Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. Juli 2006

Gott und den Nächsten lieben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die rechte Einstellung und das rechte Verhalten gegenüber den Mitmenschen ist, ähnlich wie die rechte Stellung zu Gott, ein tragender Pfeiler unserer Religion, ja unserer Frömmigkeit. Wo er zerbricht, da hört auch das Christentum auf. Dieser Pfeiler ist die Liebe. Die Liebe, von der wir heute sprechen wollen, ist das am meisten missbrauchte Wort in allen Sprachen. Wir haben deswegen Mühe, das rechte Verständnis der Liebe uns vor Augen zu führen. Der Herr selber hat uns die Liebe geboten und uns ein Beispiel hinterlassen. Er sagt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Gemüte und mit allen deinen Kräften. Das ist das erste und größte Gebot. Ein zweites aber ist diesem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“

Der Heiland nennt die Nächstenliebe sein Gebot, sein spezifisches Gebot, das Gebot, auf das er selbst das entscheidende Gewicht legt. Und dieses Gebot ist ein neues: „Das ist mein Gebot: Liebet einander!“ „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebet einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ Überlegen Sie einmal: So sollen wir lieben, wie er geliebt hat. Wir werden gleich sehen, wie er geliebt hat. Also seine Liebe ist das Maß für die unsere: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ Und diese Liebe macht er zum Kennzeichen der seinen. „Daran sollen alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, dass ihr Liebe zueinander habt.“ Diese Worte hat der Herr bei seinem Abschied aus dieser Welt gesprochen, in der Abendmahlsstunde. Es ist gewissermaßen sein Testament. Aber er hat hier nur zusammengefasst, was er sein ganzes Leben über geübt hat; denn alle Welt wusste von seiner Liebe zu erzählen. „Er macht alles gut“, so heißt es bei Markus, und in der Apostelgeschichte: „Er ging umher, Wohltaten spendend.“ Er war wahrhaftig ein barmherziger Helfer, denn er war gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren war. Er war der gute Hirt, der das verlorene Schaf sucht, es auf seine Schulter nimmt und zurückträgt zur Herde. Die Liebe leuchtet aus seinen Augen. Wir haben es eben im Evangelium gehört: „Mich erbarmt des Volkes“, des hungernden Volkes, und dieser Hunger des Volkes ist ja nicht nur ein leiblicher, er ist auch ein seelischer. Es erbarmt ihn des Volkes. Er sieht die Blinden und Lahmen und die an Leib und Seele Aussätzigen, und er heilt sie. Er sieht die trauernde Witwe in Naim und gibt ihr den Sohn und Ernährer zurück. Er nimmt sich der Sünder an und ißt mit ihnen, ja, um sie eben von der Sünde zu lösen. Er bricht nicht das geknickte Rohr und löscht den glimmenden Docht nicht aus. Arm wird er von der Krippe bis zum Kreuz um der Menschen willen. Das ist nicht das Christentum, dass ein Reicher kommt und die Armen reich macht, sondern das ist das Christentum, dass der Ärmste von allen kommt und die Armen bereichert.

Um Ihnen noch ein Beispiel zu geben von seiner Liebe: Da kniet er im Abendmahlssaal nieder und wäscht ihnen allen, auch dem Verräter, die Füße, als wäre er ihr Diener und nicht ihr Herr. Und er spricht: „Wenn ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr so tut, wie ich euch getan habe.“ Und dann geht er dahin zu sterben, zu sterben auf Golgotha am Kreuze seines Leidens. „Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde.“ So hat, meine lieben Freunde, der Herr die Liebe in Wort und Beispiel gepredigt.

Was können wir jetzt von dieser Liebe lernen? Ich meine, es sind vier Eigenschaften oder vier Eigenschaftspaare, die wir von dieser Liebe lernen können, nämlich die brüderliche Liebe, die uns der Herr empfiehlt und befiehlt. Die brüderliche Liebe ist erstens natürlich und übernatürlich. Es gibt eine natürliche Liebe; man nennt sie Humanität oder auch Humanismus. Das ist die allgemeine Menschenliebe, die in jedem Menschen eben einen Menschen, ein Glied er großen Menschheitsfamilie sieht. Diese Humanität wünscht einem jeden, dass es ihm gut gehe. Sie hilft ihm, wenn er in Not ist, weil er eben ein Mensch ist. Aber sie hilft ihm (nur) zur irdischen Wohlfahrt. Diese Menschenfreundlichkeit ist eine edle Tugend, aber sie ist nur eine natürliche Tugend. Sie sieht nur das Natürliche und steigt nicht über das Natürliche zum Übernatürlichen auf. Die christliche Menschenliebe schätzt diese natürliche Liebe. Wir sind keine Gegner der Humanität und des Humanismus, aber die christliche Menschenliebe führt darüber hinaus, und zwar auf dreifache Weise. Sie sieht in jedem Menschen ein Kind des ewigen Vaters. Jeder Mensch ist ja mit einer natürlichen und übernatürlichen Gottähnlichkeit beschenkt. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde; das ist die natürliche Gottähnlichkeit. Und Gott hat den Menschen mit seiner Gnade emporgehoben zu seiner Höhe, und damit hat er die übernatürliche Gottebenbildlichkeit begründet. Diese übernatürliche Gottebenbildlichkeit meint der heilige Johannes, wenn er schreibt: „Wer Gott liebt, muss auch seinen Bruder lieben. Wenn einer sagt: Ich liebe Gott, dabei aber seinen Bruder haßt, dann ist er ein Lügner.“

Die zweite Begründung für die übernatürliche Liebe ist, dass wir Brüder und Schwestern Christi sind. Er hat ja die Menschennatur angenommen, und durch diese Annahme ist er einer aus uns geworden, unser Bruder und das Haupt der ganzen Menschheit. Alle, die Menschenantlitz tragen, stehen deswegen in einer Beziehung zu Jesus, dem Gottmenschen. Er hat die Menschen überdies durch sein Kreuz erlöst und sie zu Gliedern an seinem geheimnisvollen Leibe gemacht. Das ist also der zweite Grund, warum wir die übernatürliche Liebe pflegen müssen.

Und der dritte: Gott hat allen Menschen den Heiligen Geist angeboten und denen, die ihn annehmen, auch geschenkt. Durch den Heiligen Geist, der in den Menschen lebt, sind wir noch einmal miteinander verbunden. So erhebt die christliche Nächstenliebe unsere rein natürliche Liebe hoch empor in das Licht des dreifaltigen Gottes. Meine lieben Freunde, wenn man wissen will, was natürliche und übernatürliche Menschenliebe ist, dann gibt es ein probates Mittel dafür; man braucht sich nämlich nur immer das Gegenteil vorzustellen. Was ist denn das Gegenteil der natürlichen Liebe? Die natürliche Abneigung. Und wir haben viele Gründe, Abneigung gegen Menschen zu hegen. Aber sie sind eben falsch. Wir sind verpflichtet, die natürliche und übernatürliche Liebe in uns auszubilden. Wo die natürliche Liebe nicht mehr ausreicht, da tritt die übernatürliche Liebe ein. Sie ist nicht ein schwaches menschliches Mitleid, sondern sie ist ein starkes Verantwortungsbewusstsein um das Kind Gottes, um den Bruder Christi und um das Geschöpf des Heiligen Geistes. Also die Liebe ist erstens natürlich und übernatürlich.

Sie ist zweitens allumfassend und geordnet. Auch das Alte Testament kannte die allgemeine Menschenliebe. Auch das Alte Testament enthält das Gebot der Nächstenliebe im Buche Leviticus. Aber die pharisäische Auslegung hatte ihm enge Schranken gesetzt und es auf die Liebe zu den Stammesgenossen eingeengt. „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“ So, sagt der Herr, haben die Pharisäer das Gebot Gottes verunstaltet. Um diese falsche Auffassung zu zerbrechen und die Liebe aus ihrer Enge zu erlösen, hat der Herr das ergreifende Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt. Ein Jude reist, fällt unter die Räuber, wird wund geschlagen, beraubt und liegen gelassen. Zwei andere Juden kommen an ihm vorbei, aber teilnahmslos lassen sie ihn liegen. Dann kommt ein Stammesfremder, ja ein Feind der Juden, ein Samariter. Er sieht den Verwundeten liegen, er beugt sich zu ihm nieder, er flößt ihm Öl und Wein in seine Wunden ein, er trägt ihn zur Herberge und lässt ihn dort pflegen und schießt schon einen Betrag vor, damit die Pflege auch bezahlt sei. Dieses Gleichnis hat uns der Herr erzählt, damit wir es nachahmen. „Gehe hin und tue desgleichen!“ Das ist die Anwendung. Das ist also die Liebe, die Jesus lehrt. Sie schließt keinen aus. Jeder ist unser Nächster, der unsere Hilfe braucht, mag er uns nahe oder fern stehen, mag er Mitbürger sein oder nicht, Freund oder Feind. Die christliche Nächstenliebe ist allumfassend.

Das schließt nicht aus, dass sie eine bestimmte Ordnung in sich trägt, die Ordnung der Natur und der Gnade. Es gibt Menschen, die uns besonders nahe stehen und für die wir deswegen auch besonders verantwortlich sind, also die Glieder unserer Familie, der Gatte, die Eltern, die Kinder, die Verwandten. Für sie sind wir in besonderer Weise verantwortlich. Wenn Not ist, muss man zuerst denen helfen, die uns besonders nahe stehen. Das ist die Ordnung der Liebe. Niemand ist verpflichtet, einen anderen mehr als sich selbst zu lieben, da ja der Herr geboten hat, den Nächsten zu lieben „wie sich selbst“. Man darf also auch eine geordnete Selbstliebe beobachten. Die Nächstenliebe schließt die Selbstliebe nicht aus, denn jeder Mensch steht sich in gewissem Sinne selbst am nächsten. Freilich, die heroische Liebe sieht von sich ab und opfert sich für den Nächsten. Solchen Heroismus hat es immer wieder gegeben. Viele Menschen haben ihr Leben für nichts erachtet, um dem Nächsten zu helfen. Das ist also die zweite Gruppe von Eigenschaften, welche die Liebe haben muss. Sie ist allumfassend, und sie ist geordnet.

Die dritte Gruppe sagt: Die Liebe ist herzlich und selbstlos. Meine Freunde, wir können nicht einem jeden Menschen etwas geben. Unsere Kräfte, unsere Mittel sind begrenzt. Wir müssen uns einschränken. Aber wenn auch äußere Gaben fehlen, etwas können wir einem jeden schenken, nämlich das Wohlwollen. Und das ist sehr viel, denn wir spüren ja in uns, wie ganz andere Regungen sich emporarbeiten möchten in unserer Seele, Neid, Abneigung, Haß, Geringschätzung. Das Wohlwollen schließt all solche Haltungen aus. Das Wohlwollen ist ein Gutsein, das wir jedem schenken können, auch dann, wenn es nicht erwidert wird. Denn die wahre Nächstenliebe ist selbstlos. Sie sucht nicht den eigenen Lohn und will nicht Dank als Antwort bekommen. Sie ist selbstlos und uneigennützig. In diesem Sinne sagt der Herr: „Wenn du ein Gastmahl hältst, dann lade die Blinden, die Krüppel und die Lahmen ein!“ Warum? „Sie können es dir nicht vergelten.“ So soll also unsere Liebe sein. Wir sollen sie denen erweisen, von denen wir nichts zu erwarten haben, von denen wir keine Vergeltung erhoffen. Diese Liebe hat niemand ergreifender geschildert als der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief: „Die Liebe ist langmütig; die Liebe ist gütig; die Liebe beneidet nicht, sie prahlt nicht, sie überhebt sich nicht, sie handelt nicht unschicklich, sie sucht nicht ihren Vorteil, sie lässt sich nicht erbittern, sie trägt das Böse nicht nach, sie freut sich nicht über das Unrecht, freut sich vielmehr über die Wahrheit. Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf.“ Ach, meine Freunde, wenn wir doch diese Liebe in uns trügen! Wenn wir doch diese Liebe in unserem Leben beweisen würden! Dann wären wir Kinder unseres Vaters im Himmel, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse und Regen fallen lässt über Gerechte und Ungerechte. Die Liebe ist herzlich und selbstlos.

Sie ist aber auch viertens tätig und opferbereit. Vom heiligen Johannes stammt das schöne Wort: „Kindlein, lasst uns lieben, nicht mit Worten und mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit!“ Die echte Liebe muss tätig sein und sich im Werke zeigen. So wie der Glaube lebendig sein muss, wenn er uns zum Himmel führen will, so muss erst recht die Liebe lebendig sein, wenn wir vor Gott bestehen wollen. Die Liebe kann nur auf ihre Probe gestellt werden im Werk. Mit Worten lässt sich leicht Liebe heucheln, aber das Werk zeigt, ob wirkliche Liebe in uns ist. Die christliche Liebestat ist uns auferlegt. Und dafür hat uns der Herr eine Regel gegeben, eine praktische Regel, eine anwendbare Regel. „Alles was ihr wollt, das euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen tun.“ Sie kennen vielleicht diese Regel in der negativen Form. Die negative Form sagt: „Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu!“ Das ist ja auch etwas, denn wir wollen eben nicht, dass man uns Unrecht antut. Und so kann diese Regel „Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu“ sagen: Tue niemandem Böses! Und damit ist viel gesagt. Aber die goldene Regel, die der Herr gegeben hat, geht darüber hinaus. „Alles, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen tun.“ Aber da ist natürlich vorausgesetzt, dass wir das Rechte wollen, was die Menschen uns tun, und ein normaler, ein vernünftiger Mensch will eben, dass die anderen Menschen freundlich, höflich, gütig, hilfsbereit zu einem sind, dass sie die Liebe beweisen, die der Herr uns selbst auferlegt hat und auf diese Weise uns das Leben erleichtern. „Alles, was ihr wollt, das euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen tun.“ Da haben wir also ein Mittel in der Hand, wo wir jeweils ausmachen können, was wir einem anderen tun wollen. Was würde ich in dieser Lage wollen? Das tu auch dem Nächsten.

Solche tätige Liebe fordert Opfer. Immer, meine lieben Freunde, wo die Liebe wahr ist, spricht sie die Sprache des Opfers. Ohne Opfer besteht keine Liebe. Sie muss ertragen, und sie muss dulden. Aber solche Opfer bringen reichen inneren Lohn. Schon in der Apostelgeschichte heißt es: „Geben ist seliger als Nehmen.“ Wenn wir Opfer unter Freude bringen, dann können wir wahrhaftig selbst froh werden. „Willst du glücklich sein im Leben, trage bei zu anderer Glück; denn die Freude, die wir geben, strahlt ins eigene Herz zurück.“

Das ist also die wahre christliche Liebe. „Liebet einander, wie ich euch geliebt habe.“ Wie viel Sonne kommt in ein Leben, wo diese Liebe herrscht! Wenn Menschen verbittert und verärgert sind, dann kann man, wenn man nachforscht, oft darauf stoßen, dass in ihrem Leben wenig oder gar keine Liebe war. Wer dauernd herumgestoßen wird, wer niemals einem anderen etwas recht machen kann, wer fortwährend getadelt wird, wie soll in einem solchen Menschen die Tugend und vor allem die Tugend der Liebe aufblühen? Wenn wir dagegen die Sonne der Liebe über die Menschen strahlen lassen, dann wecken wir das Gute in ihnen auf. Jawohl, die Liebe hat weckende Kraft. Sie ist fähig, in dem anderen das Gute zu erwecken. Vom heiligen Johannes wird berichtet, dass er, als er ein alter Mann war, immer nur gepredigt hat: „Kindlein, liebet einander!“ Seine Zuhörer wurden schon überdrüssig, immer nur dasselbe zu hören: „Kindlein, liebet einander!“ Sie fragten ihn: „Warum sagst du denn immerfort dasselbe?“ Er antwortete: „Es ist das Gebot des Herrn. Wer es erfüllt, erfüllt alle anderen.“

Amen.

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