euch ausgestoßenen Hirten, euch ist er geboren!
Freilich sind sie nur die Repräsentanten, die Vertreter ihres Volkes und aller Völker, an die sich diese Botschaft richtet, aber sie sind die erwählten Repräsentanten, sie sind die von Gott ausgesuchten Vertreter. Euch ist heute der Heiland geboren, und ihr seid die ersten Zeugen dieser Geburt. Euch! Da klingt schon an der Grundakkord, der durch das ganze Leben dieses Mannes von Nazareth hallen wird. Pro vobis! Alles, was er tun und was er leiden wird – pro vobis – für euch! Für euch! Er ist nicht gekommen, sich selbst zu erlösen, sondern andere. Für euch! Er ist nicht gekommen, für sich selbst eine Strafe am Kreuze abzubüßen, sondern für euch – pro vobis. Pro vobis! So heißt es gleichsam durch das ganze Leben Jesu hindurch hallend: Für euch tut und leidet er alles, was er tut und leidet. Er ist ein Mensch für andere – er ist der Erlöser!
Euch ist heute in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. Das ist nun der Gipfel. Meine lieben Freunde, drei inhaltsschwere Bezeichnungen für den Neugeborenen: Heiland, Christus, Herr. Drei Titel, die nicht Menschen erfunden haben, sondern die Gott ihm auferlegt hat, die seine Wesensart bezeichnen. Das ist nicht Schall und Rauch, sondern das ist Ausdruck seiner Natur. Heiland, Christus, Herr. Heiland! Das ist das hebräische "Jeschua", griechisch "Soter". Heiland bedeutet, daß der gekommen ist, der das Heil bringt, der die Heilszeit eröffnet. Und er bringt das Heil, und er eröffnet die Heilszeit, weil er selber das Heil ist. Er ist der Heilige, der andere heiligen kann, deswegen ist er der Heiland. "Jeschua", "Soter".
Er ist der Christus! Christus ist ein griechisches Wort und heißt "der Gesalbte". Das entsprchende hebräische Wort heißt Maschiach oder, wie wir es gewohnt sind, zu sprechen: Messias. Messias und Christus ist dasselbe, das eine ist eben hebräisch bzw. aramäisch, das andere ist griechisch bzw. lateinisch. Er ist der Gesalbte! Ja, was bedeutet denn diese Salbung? Wir haben es eben aus der Stelle bei Isaias gehört: "Der Herr hat mich gesalbt." Er salbt ihn mit Heiligem Geiste. Er stattet ihn aus mit seinem Geiste. "Darum wird auch das Heilige, das aus dir geboren wird, Sohn Gottes genannt werden." Er ist der Messias, aber nicht so einer, wie die in politischen Kategorien denkenden Zeitgenossen Jesu meinten. Er ist der Messias Gottes, der Messiaskönig, der Gottkönig Messias.
Und er ist der Herr! In der hebräischen Bibel – im Alten Testament – wird der Gottesname immer Jahwe genannt. Das ist das, was die Sekte der Zeugen Jehovas zu "Jehova" gemacht hat. "Jahwe" ist die hebräische Bezeichnung für Gott. Aber in der griechischen Übersetzung dieser Bibel wird immer da, wo "Jahwe" steht, das griechische Wort Kyrios eingesetzt. Über sechstausend Mal haben die Septuaginta, die siebzig Übersetzer der hebräischen Bibel, an der Stelle, wo im Hebräischen "Jahwe" steht, Kyrios eingesetzt. Kyrios ist also im Alten Testament – im griechischen Alten Testament – Gottesname. Wenn jetzt dieser Gottesname von dem Knaben, der da im Futtertrog liegt, ausgesagt wird, dann ist ohne weiteres klar, daß Gott selber auf die Erde kommt, daß der Kyrios Mensch geworden ist. Also: Wenn dieser Neugeborene als "Herr" bezeichnet wird, dann deswegen, weil Weltherrschaft auf seinen Schultern liegt. "Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf seinen Schultern ruht die Weltherrschaft!"
Diese dreifache Bezeichnung des neugeborenen Knaben reißt den Hirten Horizonte auf, die für sie unfaßlich, unbegreiflich sind. Deswegen, um die Glaubwürdigkeit zu sichern, gibt ihnen Gott durch den Engel ein Zeichen, eine Beglaubigung, ein Gewißheitszeugnis. Und was ist das für ein Zeichen? "Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln gewickelt, das in einer Krippe liegt." "Ach je", hätten da manche, hätten die klugen und weisen Theologen der damaligen Zeit gesagt, "ach je, was ist das ein Zeichen? Das ist garnichts, das ist ganz unglaubwürdig, das ist ganz schleierhaft. Was ist das für ein kümmerliches Zeichen?" Denn sie erwarteten das Auftreten des Messias in ganz anderer Weise. Sie nahmen an, der Messias würde, wenn er kommt, auf einem weißen Roß an der Spitze einer Armee sieghaft in Jerusalem einziehen, das "Schwein", so bezeichnete man die Römer, aus dem Lande fegen und das davidische Königtum erneuern.
Nein, Gott macht die Gedanken der Menschen zunichte. "Das wird euch zum Zeichen sein: Ihr werdet ein Kindlein finden, das in einer Krippe liegt und in Windeln gehüllt ist." Jetzt beginnt die Bewährung dieser Männer auf den Halden von Bethlehem. Sie trauen dem Engel, sie glauben. "Laßt uns hingehen und sehen, was geschehen ist und was der Herr uns kundgetan hat!" Sie glauben der Erscheinung. "Laßt uns hingehen!" Das ist der Ausdruck des Glaubens. "Laßt uns hingehen!" Das ist der Appell der Zuversicht. "Laßt uns hingehen!" Das ist die demütige Unterwerfung unter Gottes Botschaft. Laßt uns hingehen! Transeamus! Wir wollen hingehen und sehen, was Gott uns bereitet hat.
Und so machen sie sich auf, lassen ihr ganzes Eigentum im Stich, ihre Herde, schutzlos ausgeliefert dem Wolf. Sie eilen, sie laufen zu diesem Stall, zu dieser Höhle. Und siehe da, sie finden, was sie suchen. Sie finden ein Kind, das in einem Futtertrog der Tiere liegt. Sie finden Maria und Josef. Und noch einmal zeigt sich ihre Größe: Sie fallen nieder, und sie beten an! Sie glauben, und sie ziehen die Folgerung aus ihrem Glauben. Wenn Gott auf Erden erscheint, dann muß man von der stehenden Haltung ablassen, da muß man niederfallen und anbeten.
Und sie schweigen nicht von dem, was sie erfahren haben. Sie künden es, ihre Erscheinung, ihre Erfahrung, ihre Überzeugung. Und es verbreitet sich die Kunde davon in der ganzen Gegend: "Heute ist euch der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr!" Das ist der Ruf, der weitergeht. Das ist der Ruf, der auch in die Ohren der Gegenwart klingt: "Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr!"
An uns ist es, meine lieben Freunde, diesen Ruf aufzunehmen, ihn aufzunehmen wie die Hirten und zu sagen: Kommt, laßt uns hingehen, laßt uns ihn anbeten und verehren! Laßt uns ihm danken, daß er gekommen ist, der Weltkämpfer, der Weltarbeiter, daß er eingetreten ist in seine Arena, in seine Kampfstätte, und daß er jetzt seinen Weg gehen wird pro nobis! Pro nobis – immer nur für uns, bis er alles vollendet hat, dieser Erlöser, dieser Heiland der Welt.
Amen.