23. Juli 2006
Besondere Aspekte der Nächstenliebe
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Am vergangenen Sonntag hatten wir uns der christlichen Nächstenliebe zugewendet. Sie ist unzerreißbar mit der Gottesliebe verbunden. Es gibt keine wahre Gottesliebe ohne Nächstenliebe. Und sie ist die Krone aller Tugenden. Die Nächstenliebe ist ein weites Feld. Deswegen müssen wir heute noch einmal zwei besondere Aspekte dieser Liebe betrachten, nämlich erstens die erbarmende Liebe und zweitens die vergebende Liebe.
Die erbarmende Liebe ist die Antwort auf die Not, auf die Not der Menschheit, eines jeden einzelnen Menschen. Diese Not ist eine doppelte; sie ist einmal eine leibliche und zum andern eine seelische Not. Die leibliche Not ist tausendfältig: Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Mittellosigkeit, Hilflosigkeit, Demenz, Alzheimer Krankheit, Sprachlosigkeit. Die körperliche Not ist tausendfältig: Hunger und Verwahrlosung. Das alles zählt zu der körperlichen Not. Die seelische Not ist anderer Art, aber deswegen nicht leichter zu tragen. Wieviel Kummer und Not, wieviel Sorgen sind in den Herzen vieler, ja wahrscheinlich der meisten Menschen bewahrt: Elternlosigkeit, Verlassenheit, Streit und Unfrieden, Schuld, Angst, Unruhe, Verwirrung. Wieviel Not ist in den Herzen der meisten Menschen! Vor geraumer Zeit, meine lieben Freunde, hat einmal ein Priester eine arme Frau beerdigt. Sie war auf der Straße zusammengebrochen und gestorben, allein, ohne Mittel, hilflos und arm. Als der Priester auf dem Friedhof die Gebete gesprochen hatte und der Sarg in das Grab gesenkt wurde, da sprang die 16jährige Tochter ihm nach: „Mutter, Mutter, nimm mich mit!“ Welche Not muss in diesem Kind gewesen sein: „Mutter, Mutter, nimm mich mit!“
Es ist deswegen unsere Pflicht , zu helfen. Der Grund der Verpflichtung ist leicht einzusehen. Alle diese Leidträger sind Kinder Gottes. Sie sind Brüder Christi; sie sind leidende Glieder unserer Gemeinschaft im Heiligen Geiste. Weil wir also mit ihnen auf vielfältige Weise verbunden sind, weil sich Gott ihrer annimmt, weil Christus für sie gelitten hat, weil er es nicht verschmäht hat, ihnen den Geist zu schenken, deswegen sind wir verpflichtet, zu helfen.
Die Verpflichtung kennt verschiedene Grade. Es gibt Menschen, die halten das Almosengeben für ein schönes gutes Werk, aber nicht für eine eigentliche Pflicht. Ich habe mir schon oft gedacht, wenn es um die Geschlechtlichkeit geht, da sind die Menschen ganz allergisch, wenn Abweichungen davon von der Kirche als unzulässig bezeichnet werden. Aber auf andere Gebieten, etwa bei dem Gebiet der Nächstenliebe, da haben sie wenig Skrupel. Da geben sie mit vollen Händen das Geld für ihre Zwecke aus und leben einen guten Tag, ohne zu fragen: Ja, habe ich nicht vielleicht die Pflicht, von meinem Einkommen soundsoviel Prozent anderen abzugeben? Das ist auch eine Sünde. Nicht helfen ist eine Sünde!, und je nachdem, wie wichtig unsere Verpflichtung ist, um so größer ist die Sünde. Wenn jemand in schwerer Not ist, dann müssen wir ihm helfen, in Todesnot, wenn jemand am Straßenrand liegt und am Verbluten ist, dann darf ich nicht vorbeifahren mit meinem Auto. Wenn jemand an einem lebensgefährlichen Abgrund steht, dann muss ich ihn zurückreißen. Wenn jemand in leichter Not ist, dann ist die Verpflichtung auch leicht. Aber wer in schwerer Not ist, da ist die Verpflichtung eine schwere.
Wer ist denn verpflichtet, zu helfen? Nun, die Verpflichtung richtet sich nach der Nähe, in der man zu den Menschen steht. Am nächsten verpflichtet sind natürlich die Angehörigen, die Verwandten, dann erst fremde Leute. Aber eine Verpflichtung kann auch für andere bestehen. Der Grundsatz heißt praktisch: Man muss helfen, soweit es nötig ist und wo wir es können. Man muss helfen, soweit es nötig ist und wo wir es können. Und diese Hilfe muss eine herzliche sein. Es darf das nicht eine herablassende Hilfe sein, die den anderen noch mehr verletzt, als wenn man ihn beiseite gehen ließe.
Die Kirche hat es immer verstanden, sich der Notleidenden anzunehmen. Das ist etwas vom Großen und Gewaltigen unserer Kirche: Sie hat die Nächstenliebe in die Welt gebracht. Mitleid kannte auch die Heiden, aber die Nächstenliebe, wie sie von der Kirche verkündet wird, die ist einmalig und einzigartig und sie ist erst durch das Christentum in die Welt gekommen. Für die leibliche Not hat die Kirche die Werke der leiblichen Barmherzigkeit aufgestellt, also die Hungrigen speisen, die Durstigen tränken, die Nackten bekleiden, Fremde beherbergen, Gefangene erlösen, Kranke besuchen, Tote begraben. Alle diese Werke sind von größer Dignität und von unerbittlicher Notwendigkeit. Wir können nicht jedem persönlich helfen, aber wir können uns beteiligen an Werken, die anderen helfen. Wir haben unsere Pflichten, die müssen wir erfüllen, aber wir können von dem, was uns zuteil geworden ist, mitteilen, damit anderen geholfen wird.
Freilich muss man auch, bei Almosen vor allem, auswählen. Es gibt verschämte Arme, die sich schämen ein Almosen anzunehmen. Es gibt aber auch unverschämte Arme, die statt zu arbeiten, Almosen erbetteln. Deswegen sagt die Didache, eine alte Schrift aus dem 1. Jahrhundert: „Laß das Almosen in deiner Hand schwitzen!“ Man soll also lange überlegen, bevor man Almosen gibt, damit man weiß, daß der Betreffende auch wirklich bedürftig ist.
Noch eine Stufe höher stehen die Werke der geistlichen Barmherzigkeit: Sünder zurechtweisen, Zweifelnden recht raten, Unwissende belehren, Betrübte trösten, Unrecht geduldig leiden, den Beleidigern gern verzeihen, für die Lebenden und Verstorbenen beten. Das sind die Werke der geistlichen Barmherzigkeit. Mit diesen Werken, meine lieben Freunde, verdienen wir uns buchstäblich den Himmel. Diese Werke der geistlichen Barmherzigkeit sind oft eine schwere Pflicht für uns, und mancher macht sich schuldig, weil er sie nicht übt. Wenn Eltern zu Verfehlungen ihrer Kinder schweigen, dann verfehlen sie sich gegen ihre Kinder, weil sie die Sünder nicht zurechtweisen. Und wer Leuten, die im Glaubenszweifel sind, nichts zu sagen weiß, wenigstens nicht einmal sein Zeugnis des Glaubens zu geben weiß, der macht sich schuldig an diesen Menschen, die an ihrem Gauben irre geworden sind.
Es gibt viele Wege zu helfen. Der einfachste Weg ist von Mensch zu Mensch, dass man dem Betreffenden selber hilft, dass man ihm unter die Arme greift, dass man ihm Almosen gibt oder eine andere Hilfe leistet, wo die Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Das heißt, man soll sich deswegen überhaupt nicht rühmen, sondern man soll es Gott überlassen, diese Werke zu zählen und in sein Buch einzutragen.
Man kann auch Gaben still in den Opferstock legen. Früher war es üblich, dass man Antoniusbrot hatte oder Opfer für den Vinzenzverein sammelte. Das scheint alles aufgehört zu haben. Aber nützlich und notwendig sind diese Gaben heute wie eh und je. Man kann auch den Werken, die sich der Notleidenden annehmen, zu Hilfe kommen. Wir haben ja die Caritas, und es gibt viele andere Werke, die für die Menschen in Not ein Auge und ein Herz haben. Auch ihnen kann man helfen durch Geldüberweisungen, vielleicht auch durch körperliche Hilfe, wenn sie möglich ist. Eines ist jedenfalls sicher: Wer am tiefsten fällt, braucht am dringendsten die Hilfe.
Leider ist nicht überall die Hilfsbereitschaft ausgebildet. In dieser Woche hörte ich eine Meldung aus der Stadt Hof in Bayern. In der Stadt Hof gibt es einen Tierschutzbund. Er zählt 1100 Mitglieder. Er empfängt viele Spenden und sogar ganze Erbschaften. In der Stadt Hof gibt es auch einen Kinderschutzbund, der sich verwahrloster Kinder annimmt. Er hat 100 Mitglieder; er empfängt wenige Spenden und überhaupt keine Erbschaften. Er lebt von dem wenigen, was ihm die Staatsanwaltschaft überweist von Bußgeldern. Das ist ein Beispiel für die Lage in unserer Gesellschaft.
Das ist die erbarmende Liebe. Ihr an die Seite zu stellen ist die vergebende Liebe. Das ist die schwerste Liebe, dem Feind zu verzeihen, dem fehlenden Bruder Liebe zu erweisen. Petrus hat einmal den Herrn gefragt: „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder verzeihen, wenn er gegen mich fehlt? Etwa siebenmal?“ Der Herr antwortete: „Siebzigmal siebenmal“, das heißt: immer. An anderer Stelle hatte der Herr gesagt: „Ihr habt gehört (die Schriftgelehrten), dass gesagt worden ist: Deinen Freund sollst du lieben und deinen Feind darfst du hassen: Ich aber sagte euch: Liebet eure Feinde! Tuet Gutes denen, die euch hassen! Betet für die, die euch verleumden und verfolgen, dann seid ihr Kinder eures Vaters im Himmel, der die Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse und Regen fallen lässt über Gerechte und Ungerechte.“ Der Herr selbst hat das beste Beispiel der Feindesliebe gegeben. Am Kreuze betete er: „Vater, verzeih ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“
Die verzeihende Liebe ist ein strenges Gebot, ein so strenges Gebot, dass wir unsere Seligkeit verlieren, wenn wir nicht verzeihen. Wir können kein Vaterunser mehr beten, wenn wir nicht verzeihen. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldigern!“ „Wenn ihr nicht vergebt“, sagt der Herr, „wird auch euer himmlischer Vater euch eure Sünden nicht vergeben.“ Und er erzählt das erschütternde Gleichnis von dem unbarmherzigen Knecht. Sein Herr hatte ihm eine unermessliche Summe geschenkt, und dann traf er seinen Mitknecht, der ihm eine ganz kleine Summe schuldete. Er würgte ihn und ließ ihn in den Turm werfen. So sind die Menschen. Gott verzeiht ihnen ihre größte Schuld, aber sie können oder sie wollen ihren Mitmenschen nicht verzeihen. Wieviel Unfrieden ist auch in der Gemeinde Budenheim, meine lieben Freunde! Wieviel Unfrieden in den Familien! Es gibt nur einen Weg, den Feind zu besiegen, das ist der Weg der Liebe.
Die Feindesliebe kann uns schwer ankommen, aber sie entgiftet die Seele. Wer für den Feind betet, wer ihm Gutes zu erweisen sucht, wer ihm Gutes im Herzen wünscht, der wird frei von Groll und Ressentiment, und Groll und Ressentiment fressen den Menschen buchstäblich auf. Sie machen ihn krank, sie sind kränkende Seelenhaltungen. Deswegen fort damit, meine lieben Freunde, fort mit allem, was schlimm ist. Nicht Böses mit Bösem vergelten, sondern Böses mit Gutem vergelten, dann sammelst du feurige Kohlen auf das Haupt deiner Bruders, d.h. du gibst ihm zum Nachdenken. Ihm kann er nicht widerstehen; da muss er sich bessern, da muss er sich ändern, wenn er spürt, dass sein Feind, der, den er zum Feinde hat, dass sein Feind ihm Gutes erweist.
Zwei Dinge sind in der Feindesliebe unerlässlich, einmal die innere Bereitschaft zu verzeihen und sich zu versöhnen. Im Herzen muss es anfangen, und dann kann es nach außen dringen. Aber das ist unerlässlich: die innere Bereitschaft zu verzeihen und sich zu versöhnen. Wie wohltuend ist es, wenn man einem, der einem Unrecht getan hat, die Hand reicht und sagt: „Verzeih, ich war auch schuld.“ „Nein“, hat mir schon mancher gesagt, „ich war schuld!“ Das zweite, was man von der Feindesliebe verlangen muss, ist die Bereitschaft, dem Feind in schwerer Not zu helfen. Ohne dieses unerlässliche Minimum gibt es keine Feindesliebe. Es ist auch schlimm, wenn Menschen, die miteinander übers Kreuz geraten sind, sich nicht mehr grüßen. Die Verweigerung des Grußes ist ein schlimmes Zeichen fehlender Feindesliebe.
Es gibt viele Sünden gegen die Liebe, meine lieben Freunde. An erster Stelle die Lieblosigkeit, die den anderen so behandelt, als ginge er einen nichts an. Lieblos ist, wer kalt und gleichgültig dem Nächsten gegenübersteht, sich in der Not von ihm abwendet. Das widerspricht dem Geiste Christi. Lieblosigkeit kann leicht zum Haß werden. Haß ist das vollendete Gegenteil der Liebe. Der Haß sieht im Mitmenschen einen Feind statt einen Bruder. Er sieht ihn mit getrübtem, mit gefälschtem Blick. Er schmäht ihn, er verleumdet ihn, er beleidigt ihn. Wer solchen Haß in seiner Seele trägt, der zieht eine Schlange hoch, die nicht nur den Mitmenschen mit ihrem Gift verspritzt, sondern die eigene Seele tötet. „Wer seinen Bruder haßt, ist ein Mörder. Und ihr wisst, dass kein Mörder das Reich Gottes erben kann“, sagt der Apostel Johannes.
Leichtere Verfehlungen gegen die Nächstenliebe sind Neid und Schadenfreude. Der Neid gönnt dem anderen nicht, was ihm zu eigen ist, seine Gestalt, seine Ausstattung, seinen Beruf, sein Vermögen. Die Schadenfreude empfindet Freude, wenn dem anderen Schlimmes widerfährt. Der Neid ist in der Wurzel teuflisch, denn der Teufel ist der Vater des Neides. „Durch den Neid des Teufels ist der Tod in die Welt gekommen“, heißt es in der Heiligen Schrift. Durch den Neid des Teufels. Also lassen wir uns nicht vom Neid und von der Schadenfreude überwinden, sondern tragen wir mit dem anderen und freuen wir uns über seine Erfolge, über seine Begabung, über seinen Reichtum. Die Rachsucht steigt manchmal in einem jeden von uns auf, nämlich die Sucht, sich zu rächen für das, was jemand uns angetan hat. Der Heide hält es für sein gutes Recht, seinen Rachedurst zu kühlen. Wir aber halten uns an das Wort des Herrn: „Mein ist die Rache, spricht der Herr.“ Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute. „Willst du Befriedigung für immer, dann vergib. Willst du Befriedigung für einen Augenblick, dann räche dich“, hat einmal der große Lacordaire geschrieben. Verzeihen, meine lieben Freunde, ist die beste Rache.
In der Ewigkeit wird der Glaube aufhören und die Hoffnung ein Ende nehmen. Der Glaube hört auf, weil wir dann schauen. Die Hoffnung findet ein Ende, weil wir besitzen. Aber eines bleibt: die Liebe. Die Liebe wird auch in Ewigkeit unsere Seligkeit ausmachen. Fangen wir an, meine lieben Freunde, uns auf diese Seligkeit vorzubereiten, indem wir die erbarmende und die verzeihende Liebe üben.
Amen.