12. Mai 2008
Heiliger Geist – Spender aller Gnaden
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Pfingsten ist heute. Die Kirche weitet den Pfingstsonntag aus für die ganzen folgenden Tage, die Pfingstoktav, und mit Recht. Pfingsten ist das Fest des Heiligen Geistes und damit auch das Fest der Gnade. Denn der Heilige Geist ist der Träger und der Bringer der Gnade. Wir feiern heute gewissermaßen die letzte Tat des Auferstandenen, nämlich die Sendung des Heiligen Geistes.
Gnade. Brauchen wir Menschen Gnade? Es gibt zweifellos Zeitgenossen, denen sind der Beruf, das Essen und das Trinken und die Vergnügungen dieser Erde mehr wert als die Gnade. Für jeden denkenden, in sich selbst schauenden und sich erkennenden Menschen aber ist die Notwendigkeit der Gnade offensichtlich. Denn er kennt Stunden des Verzagens an sich selbst, Stunden, wo er seine Kraft fehlen spürt. Wie oft haben selbst die Großen im Gottesreich, wie Moses oder Isaias, Stunden solchen Verzagens erlebt und gesagt: „Herr, sende mich nicht! Sende einen anderen, ich bin zu schwach.“ Es scheint, als ob in unseren Tagen die Seelen besonders die Notwendigkeit der Gnade verspüren ob ihrer Ohnmacht. Ich rede nicht von denen, die sich mit törichten Entschuldigungen von ihren Verfehlungen freizukaufen versuchen: Man kann nicht immer die Wahrheit sagen, nicht wahr? Und: Man kann nicht immer die Keuschheit üben. Von solchen rede ich nicht, sondern in spreche hier von jenen, die sich ringend bemühen, den Willen Gottes zu erfüllen, die aber dennoch oft von heiliger Verzagtheit ergriffen werden, von jener Stimmung, an der kein Mensch ohne tieferes Nachdenken vorbeikommt. Menschen, die spüren, dass sie rufen müssen: Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Das haben wir vielleicht empfunden, als ein schweres Leid uns niederdrückte, als wir unsere Kraft zerbrechen spürten, als unsere Seele wimmernd vor dem Herrgott stand. Vielleicht haben wir unsere Ohnmacht auch gespürt, als wir mit Lob überschüttet wurden, mit Lobsprüchen; denn ein ehrlicher, sich selbst kennender Mensch denkt dabei: O, wie werde ich da verkannt! Wie sind die Menschen grausam! Wie weh tun sie mir mit ihrem Lobe! Denn ihr zeigt mir nur, wie ich sein sollte, und nicht, wie ich bin. Manchmal werden wir durch eine Niederlage aus unserem selbstsicheren Wesen herausgerissen und erschrecken über uns selbst: So also bin ich! Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal beobachtet haben, meine lieben Freunde, wenn ein gütiger Mensch, den man sich gar nicht anders als wohlwollend vorstellen kann, die Herrschaft über sich selbst verliert. Da geht es wie ein Erschrecken durch alle Seelen in der Umgebung: So ist der auch? Auch der ist so? Und vielleicht erschrickt dieser arme Mensch im nächsten Augenblick über sich selber: So also bin ich – nach Jahren der Arbeit an mir, nach vielen Mühen eines jahrelangen, jahrzehntelangen Christenlebens? So also bin ich? Wer ist nicht schon einmal über sich selbst erschrocken? Ich bin ja gar nicht so, wie ich mich nach außen gebe und wie die Menschen von mir annehmen. Ich habe bei dem englischen Kardinal Heenan in seiner Autobiographie „A Crown of Thorns“ den ergreifenden Satz gelesen: „Wenn die Menschen wüssten, wie ich wirklich bin, würden sie allen Respekt vor mir verlieren.“ Das schreibt der englische Kardinal Heenan.
Und dann kommt noch die äußere Not dazu, in der Gegenwart, in der Zukunft. Wer mit wachen Augen durch die Welt geht, der kann gar nicht an dieser Not vorübergehen – das Klima, die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Jugend, die Kirche, die Priester, der Priesternachwuchs. So viele Sorgen, so viele Befürchtungen. Was soll noch werden? Wie soll es weitergehen? Was soll aus mir werden? Werde ich das Leben, seine Prüfungen und seine Entbehrungen bestehen? Werde ich mit der Last meiner Vergangenheit, den Anforderungen meiner Gegenwart und den Ungewissheiten meiner Zukunft zurechtkommen?
Aus diesem dunklen Hintergrunde, meine lieben Freunde, lässt die Kirche das Licht ihrer Lehre von der Gnade aufleuchten. Zwei Sätze möchte ich Ihnen heute einprägen. Erstens: Es gibt eine Gnade! Es gibt geheimnisvolle Kräfte, welche die Seele treffen, eine innere Freudigkeit, eine Erleuchtung, eine Wegweisung, einen innerer Antrieb. Und das alles kommt von Gott. Es ist nicht wahr, dass es nur elektrische Energie gibt oder Gravitationsanziehung. Nein, es gibt auch Kräfte, die in die Seele selbst greifen und die Seele in ihren tiefsten Gründen anrühren. Was ist die Gnade? Der Katechismus gibt die Antwort, die immer gültig sein wird, wie sie gültig war, als die ersten Katechismen entstanden. Die Gnade ist eine innere Gabe, die Gott uns zu unserem ewigen Heile verleiht. Jede innere Gabe, die Gott uns zu unserem Heile verleiht, nennen wir Gnade. Und Sie erinnern sich auch, dass es zwei hauptsächliche Arten von Gnade gibt, die helfende Gnade und die heiligmachende Gnade. Die helfende Gnade ist jene Kraft, mit der wir das Gute zu erkennen und zu tun vermögen und das Böse zu meiden imstande sind. Die heiligmachende Gnade macht uns Gott wohlgefällig, zu Kindern Gottes und zu Erben des Himmels. Sie gibt unserer Seele eine neue Qualität. Und diese Gnade brauchen wir. Unsere Bekehrung zu Gott ist unmöglich ohne seine anregende und helfende Gnade. Die Gnade kommt dem, der nicht will, zuvor, dass er wolle, und die Gnade folgt dem, der will, dass sein Wollen nicht vergeblich bleibe. Niemand ist imstande, das Gute zu tun, das er will, und das Böse zu meiden, das er nicht will, außer durch die Gnade Gottes.
Manchen kommen die Gebote Gottes schwer vor: Ich kann es nicht, ich schaffe es nicht, Gott befiehlt Unmögliches. Nein, meine Freunde, Gott befiehlt nicht Unmögliches, aber Vollkommenes. Wenn er befiehlt, mahnt er zugleich, das zu tun, was wir können, und das zu erbitten, was wir nicht können. Und dann hilft er, dass wir es können. Der erste Satz lautet: Es gibt eine Gnade!
Der zweite Satz heißt: Alle Gnade wird uns gegeben um der Verdienste Jesu Christi willen. Wir sprechen deswegen von der Gnade Christi. Er hat sie uns verdient durch sein Leben, Leiden, Sterben, Auferstehen und Himmelfahren. Die Kirche pflegt ihre liturgischen Gebete zu schließen mit der Formel: „Durch Jesus Christus.“ Das ist keine Floskel, das ist keine Phrase, meine lieben Freunde. Das ist eine fundamentale theologische Aussage. Denn diese Worte: „Durch Jesus Christus“ –durch! – wollen uns erklären, dass Jesus unser Mittler ist, dass er unsere Gebete zu Gott trägt und dass er von Gott die Erhörung erwirkt. „Durch Jesus Christus“, das sollten wir mit Bewusstsein und mit Verstand beten. Damit appellieren wir an das Herz unseres Heilandes, an das Herz unseres Mittlers. „Es gibt nur einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Menschen Jesus Christus.“ So schreibt Paulus in seinem ersten Brief an Timotheus. Und im Hebräerbrief, da steht der fundamentale Satz: „Jesus ist der Mittler eines neuen Bundes.“
Wir sprechen also von der Gnade Christi und meinen damit das Erlösungswerk, das Gott in Christus zu unserem Heile gewirkt hat. Wir appellieren an die Wunden Christi, die zu unserem Heile geöffnet wurden. Und die Gnade trifft uns so, wie jetzt im Frühling die Sonne das neue Leben hervorbringt. Wenn die Strahlen der Sonne kommen, die Wärme mit sich bringen, dann erwacht das Leben. Es ist ergreifend, das in unseren Gärten und auf den Feldern zu beobachten. Überall fängt es langsam an zu grünen, und manchmal fast explosionsartig. Ähnlich ist es mit der Gnade. Die Strahlen der Gnade gehen aus dem Herzen Jesu hervor und treffen uns. Sie treffen das schlafende Kind, das zur Taufe getragen wird, sie treffen den Kranken auf dem Operationstisch, und sie treffen den Sterbenden. Sie begleiten auch den Priester am Altare, und sie treffen den gläubigen Beter im Kämmerlein und in der Kirche. Dieser Glaube an die Gnade gibt uns Zuversicht, Trost und Kraft. Ja, es gibt eine geheimnisvolle Welt mit ihren Wundern hinter den äußeren Dingen. Das ist der Grund für die Zuversicht der Kirche. Menschlich gesehen müsste man verzagen und verzweifeln; menschlich gesehen ist alles verloren. Aber wir rechnen eben nicht nur mit dem Menschlichen, wir rechnen mit dem Göttlichen, wir rechnen mit der Gnade, und wir bauen auf die Gnade, und wir hoffen gegen alle irdische Hoffnung, gestützt auf göttliche Hoffnung.
Was wäre die Welt, wenn wir diese Gnade nicht hätten? Wenn ein Gewohnheitssünder in den Beichtstuhl kommt und der Priester fragt ihn: Wie lange leben Sie in diesem Zustand? 15, 20 Jahre. Wenn man nicht wüsste, dass es eine Gnade gibt, dann wäre es zum Verzweifeln. Aber wir wissen, dass auch einen solchen Gewohnheitssünder die Gnade herausreißen kann aus seiner Not. Oder wenn ein Menschenkind in einer ganz verseuchten Umgebung heranwächst, in der es nach menschlichem Ermessen nicht gut bleiben kann, wenn man nicht wüsste, dass es eine Gnade gibt, dann müsste man auch hier verzweifeln. Oder was soll ich von uns Seelsorgern sagen, meine lieben Freunde? Wenn wir durch die Straßen gehen und wissen, wieviel Abfall, wieviel Abständigkeit, wie viel Laster in diesen Häusern wohnt, dann müssten wir nach menschlichem Ermessen verzweifeln, dann wäre das Priesterleben das nutzloseste und sinnloseste der ganzen Welt. Aber nein: Es gibt eine Gnade, und sie vermag den Gewohnheitssünder zur Umkehr zu bewegen. Sie vermag Kinder aus diesen Miasmen der Verdorbenheit zur Reinheit zu führen. Und sie vermag dem Priester Zuversicht zu geben, dass sein Wirken letztlich doch nicht umsonst, nicht vergeblich ist. Es gibt eine Gnade!
Wenige haben sie so tief erfahren wie der heilige Augustinus. Sie wissen, dass er im Laster gelebt hat und nach langem Kampfe erst sich bekehrt hat. Er schildert seine Bekehrung in seinen „Confessiones“ – in seinen Bekenntnissen. Und das ging folgendermaßen zu. Ein Gast war zu ihm gekommen und erzählte ihm von der merkwürdigen Bekehrung zweier Menschenseelen am kaiserlichen Hofe. „Während der Erzählung“, so berichtet Augustinus, „schaute ich mich und erschrak, und ich wusste doch nicht, wohin ich fliehen sollte.“ Das Erschrecken über sich selbst, das Erschrecken über sich selbst ist häufig der Anfang der Bekehrung. Augustinus stürzte hinaus in den Garten. Er war nicht mehr der feingebildete Rhetor voller Selbstbeherrschung, sondern nur noch der ringende Mensch. Der Freund folgte ihm; er wollte ihn in dem zerrütteten Seelenzustand nicht alleine lassen. Weit weg vom Hause setzten sie sich nebeneinander. Augustinus beschreibt dann, wie er seine Fassung verlor. Er gebärdete sich wie ein Verzweifelter, und dabei sagte er das Wort: „Du aber, Gott, setztest mir zu!“ „Du aber, Gott, setztest mir zu!“ Der Freund saß schweigend neben ihm. Er wusste, dass hier zwei Welten um Augustinus rangen. Da nützte des Menschen Wort nichts. „Du aber setztest mir zu!“ Augustinus sprang auf, ging weiter in dem Garten. Im äußersten Kampf mit sich selbst warf er sich unter einen Baum: „Du aber setztest mir zu!“ Es sollte sich entscheiden, ob die Kirche einen Heiligen oder die Hölle einen Vorkämpfer gewinnen sollte. Endlich siegte die Gnade. Eine Kinderstimme rief: „Nimm und lies!“ Er griff zur Bibel, zu den Paulusbriefen, und las, und seine Seele gesundete. Das war die Bekehrung des heiligen Augustinus, wie er sie selbst in seinen „Confessiones“ beschrieben hat. „Du aber setztest mir zu!“ Die Gnade hat ihm keine Ruhe gelassen. Die Gnade ist ihm gefolgt, und die Gnade hat ihn besiegt.
Gibt es nicht auch, meine lieben Freunde, in unserem Leben Stunden, in denen wir empfinden, dass Gott in unsere Seele eingreift? Was Augustinus erlebt hat, das hat sich in unzähligen Leben wiederholt. Warum sprechen wir davon, und warum hat es Augustinus aufgeschrieben? Er hat die Antwort gegeben: „Damit niemand sagen kann: Ich kann nicht.“ Das ist nämlich die Ausrede, die wir Menschen gebrauchen: Ich kann nicht beten, ich kann nicht beichten, ich kann nicht in die Kirche gehen – ich kann nicht. Meine lieben Freunde, zerbrechen wir dieses Wort! Jeder, der will, kann. Du hast soviel Gnade, dass du selig werden kannst. Du kannst, weil du musst. Du kannst, wenn du willst.
Amen.