Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
6. November 2011

Dem Nächsten verzeihen – Pflicht des Christen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„So wird auch euer himmlischer Vater mit euch verfahren, wenn nicht ein jeder von euch seinem Mitbruder verzeiht.“ Das Thema der heutigen Lesung ist die Verzeihung. Die Verzeihung ist vielleicht etwas vom Schwersten im Christentum, aber sie ist auch erst mit dem Christentum in die Welt gekommen. Das Christentum ist tatsächlich die Religion der bedingungslosen Verzeihung.

Jeder liebt sein Recht. Wenn es verletzt ist, dann empört sich der innere Mensch. Es widersetzt sich der gekränkte Stolz. Der Mensch verschließt sein Herz. Die Verzeihung ist eine Tochter der Feindesliebe. Der Herr aber hat uns die Feindesliebe zum Gebot gemacht: „Du sollst deinen Feind lieben!“ Das ist etwas vom Schwersten im Christentum. Manche Gegner unserer Kirche tun immer so, als ob das Schwerste die Beherrschung der geschlechtlichen Sittlichkeit wäre. Viel schwerer ist es, die Feindesliebe zu üben, die Liebe, die Herr uns vorgemacht hat am Kreuze: „Vater, verzeih ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“ Es ist Pflicht, Rachsucht und Haß zu meiden; das verlangt die Feindesliebe. Sie verlangt aber auch die äußere Aussöhnung. Christen sind durch Gottes Gebot zur Feindesliebe und zur Versöhnung mit dem Gegner verpflichtet.

In dem Gebet, das uns der Herr gelehrt hat, heißt es ja: „Vergib uns die Schuld, wie wir vergeben haben.“ Ich glaube, dass damit der Herr seine Vergebung abhängig gemacht hat von unserer Vergebung. Wenn wir nicht vergeben, wenn wir uns verhärten gegenüber dem, der sich an uns versündigt hat, dann kann uns der Herr auch nicht vergeben. Die Erfüllung der Vaterunserbitte hängt ab von unserer Versöhnungsbereitschaft. Dabei ist ja ein gewaltiger Unterschied zwischen den Verfehlungen, die wir gegen Gott begangen haben, und den Angriffen, die wir von seiten der Menschen erdulden müssen. Häufig handelt es sich da um Lappalien; ein verletzendes Wort, ein Mensch, der uns seine Höflichkeit nicht zeigt, jemand, der eine Bitte um eine Hilfe übersieht, ein Lob, das uns nicht gespendet wird, obwohl wir es verdient hätten, ein unüberlegtes Wort, das sind gewöhnlich die Dinge, die uns aufregen, Kleinigkeiten, Lappalien. Selten ist es, dass eine schwere Beleidigung erfolgt, eine Ehrenkränkung, eine Untergrabung der Existenz, ein Anschlag auf Leben und Seele. Nein, gewöhnlich sind es geringfügige Dinge.

Aber da höre ich einen Einwand: Ich darf es nicht unterlassen, dem anderen zu zeigen, dass er unrecht hat. Ich muss es ihm unter die Nase reiben. Meine lieben Freunde, meine Erfahrungen sind andere. Wenn der, der Unrecht tut, nicht von sich aus, von selbst zu der Einsicht kommt, dass er unrecht gehandelt hat, dann hilft ihm gewöhnlich keine Ermahnung, keine Schelte und keine Drohung. Er muss von selbst einsehen, dass er unrecht getan hat. Er muss, von seinem Gewissen gemahnt, sich zu der Erkenntnis durchringen, Schuld auf sich geladen zu haben. Ein anderer Einwand lautet: Ich kann mir das nicht gefallen lassen. Ich will Vergeltung. Ich will es ihm heimzahlen. O, meine lieben Freunde, wenn immer heimgezahlt wird, dann kommt das Böse nie zu einem Ende, denn dann schlägt der andere wieder gegen das Heimzahlen aus. Das ist eine endlose Kette. Jeder Schlag, den man abwehrt durch Zurückschlagen, erzeugt einen neuen Schlag. Das Böse soll doch einmal zu Ende kommen. Es kommt zu Ende, wenn ich nicht mehr zurückschlage.

Auf dieser Erde muss man willig sein, Unangenehmes hinzunehmen. Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen schon einmal erzählt hatte: Wir hatten einen Direktor im Gymnasium, der ein harter, ein barbarischer Mann war. Aber selbst dieser harte Mann hat Richtiges gesagt. Er belehrte uns einmal: „Jungs, ihr müßt lernen, ungerechte Kritik zu ertragen.“ Der Direktor hat recht. Man muss lernen, ungerechte Kritik zu ertragen. Ohne Nachsicht, ohne Übersehen, ohne Schweigen wäre das Leben eine endlose Kette von Streit. Man muss bereit sein, sich etwas gefallen zu lassen. Man muss verzichten auf Zurückschlagen. Der Apostel Petrus hat uns in seinem ersten Briefe den Heiland vorgestellt: „Da er gescholten wurde, schalt er selbst nicht. Da er litt, drohte er nicht, sondern stellte seine Sache dem gerechten Richter anheim.“ Also der Herr hat nicht zurückgeschlagen.

Erinnern wir uns der Ratschläge, die uns das Buch von der Nachfolge Christi gibt: „Wenn du nichts Unangenehmes leiden willst, wie kannst du dann ein Freund des leidenden Christus werden?“ Ich wiederhole noch einmal: „Wenn du nichts Unangenehmes leiden willst, wie kannst du dann ein Freund des leidenden Christus werden?“ „Wofür sollte deinen Geduld gekrönt werden, wenn du nichts Widriges erdulden willst?“ „Wofür sollte deinen Geduld gekrönt werden, wenn du nichts Widriges zu erdulden hättest?“

Ein Hilfsmittel, um versöhnlich gestimmt zu werden, ist, sich selbst zu fragen, ob man nicht mitschuld ist am Benehmen des anderen, an seinem Aufbrausen, an seinem Streit. Ist vielleicht in unserem Verhalten etwas Überhebliches, etwas Wegwerfendes, etwas Liebloses? Sind wir vielleicht von Natur aus zänkisch oder zynisch? Sticheln wir? Sind wir vorlaut? Sind wir kurz angebunden, rechthaberisch, unnachgiebig, launisch, im Urteil übereilt? Das müssen wir uns fragen. Dann werden wir oft erkennen, dass das Verhalten des anderes provoziert wurde durch unser eigenes. Ein weiterer Grund, den Schlag des anderen auszuhalten, ist darin gelegen, dass der andere ja nicht bloß feindselig, nicht bloß unerträglich, nicht bloß schlecht ist. Er hat auch gute Eigenschaften. Vielleicht haben wir es auch schon erfahren, vielleicht hat er uns schon Gutes erwiesen. Wir können uns an die Freundlichkeit und Guttat erinnern, die wir von ihm schon erfahren haben. Und jetzt, wenn er uns enttäuscht, dann in Gottes Namen, tragen und ertragen wir es. „Du kannst nicht einmal aus dir selbst den Menschen schaffen, den du gern aus dir machen möchtest. Wie wirst du einen anderen nach deinem Sinne und Gefallen umschaffen können?“

Wiederum ein Wort aus dem Buch von der Nachfolge Christi. „Du kannst nicht einmal aus dir selbst den Menschen schaffen, den du gern aus dir machen möchtest. Wie wirst du dann den anderen nach deinem Sinne und Gefallen umschaffen können?“ In jedem Falle, meine lieben Freunde, ist derjenige sittlich stärker, der verzeiht. Wer Böses mit Gutem vergilt, eine Schmähung mit Großmut hinnimmt, der ist kein Feigling und Schwächling, sondern der ist ein Sieger, ein Sieger nämlich über das aufwallende Begehren, über den aufwallenden Zorn in seinem Inneren. Mit seiner Geduld entwaffnet er den Gegner und gewinnt ihn. „Vergeltet niemand Böses mit Bösem“, mahnt der Apostel Paulus im Römerbrief. „Rächet euch nicht selbst, sondern lasset Raum dem Zorne Gottes! Vielmehr – und jetzt kommt es – wenn dein Feind hungert, dann speise ihn; wenn er dürstet, dann tränke ihn. Wenn du das tust, sammelst du feurige Kohlen auf sein Haupt.“ Das bitte ich Sie zu beachten: „…sammelst du feurige Kohlen auf sein Haupt.“ Was heißt das? Nun, der Feind, dem man Gutes erwiesen hat, wird nachdenklich werden. Er wird sich überlegen, ob er recht gehandelt hat. Er wird in sich gehen, er wird sein Gewissen befragen und er wird sich schämen. Wenn du das tust, sammelst du feurige Kohlen auf sein Haupt. Willst du Befriedigung für einen Augenblick, dann räche dich. Willst du Befriedigung für immer, dann vergib.

Von einem amerikanischen Bischof – die Amerikaner sind ja überaus praktisch – stammt das schöne Wort: „Verzeihe schnell, das spart Zeit und fördert die Verdauung.“ Ein Beispiel für solche Verzeihung gibt uns der heilige Clemens Hofbauer, der Apostel von Wien. Er reiste damals mit der Postkutsche, und ihm gegenüber saß ein junger Mann, der sich nicht genug tun konnte, die Geistlichen zu schmähen. Der heilige Clemens sagte nichts. Als das Gefährt mittags anhielt vor einem Gasthof, da gingen die Reisenden in die Gaststube, nur der Schmäher konnte nicht mit ihnen gehen, denn er war elend beisammen, er war ein Krüppel. Da nahm ihn der Clemens Hofbauer in seine Hände und trug ihn in das Gasthaus und bestellte ihm eine Speise und einen Trank. Der Mann wurde zuerst still, und dann brach es in Tränen aus ihm heraus und er bedauerte, dass er einen so edlen Priester so gemein beschimpft hatte. Das Gutsein weckt das Gutsein im anderen. Wenn wir gut zum anderen sind, rufen wir in seiner Seele die guten Anlagen auf. Das Verzeihen befreit die eigene Seele. Es läßt keinen Groll aufkommen. Groll ist etwas vom Schädlichsten für unseren seelischen Haushalt. Groll ist die Unversöhnlichkeit, das Nachtragen des angetanen Unrechts, der Drang nach Vergeltung, die Rachsucht. Groll zerstört die menschlichen Beziehungen. Wer grollt, kann dem anderen nicht mehr freundlich, nicht mehr unbefangen gegenübertreten. Der Groll zerfrißt auch den Menschen selbst. Er macht ihn bitter und verbittert. Der Groll macht auch körperlich krank. Wer einem anderen grollt, fügt sich und dem anderen großen Schaden zu.

Die Verzeihung, die uns abgefordert wird, meine lieben Freunde, muss eine ganze und eine rückhaltlose sein. Die Menschen lieben es, Vorwürfe, versteckte Vorwürfe immer wieder vorzubringen, hämische Anspielungen. Das ist kein Verzeihen. Ich habe einmal folgendes erlebt in dieser Kirche. Ich hielt einem Priester zu seinem 50jährigen Priesterjubiläum die Festpredigt. Dabei erwähnte ich die Leistungen und die Mühen des Jubilars. Im nächsten Mitteilungsblatt der Pfarrei zerpflückte der Nachfolger dieses Pfarrers meine anerkennenden Ausführungen und stellte sie als unzutreffend oder übertrieben hin. Er vermochte den Groll oder die Abneigung gegen seinen Vorgänger nicht zu überwinden – und das unter Priestern.

Wenn Gott verzeiht, ist die Sünde, ist die Schuld vernichtet, in den Abgrund seiner Barmherzigkeit geworfen. Gott kommt auf die Dinge, die einmal vergeben sind, nie mehr zurück. Auch die Verdammten in der Hölle werden nicht die Sünden vorgehalten bekommen, die vergeben wurden, sondern die anderen, die sie sich nicht haben vergeben lassen. Anders ist es bei den Menschen. Menschen kommen immer wieder auf erlittenes Unrecht zurück. Sie wollen es immer wieder den anderen unterbreiten, unter die Nase reiben, wie man sagt. Das ist kein rechtes Verzeihen. Das rechte Verzeihen läßt keinen Rest an Groll in uns zurück.

Vielleicht sind wir bereit, einmal eine Beleidigung zu vergeben. Aber wenn die Beleidigung sich wiederholt, dann möchten wir es als ungerechte Zumutung zurückweisen, immer wieder verzeihen zu müssen. Der sündigt ja auf meine Gutheit, der sündigt ja auf meine Nachsicht, so sagen wir. Erinnern wir uns daran, meine lieben Freunde, wie oft wir unseren Herrn und Heiland beleidigt haben, und immer wieder hat er uns vergeben. Niemals hat er gesagt: Es ist zu viel, es ist genug, jetzt gebe ich keine Verzeihung mehr. Einmal trat Petrus, der Erste der Apostel, zu Jesus und fragte: „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er wider mich sündigt? Etwa siebenmal?“ Der Herr antwortete: „Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“ Das heißt: immer.

Dem Verzeihen darf keine Grenze gesetzt werden. Im Lukasevangelium ist das eben erwähnte Wort noch unterstrichen durch ein anderes, da heißt es nämlich: „Der Herr erklärte: Sollte dein Bruder dich siebenmal am Tage gegen dich verfehlen und siebenmal am Tage sich wieder an dich wenden und sagen: Es reut mich, so vergib ihm.“ Jetzt verstehen wir vielleicht die Handlungsweise des heiligmäßigen Kardinals Capranica. Wenn er von einem Unversöhnlichen erfuhr, dann nahm er ihn mit sich in sein Zimmer, schloß ab, und dann kniete er vor ihm nieder und bat ihn kniefällig, doch den Frieden wiederherzustellen. Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute.

Amen.

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