Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
24. August 2014

Die Versuchung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir alle beten täglich: „und führe uns nicht in Versuchung“. Was ist Versuchung? Versuchung ist der innere Anreiz, etwas dem moralisch Gebotenen Widersprechendes zu denken, zu wollen oder zu tun. Versuchung ist die gespürte Einladung, Böses zu tun, zu sündigen. Woher stammen die Versuchungen? In erster Linie vom Teufel. Er lebt in der Gottferne, und er sucht andere in seine Gottferne hineinzuziehen. Der Teufel hat keine Ruhe, bis er, der Böse, andere böse gemacht hat. Der Teufel heißt in der Heiligen Schrift „der böse Feind“ oder „der Versucher“. Er ist der Urheber der Sünden in der Menschheit. Das Buch der Weisheit bezeichnet den Teufel als „Verführer der Menschen von Anbeginn“. Und wir wissen, dass er die ersten Menschen versucht und zu Fall gebracht hat. Gegenüber Adam und Eva leugnet er kühn, dass die Frucht des Baumes den Tod bringe. Geschickt senkt er den Zweifel an Gott in die Herzen der ersten Menschen. Er legt das göttliche Gebot als Ausfluss von Missgunst und Übelwollen gegenüber den Menschen aus. Er verspricht der Frau von dem Genuss der verbotenen Frucht übermenschliches Wissen: „Ihr werdet sein wie Gott und damit Gott gleich gemacht.“ Die Verheißung des Teufels ist eine Lüge. Aber keine plumpe Lüge, sondern die listige Lüge des Betrügers, der den Ahnungslosen mit doppelsinniger Lüge, mit doppelsinniger Rede hereinlegt. Die Evangelien berichten im Anschluss an die Taufe Jesu im Jordan und an das vierzigtägige Fasten von der Versuchung des Herrn durch den Teufel. Als Quelle dieses Berichtes kommt nur Jesus selbst in Frage; er wird es den Jüngern erzählt haben. Die Versuchung war nicht, wie die ungläubigen Theologen sagen, ein bloß inneres Erlebnis des um Berufsklarheit ringenden Messias. Nein, sie war ein geschichtliches, äußeres Ereignis am Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu. Satan will Jesus von dem leidvollen Weg des Messias abdrängen. Unter geschickter Ausnützung der Umstände will er ihn zur Anpassung an die zeitgenössischen Messiaserwartungen bewegen, die dem Willen Gottes widersprechen: Missbrauch der Wunderkraft, Gewinnung der Massen durch ein Schauwunder, Annahme eines glanzvollen Messiasreiches aus der Hand des Satans, des Fürsten dieser Welt. Indem sich Jesus selbst vom Teufel entführen und versuchen ließ, bezeugte er dessen natürliche Macht. Die teuflischen Zumutungen wecken in der Seele Jesu keinen Zwiespalt. Er ist dagegen gefeit; mit ruhiger Bestimmtheit weist er sie ab. Der Teufel lässt von ihm ab. „Aber“, so bemerkt der Evangelist Lukas, „bis auf ein anderes Mal“. Also Jesus ist nicht nur am Anfang seiner öffentlichen Wirksamkeit versucht worden, sondern auch bei anderen Gelegenheiten. Wir denken vielleicht an den Ölberg. In jedem Falle wurde einer seiner Jünger vom Teufel versucht und überwunden, nämlich Judas aus Kariot. Bei dem Abendessen in der Nacht, da der Herr verraten wurde, bei diesem Abendessen, das der Einsetzung der Eucharistie voranging, tauchte Jesus einen Bissen ein und gab ihn dem Judas; und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn.

Die Macht des Teufels ist gefährlich für alle, die sich nicht zu Christus halten. Sie sind gegen seinen überlegenen Verstand, seine gottwidrigen Einflüsterungen, seine Fallstricke von Natur aus die Schwächeren. Der Teufel ist der Versucher schlechthin. Er kann aber nur mittelbar auf den freien Willen einwirken; er kann ihn nicht zwingen. Er ist stark, aber er ist nicht allmächtig. Der Satan kennt uns, meine lieben Freunde. Er kennt die schwachen Punkte, und dort setzt er an. Er kennt die schwachen Stunden, und die passt er ab.

Doch, das ist Lehre der Kirche, nicht alle Sünden der Menschen sind auf Versuchungen des Teufels zurückzuführen. Wir neigen von Natur aus zum Verbotenen. Dem gefallenen Menschen wohnt eine verkehrte Neigung inne, die Konkupiszenz, wie die Theologie sie nennt, der Zunder der Sünde, wie das Tridentinum sagt: „fomes peccati“. Es gibt in uns eine angeborene, erbsündliche Neigung und Ungeordnetheit zum Bösen. Das bezeugt der heilige Apostel Johannes, wenn er sagt: „Alles, was in der Welt ist, ist Fleischeslust, Augenlust und Hoffart des Lebens.“ Fleischeslust – die Sinnlichkeit; Augenlust – der Besitzdrang; Hoffart des Lebens – nun, die Suche nach Anerkennung, nach Beifall, nach Lob. Als tiefste einheitliche Wurzel der Sünde erscheint die ungeordnete Selbstliebe. Der Mensch will gegen Gottes Willen etwas haben, besitzen, genießen; das ist die einheitliche Wurzel unserer Sünde. Nicht jeder Anlass zur Sünde ist eine Versuchung. Manche äußere Dinge und auch innere Gedanken bieten die Möglichkeit zum Bösen. Und sie begründen auch eine gewisse Leichtigkeit, das Böse zu tun, aber sie üben nicht notwendig einen Reiz und einen Anreiz, einen Antrieb auf den Menschen aus, das Böse zu verüben. Dass aus der Möglichkeit der Versuchung eine Sünde wird, das hängt vom Menschen ab, von seiner Eigenart und von der Mentalität des Einzelnen. Eine Versuchung liegt erst dann vor, wenn jene äußeren und inneren Anlässe zur fühlbar anziehenden und antreibenden Macht zum Bösen in der Seele werden. Versuchungen spielen sich immer in der Seele ab. Also wenn man durch ein Wort zur Sünde gereizt wird, wenn man durch ein Buch oder durch ein Bild zur bösen Lust bewegt wird, wenn die eigene Fantasie ein Begehren nach dem Bösen wachruft – das sind Versuchungen. Die Versuchung ist noch nicht die Sünde selbst, sondern ein Vorstadium. Der Anreiz zur Sünde treibt von der Versuchung zur Tat. Aus der bösen Lust wird die Sünde erst dann geboren, wenn der freie Wille hinzutritt. Das müssen Sie sich, meine lieben Freunde, für immer merken: Ohne den freien Willen kann keine Sünde in uns oder außer uns geschehen. Wegen der Gefahr zur Einwilligung ist das bewusste, unmittelbare Herbeiführen der Versuchung unerlaubt; bloße Zulassung ist aus einem hinreichenden Grunde gestattet.

Wie hat man sich vor und in der Versuchung zu verhalten? Wachsamkeit, Selbstzucht und Gebet beugen am besten gegen Versuchungen vor – Wachsamkeit, Selbstzucht und Gebet. Demütiges Vertrauen zu Gott ist besser als Ängstlichkeit. Falsch ist es immer, mit der Versuchung zu verhandeln, zu überlegen, wie weit man gehen kann, ob die Gelegenheit zum Sündigen günstig ist. Nein, nicht warten, sondern sofort handeln. Wer versucht wird, ist verpflichtet, die Versuchung mit seinem Willen abzuwehren. Der Versuchte muss mit seinem Willen der Versuchung beharrlich widerstehen. Am wirksamsten ist die ruhige Ablenkung, sich ablenken von dem lockenden Reiz und sich hinwenden zu anderem Gegenstand ohne Verkrampfung, einfach ruhig ablenken. Das schützt weit mehr vor Einwilligung als direkter Widerstand. Und außerdem: Der Mensch vermag mit Hilfe der Gnade jede Versuchung zu bestehen. Keine Versuchung ist unüberwindlich. Der Mensch vermag mit Hilfe der Gnade jede Versuchung zu überwinden. Er darf sich dieser Gnade auch gewiss sein. „Gott ist getreu. Er wird euch nicht versuchen lassen über eure Kräfte, sondern bei der Versuchung auch den Ausgang schaffen, dass ihr ihn bestehen könnt“, schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth.

Wie entsteht nun, meine lieben Freunde, in unserer Seele aus der Versuchung die Sünde? Welche Stadien sind dabei zu unterscheiden? Nun, der erste und an sich wichtigste Punkt ist: Der Keim der Sünden liegt in bösen und gefährlichen Vorstellungen und Gedanken. Hygiene der Gedanken ist das A und O der Überwindung der Versuchung. Alle Sünden beginnen in der Vorstellung. Und deswegen ist es so gefährlich, sich in bösen Vorstellungen aufzuhalten. Ich muss freilich erklären: Das bloße Nachdenken über das Böse ist noch keine Sünde, ist selbst nicht böse. Aber das Nachdenken kann je nach Inhalt und nach der Veranlagung des Menschen leicht die Neigung zum Bösen hervorrufen. Die zweite Stufe der Versuchung ist die an die Vorstellung sich anschließende unwillkürliche Lust am vorgestellten Bösen, also das, was wir sündhafte Gedanken nennen. Sie ist ein Gefühl sinnlichen oder geistigen Wohlgefallens, eine Angleichung des Willens an den Vorstellungsgehalt. Solange die Lust ungewollt ist, ist sie nicht sündhaft. Aber wenn der freie Wille an ihr positiv teilnimmt, indem er sich die Lust zu Eigen macht, sie hervorruft oder ihr zustimmt, entsteht die „delectatio morosa“, wie die Theologie sagt, also das sündhafte Verweilen in der schlechten Vorstellung, das gewollte sündhafte Verweilen in der bösen Vorstellung, das freiwillige mit Wohlgefallen am Bösen verbundene Verweilen der Gedanken und Empfindungen bei einem sündhaften Gegenstand ohne den Wunsch, das Böse zu tun. Das ist zu beachten: ohne den Wunsch, das Böse zu tun, nur das Wohlgefallen, reines Wohlgefallen am Bösen. Hier muss ich als langjähriger Beichtvater vor einer Gefahr warnen. Meine guten Beichtkinder verwechseln manchmal das Nachdenken über Geschlechtliches mit dem sündhaften Wohlgefallen am Bösen. Das Nachdenken über Geschlechtliches ist keine Sünde, denn das Geschlechtliche ist von Gott geschaffen und darum gut. Nur der Missbrauch des Geschlechtlichen und das Wohlgefallen am Missbrauch des Geschlechtlichen ist Sünde. Das Geschlechtliche ist gut, aber der Missbrauch ist schlecht. Und solange ich nicht am Missbrauch des Geschlechtlichen Wohlgefallen habe, liegt eine Sünde nicht vor. Die Freude, das Wohlgefallen am vorgestellten Bösen heißt deswegen sündhaftes Wohlgefallen, weil der Wille sich an ihm ergötzt und es bejaht. Obschon nicht jede derartige Ergötzung auf eine unreine Tat hinzielt, sondern oft nur Personen, Bilder und Handlungen anderer zum Gegenstand hat, so geht doch das freiwillige, lüsterne Wohlgefallen fast notwendig in unlautere Begierden über. Und das ist die dritte Stufe: Die Fortentwicklung des einfachen Wohlgefallens zum Begehren ist die böse Begierde. Hier wird die bloße Ergötzung an der vorgestellten Sünde zum praktischen Wunsch nach der Sünde ohne – ohne! – den bestimmten Entschluss zur Ausführung. Die Begierde nach den im sechsten und neunten Gebot verbotenen Sünden ist ja schon im Alten Bunde untersagt worden. Und der Herr stellt die Begierde der Tat gleich. „Wer eine Frau anschaut, um sie zu begehren, hat die Ehe schon gebrochen in seinem Herzen.“ Die freiwillige Begierde der bösen Tat nimmt die Art derselben nach Gegenstand und Umständen an. Die vierte und letzte Stufe ist dann der freie Entschluss, die Tat zu vollbringen. Diese Stufe gehört schon mehr zum Wesen als zur Vorbereitung der Handlung. Dieser Entschluss ist die Seele der äußeren Tat.

Aber damit ist die Sünde nicht immer abgeschlossen, meine lieben Freunde. Es gibt auch die rückschauende Billigung und Freude über eine begangene Sünde – die rückschauende und billigende Freude. Man erinnert sich daran, an das Vergnügen – das angebliche Vergnügen –, das man damals gehabt hat. Auch das Bedauern, etwas gebotenes Gutes getan, oder etwas Böses nicht getan zu haben, auch das Bedauern ist eine Sünde. Es kommt vor, dass Menschen sich anklagen, bedauert zu haben, eine Gelegenheit, Böses zu tun, nicht benutzt zu haben, vor allem in der Wehrmacht. Wie die sündhafte Handlung ist auch die spätere Freude über begangene eigene oder fremde Sünden unerlaubt.

Jeden Tag beten wir im Vaterunser: „und führe uns nicht in Versuchung“. Das ist ja das Gebet, das der Herr uns selbst gelehrt hat. Hier wird um die Bewahrung vor der Versuchung, d.h. vor der Gefahr zur Sünde gebetet. Aber es wird ausdrücklich vor einem Hineinführen in die Versuchung durch Gott gesprochen. Das entspricht der jüdischen Denkweise. Jesus war ja Jude und lebte im Judentum, in der jüdischen Religiosität. Und im Judentum war der Gedanke geläufig, dass jede Versuchung von Gott ausgeht. Gott selbst ist es, der den Menschen, und zwar den gerechten, in die Versuchung führt, um ihn zu erproben. Der Engel spricht zu dem jungen Tobias: „Weil du angenehm warst vor Gott, musste die Versuchung dich bewähren.“ Weil du angenehm warst vor Gott, musste die Versuchung dich bewähren. Gott prüft seine Gerechten. Das Ziel der Versuchung ist also ein positives, nämlich die Bewährung und Feststellung der Frömmigkeit. Gott will den Menschen nicht zu Fall bringen. Dagegen erhebt schon das Buch Sirach Einspruch, wenn es schreibt: „Niemand soll sagen, er sei durch Gott zu Fall gebracht worden.“ Im Christentum haben sich wohl schon früh Missverständnisse der sechsten Vaterunserbitte eingestellt. Deswegen hat der Apostel Jakobus in seinem Brief dazu Stellung genommen: „Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Denn Gott kann nicht zum Bösen versucht werden und versucht auch selber niemand. Vielmehr wird jeder versucht, indem er von seiner eigenen Begierde gereizt und gelockt wird.“ Das ist ja eigentlich selbstverständlich. Es ist unmöglich, dass die Vaterunserbitte im Gegensatz zu vielen anderen Aussagen der Heiligen Schrift verstanden würde; der himmlische Vater will doch nicht das Verderben seiner Kinder. Deswegen kann sie nicht so verstanden werden, als ob Gott durch die Prüfung den Menschen zum Bösen führen wolle. Freilich erklärt Jesus selbst, dass sein Leiden für seine Jünger zum Ärgernis werden kann – Ärgernis ist Anlass zur Sünde. Und er sagt auch, dass Satan sich die Jünger ausgebeten hat, um sie zu sieben, wie man Weizen siebt. An diesen Versuchungen ist eben Satan der Hauptverantwortliche, aber es ist auch Gott beteiligt, indem er sie zulässt. Er lässt die Versuchungen über uns kommen. Wenn in jüdischen Gebeten um Bewahrung vor der Versuchung gebetet wird, so kommt darin eine Frömmigkeit zum Ausdruck, der eine vermessene Selbstsicherheit fernliegt. Vor solcher Selbstsicherheit soll auch die sechste Vaterunserbitte uns bewahren. Es liegt immer an Gottes Gnade, dass wir die Versuchung bestehen.

Angesichts der Versuchlichkeit des Menschen gebietet uns die Klugheit und die Heilige Schrift ein doppeltes Verhalten. Nämlich erstens: Achtsamkeit. Wir wissen um unsere Gefährdung und unsere Schwäche. Darum gilt es vorsichtig zu wandeln, die Gelegenheit zum Bösen zu meiden, die Mittel, im Guten zu verharren, anzuwenden. „Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.“ Es hat einmal Einer ein schönes Gebet erfunden. Ein Gebet, das ich – ich gebe es zu – oft bete: Herr, schütze mich nur vor mir selber. Herr, schütze mich nur vor mir selber, vor den Untiefen meines Wesens. Zweitens: Liebe. Wer in der Liebe zu unserem Herrn lebt, wird das Ansinnen des Verführers sofort und entscheidend zurückweisen. Wie könnten wir den geliebten Herrn betrüben, ihm undankbar sein, die Treue verraten! „Wer mit starker Liebe liebt, steht fest in allen Versuchungen und traut den listigen Einflüsterungen des bösen Feindes nicht“, schreibt das Buch von der „Nachfolge Christi“.

Amen.             

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt