Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Mai 2022

Die Klugheit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Es ist ein verräterisches Zeichen unserer Zeit, dass man nicht mehr von Tugenden spricht. Das Wort und vielleicht auch die darin ausgedrückte Sache ist aus der Gesellschaft verschwunden. Und doch ist die Tugend eine fundamentale Angelegenheit. Nach Augustinus ist die Tugend eine gute, dauernde Beschaffenheit, die zum Guten geneigt macht. Die Tugenden werden unterschieden in natürliche und übernatürliche. Die natürliche Tugend ist eine dauernde Geneigtheit und Fertigkeit des Willens zum sittlich Guten. Sie wird durch Übung, d.h. durch wiederholte gute Handlungen erworben. Die übernatürlichen Tugenden stammen ihrem Ursprung nach nicht aus menschlicher Fähigkeit (Gewöhnung, Übung), sondern aus unmittelbarer Einwirkung des Heiligen Geistes. Sie sind dem Range nach nicht natürliche Kräfte und Gesinnungen, sondern der heiligmachenden Gnade verwandte Gaben. Nicht alle Tugenden haben die gleiche Wertigkeit, nicht der Erwerb aller ist von gleicher Dringlichkeit. Die Menschheit hat immer gewusst, dass der Besitz bestimmter Tugenden von besonderer Notwendigkeit ist. So hat sie aus der Fülle der Tugenden einige ausgesondert und zu Kardinaltugenden erhöht. Die Kardinaltugenden sind Haupttugenden. Sie stehen den mit ihnen zusammenhängenden Tugenden voran. Sie ordnen die Haupttätigkeiten der Seele. Sie regeln die Grundverhältnisse des Lebens. Sie bilden Voraussetzung und Angelpunkt für die anderen Tugenden. Es sind ihrer vier: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit. Wir wollen an diesem und den folgenden Sonntagen über die Haupttugenden nachdenken. Heute über die Klugheit. Der normale Mensch versteht unter Klugheit die verständige Überlegenheit richtigen Handelns in schwierigen Situationen. Als gläubige Christen bestimmen wir die Klugheit als tugendhafte Einstellung der praktischen Vernunft, das ganze Leben nach den sittlichen Grundsätzen zu ordnen und im rechten Gleichgewicht zu halten. Man möchte meinen, die Klugheit sei eine Mitgift der Natur. Als Verstandestugend sei sie dem einen gegeben, dem anderen versagt. Dennoch ist Klugheit bis zu einem gewissen Grade erlernbar. Die Klugheit ist die „Frucht langer Jahre“ (Aristoteles, Nik. Ethik 6,9). Sie zu erwerben bedarf des Nachdenkens, der Belehrung und der Erfahrung. Durch Lesen kann man Wissen erwerben und seinen Wortschatz erweitern. Mehr Wissen und ein größerer Wortschatz gestatten eine erweiterte Anpassung an andere Menschen und die Verwendung des geeigneten Wortes in den unterschiedlichen Situationen. Man kann selbst Erfahrungen sammeln, die uns lehren, wie wir uns in den Wechselfällen des Lebens verhalten sollen. Der Volksmund hat das Wort geprägt: Durch Schaden wird man klug. Verluste und Unfälle machen uns vorsichtig und umsichtig. Sehr erleichtert wird kluges Handeln, wenn wir Menschenkenntnis erwerben. Die Mienen, Reden und Handlungen der Menschen verraten uns die Affekte und die Gesinnungen der Mitmenschen. So können wir uns darauf einstellen, was wir von ihnen zu erwarten haben. Man kann sich von anderen belehren lassen, wie man unter bestimmten Umständen handeln soll. Jeder kennt Menschen, die einem überlegen sind. Von ihnen können wir Rat und Empfehlung einholen. Man kann von anderen Menschen absehen, wie sie sich in verschiedenen Lebenslagen verhalten, und kann ihrem Vorbild folgen. Unser Herr Jesus schildert drastisch die Unentbehrlichkeit der Klugheit beim Bau eines Hauses. Der kluge Mann baute es auf einen Felsen. Ein Platzregen stürzte nieder, Ströme flossen, Winde brausten und warfen sich auf das Haus. Aber es stürzte nicht ein, denn es war auf den Fels gegründet. Der törichte Mann baute sein Haus auf Sand. Ein Platzregen stürzte nieder, Ströme flossen, Winde brausten und rüttelten an dem Haus. Da fiel es ein, und sein Sturz war groß. Als Jesus seine Jünger aussandte, das Evangelium vom Reiche Gottes zu verkündigen, war ihm bewusst, dass ihnen Feindschaft und Ablehnung begegnen würde. Er sagte dies voraus mit den Worten: „Ich sende euch wie Schafe mitten unter Wölfe.“ Angesichts dieser gefährlichen Lage gab er ihnen den Rat: „Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben.“ Er verwies also auf das beispielhafte Verhalten zweier Arten von Tieren.

Wahre und vollkommene Klugheit hat den Stand der heiligmachenden Gnade und ein christliches Leben zur Voraussetzung. Niemand ist wahrhaft klug, der nicht in allem seinem Tun und Lassen Gott als Richtpunkt im Auge behält. Die Klugheit bedingt Furcht Gottes und Beobachtung seiner Gebote. Das heißt: Wer klug sein und klug handeln will, muss die Seele frei machen und frei halten von der Sünde. Am meisten wird die Urteilskraft beeinträchtigt durch ein unkeusches Leben; dieses trübt die Vernunft. Wer klug sein und klug handeln will, muss die ungeordneten Leidenschaften bekämpfen, die zur Sünde führen und das Urteil trüben. Da die ungeordneten Leidenschaften ihre tiefste Wurzel in der Eigenliebe haben, so muss gegen diese ein steter Kampf geführt werden. Das beste Mittel gegen die Eigenliebe ist die Liebe zu Gott. Wer nicht im Einklang mit Gott und seinem Willen ist, dem fehlt der Anker in seinem Leben.

Klugheit realisiert sich durch angemessenes Verhalten und Handeln im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller für die Situation konstitutiven Faktoren und der individuellen Handlungsziele. Das kluge Handeln vollzieht sich in drei Akten: Beratung, Urteil, Befehl. 1. Beratung. Wer klug handeln will, muss zuerst mit sich selbst zu Rate gehen und überlegen, welche Mittel zur Erreichung des Zweckes unter Berücksichtigung aller Umstände die geeignetsten sind. Klug ist, wer an die Einmaligkeit einer jeden Handlung denkt. Keine Stunde kehrt wieder. Jede Chance vergeht. Es gibt keine vollkommene Klugheit ohne Gelehrigkeit. Für den einzelnen ist es unmöglich, alles in hinreichender Weise zu überschauen und richtig zu beurteilen. Deshalb empfiehlt es sich, Rat einzuholen bei im Leben bewährten Männern und Frauen. Auch den Rat von Untergebenen darf man nicht verschmähen. 2. Urteil. Die Klugheit bedarf der Vernünftigkeit. Sie versteht es, die einzelnen Fälle im Lichte der Prinzipien mit einer gewissen Leichtigkeit zu beurteilen bzw. die Prinzipien auf dieselben anzuwenden. Vernünftig ist es, von früheren Vorfällen Schlüsse zu ziehen auf das, was jetzt zu tun ist. Die Klugheit hat zwei Augen: eines, das voraussieht, was man zu tun hat; das andere, das nachher besieht, was man getan hat. Die Klugheit lehrt Umsicht. Sie achtet auf die näheren Umstände, damit nicht, was an und für sich gut ist, durch diese ins Böse verkehrt wird oder Schaden statt Nutzen stiftet. Die Klugheit lehrt Voraussicht. Sie denkt an die möglichen Folgen der Handlung. Der Kluge fragt, wohin ein Weg geht, und achtet auf das Ende. 3. Befehl. Was durch Erwägung als richtig erkannt und durch Urteil als geeignet erfunden worden ist, soll der Wille zur Durchführung bringen. Die Klugheit muss hier ihre Stärke zeigen. Sie benutzt den gegenwärtigen Augenblick, ohne sich auf die Zukunft zu vertrösten; denn Herr sind wir nur über die Gegenwart. Die größten Hindernisse für die Ausführung sind Nachlässigkeit und Unbeständigkeit. Was nur mit halber Kraft und mit unangebrachten Verzögerungen angepackt wird, kann schwerlich gelingen.

Die Klugheit tritt in mannigfaltiger Gestalt auf, je nach dem Gebiet, auf dem sie sich betätigt. Die häusliche Klugheit richtet sich auf das Wohl der Familie. Jedes Glied einer Familie, zuerst der Vater und die Mutter, ist aufgerufen, den Segen Gottes über der Familie zu erbitten und zu erhalten. Dazu sind die häuslichen Tugenden wie Aufmerksamkeit, Achtung, Rücksichtnahme und Schonung erforderlich. Glück kann man nicht einplanen, aber man kann die Voraussetzungen schaffen, dass es möglich ist. In einer gelingenden Familie herrschen unter ihren Gliedern Verstehen und Vertrauen, Verzichten und Verzeihen. Streit ist leicht beizulegen. Wenn man die Schuld daran auf sich nimmt, gelingt es meistens rasch, einen Zornigen zu versöhnen. Es gibt die bürgerliche Klugheit. Ein jeder ist gehalten, seinen Beitrag zum Wohlergehen des Ganzen zu leisten. Man sollte sich immer fragen: Was kann ich für die anderen tun? Das hilft nicht nur den anderen, sondern auch einem selbst. Die Klugheit rechnet mit der Unbeständigkeit der Menschen. Es ist klug, nicht zu viel auf Einladungen, Zusagen und Versprechungen zu vertrauen. Denn sie werden leichter ausgesprochen als gehalten. Der kluge Mensch ist zu Gespräch und Austausch bereit. Jedoch er hört mehr als er redet.

Es gibt die politische Klugheit oder, besser gesagt, die Klugheit der Politiker. Die politische Klugheit wägt die eigene Kraft und die Kraft der fremden Mächte gegeneinander ab. Ein kluger Politiker geht kein Risiko ein, das mit einer Katastrophe enden kann. Überschätzung der eigenen Kraft und Unterschätzung der Macht des Gegners sind die Torheiten, die dem Untergang oder der Niederlage vorangehen. Dies war ein Grundfehler des Führers des Dritten Reiches. In der Demokratie droht eine andere Gefahr. Sie verführt die Menschen dazu, ständig nach dem Weg des geringsten Widerstandes zu suchen. Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es dann populär zu machen. Es gehört zum Wesen der politischen Konzessionen, dass sie immer zu spät kommen. Ein Politiker darf sich nicht durch Erfolge blenden und verführen lassen. Derjenige ist ein Meister der Politik, der im rechten Moment Halt zu machen versteht. Regieren heißt vorausschauen. Ein kluger Politiker erstrebt immer nur das Mögliche, nicht das Wünschenswerte. Die Grundregel der Außenpolitik lautet: eigenes Handeln stets durch die Augen der anderen betrachten. Ein kluger Politiker folgt bleibenden Prinzipien. Jede Politik halte ich für eine bessere als eine schwankende (Bismarck). Ein verantwortungsvoller Staatsmann trifft Vorkehrungen für seine Nachfolge und weist Erben ein, die sein Werk fortsetzen.

Es gibt die militärische Klugheit. Sie ist in dem Begriff Strategie zusammengefasst. Strategie beschreibt allgemeine militärpolitische Konzepte sowie Einsatzgrundsätze und -optionen, die zur Erreichung der Gesamtstrategie notwendig erscheinen, und legt die militärischen Mittel und Kräfte fest, die dazu benötigt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg dachten viele kluge Männer und Frauen über die Gründe der deutschen Katastrophe nach. Ein General deckte einen offenkundigen Mangel an Klugheit in der Ausbildung der deutschen Truppen auf. Man lehrte sie Angriff und Verteidigung; aber man versäumte es, sie den (geordneten) Rückzug zu lehren. Damit wurde ein wesentliches Element erfolgreicher militärischer Operation übersehen. Die Engländer zeigten wiederholt, wie klug es war, sich rechtzeitig zurückzuziehen, statt vernichtet zu werden oder in die Gefangenschaft zu gehen. Ich erinnere an ihre Rückzüge aus Norwegen, aus Frankreich, aus Griechenland. Der Amateurstratege Hitler kannte nur das Halten einer Stellung um jeden, aber wirklich um jeden Preis, auch den der eigenen Vernichtung. Als 200000 deutsche Soldaten in Stalingrad eingekesselt waren, drängten zahlreiche Truppenführer auf sofortigen Ausbruch als einziger Möglichkeit, sie vor der Vernichtung zu retten. Hitler befahl ihr Verharren in aussichtsloser Lage mit dem bekannten katastrophalen Ausgang. In seinem Buche „Mein Kampf“ klagte Hitler das Kaiserreich an, dass es sich in einem Zweifrontenkrieg, im Osten wie im Westen, verwickeln ließ. Er selbst stürzte sein Land in einen Vielfrontenkrieg. Es ist politische Klugheit, jederzeit seine Lage so zu gestalten, dass man zwischen zwei Parteien wählen kann. Nichts ist so töricht, als leichthin zu sagen: Es gibt keine Alternative. Es war der Trick, mit dem Frau Merkel regierte, ihre politischen Entscheidungen als alternativlos hinzustellen. Ein guter Politiker sieht immer Alternativen.

Die Gegensätze der Klugheit sind Unklugheit, Unbedachtsamkeit, Überstürzung, Unbeständigkeit und Nachlässigkeit. Von Maurice Talleyrand stammt das Wort: „Man sollte nie der ersten Gefühlsregung nachgeben, denn sie ist meistens edel, aber unklug.“ Sein Konzept für das menschliche Tun und Lassen lautet: „Gut unterrichtet sein und langsam handeln.“ Unbedachtsamkeit entsteht aus dem Mangel an Nachdenken vor einer Handlung. Die Prüfung vor dem Entschluss wurde zu früh abgebrochen. Überstürzung geht auf ungenügende Geduld und Überlegung zurück. Zu rasch und zu eilig werden Unternehmungen in Gang gesetzt, die nicht ausgereift sind oder für die der geeignete Zeitpunkt noch nicht gekommen ist. Napoleon unterwarf sich in wenigen Jahren weite Teile Europas und machte sein Land zur führenden Macht. Seine Mutter war skeptisch. Sie sagte wiederholt: Pourvu que cela dure.

Die Quelle der Klugheit ist die Weisheit. Weisheit und Klugheit sind zu unterscheiden. Weisheit ist eine ideale menschliche Grundhaltung. Sie ist auf einer allgemeinen Lebenserfahrung und auf umfassendem Verstehen und Wissen um Ursprung, Sinn und Ziel des Lebens sowie um die Letzten Dinge gegründet. Klugheit ist eher pragmatisch eingestellt. Den Weisen entdeckt man an der Wahl des Zweckes, den Klugen an der Wahl der Mittel zu den Zwecken. Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selber kennt, ist weise (Laotse). Wer das Wahre kennt, das Gute achtet und liebt, das Rechte tut, der ist weise. Ach, dass wir doch weise wären, um klug zu sein.

Amen.

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