27. April 2003
Das Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das Christentum eröffnet uns eine Welt der Schönheit und der Reinheit. Seine Feste sind von einem Glanz erfüllt, der sonst nirgends zu finden ist. Seine Heiligen kommen zu uns wie aus einem goldenen Grunde, und die Kunst des Christentums ist so zartsinnig und so fein, wie es keine andere Kunst je sein kann. Das Christentum stellt uns ein Ideal vor, ein ideales Ziel und eine ideale Lebensweise. Das Christentum wirkt idealisierend, d.h. verklärend auf die Welt. Diese Tatsache wird aber von manchen zum Anlaß genommen, einen Vorwurf daraus zu konstruieren. Sie sagen: Diese Welt des Christentums ist eine Traumwelt, ist eine Scheinwelt; die Wirklichkeit, die Realität, ist anders, und wer sich in diese Traumwelt hineinbegibt, der ist in der Gefahr, die wirkliche Welt zu übersehen und zu vergessen. Mir sagte einmal ein Theologieprofessor: „Ich habe den Eindruck, daß die Kirche zu viel verspricht.“
Nun gibt es tatsächlich eine Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit. Aber diese Spannung ist nicht nur zwischen Christentum und Welt, sondern diese Spannung geht durch das ganze Leben und durch die ganze irdische Wirklichkeit hindurch. Überall spüren wir dieses Mißverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit. Unsere Vorstellungen gehen weit über das hinaus, was die Wirklichkeit dann bietet; unsere Erwartungen übertreffen das, was sich dann in der Wirklichkeit als Erfüllung zeigt; unsere Vorsätze und unsere guten Meinungen gehen weit hinaus über unsere Werke, die diesen Vorsätzen folgen. Die Wirkung dieses Mißverhältnisses ist Enttäuschung. Wir sind enttäuscht, wir verstehen nicht, wir verwundern uns, daß es so ist, wie die Wirklichkeit sich uns nun einmal tatsächlich zeigt. Dann kann es dazu kommen, daß man irre wird, irre wird an der Welt, irre wird an sich selbst, irre wird an seinem Gott. Daß das nicht geschehen darf, daß die Spannung, die unbeschreibliche und unbestreitbare Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit uns nicht zum Verhängnis wird, das wollen wir heute zu betrachten versuchen, indem wir erstens sprechen von dem Ärgernis, das wir an der Welt nehmen, zweitens von dem Ärgernis, das wir an uns selbst nehmen, und drittens von dem Ärgernis, das wir an Gott nehmen.
Das Ärgernis, das wir an der Welt nehmen, an den Menschen, ist weit verbreitet. Die Größe des Menschen wird in Heldensagen und Gedichten gepriesen; die großen Männer und Frauen der Zeit und der Vorzeit werden uns vorgestellt. Aber wenn man sie in der Nähe besieht, wenn die Tünche und die Schminke von ihnen abfällt, dann sieht man, wie klein und wie kleinlich, ja wie erbärmlich oft die Menschen sind. Die Helden sind nicht so groß, wie man sie uns vorstellte; die Weisen sind nicht so weise, wie man sie uns zeigte; das Kind, über das so viel Aufhebens gemacht wird, das Kind stellt sich dar als ein ungezogener Bengel; der Vatername, den wir sogar Gott geben, dieser Vatername weckt in vielen Menschen peinliche und beschämende Erinnerungen; die Mutterliebe, die ja so sehr gefeiert wird, ist selten so rein und so heilig, wie sie dargestellt wird. Die Ehe ist nicht so selig, wie man uns weismachen will; o Gott, sie ist nicht so selig! Die Klöster sind nicht erfüllt von Heiligen, wie man meinen möchte. Die Priester sind nicht so von Ewigkeitsgedanken erfüllte Hirten und selbstlose Diener des Volkes, wie sie versprechen. Alles Menschliche, alles Irdische, alles Vaterländische, alles Kirchliche – aus der Nähe betrachtet – wirkt klein, wirkt erbärmlich. Der radikale Nietzsche hat das einmal in die Worte gefaßt: „Ich sah den größten und den kleinsten Menschen; ich sah sie beide nackt: allzu ähnlich waren sie beide.“
Wie kommt es zu einem solchen Mißverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit unter den Menschen? Der erste Grund ist in der Übertriebenheit unserer Vorstellungen gelegen. Wir haben übertriebene Vorstellungen von den Menschen, von ihrer Größe, von ihren Leistungen, von ihrem inneren Wesen, und diese Übertriebenheit muß dann notwendig scheitern, wenn sie mit der Wirklichkeit konfrontiert wird. Ein zweiter Grund für dieses Mißverhältnis ist darin gelegen, daß wir zu selbstsüchtige Erwartungen an die Menschen haben. Viele Menschen denken, wenn sie den anderen sehen, nur daran: Was habe ich von ihm? Welchen Nutzen habe ich von ihm? Was kann ich mir von ihm für einen Vorteil verschaffen? Und wenn dann diese Erwartungen nicht in Erfüllung gehen, sind sie enttäuscht. Eine dritte Wurzel dieses Mißverhältnisses zwischen Ideal und Wirklichkeit bei den Menschen ist in der geschöpflichen Begrenztheit, in der allmenschlichen Unzulänglichkeit gelegen. Die Menschen sind eben Geschöpfe, und das heißt, sie sind begrenzt, sie sind endlich, sie haben ihre Schwächen. Selbst wenn man von der Sünde einmal absieht, so ist doch in den Menschen vieles, was nicht ausgereift ist, was nicht gelungen ist, was nicht zum Gipfelpunkt gediehen ist. Die Unzulänglichkeit, die allmenschliche Unzulänglichkeit der Menschen ist eine der Wurzeln für das Mißverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit.
Nun ist es aber eine Frage der christlichen Lebenskunst, daß man dieses Verhältnis meistert. Wir sind aufgefordert, mit diesen Umständen fertig zu werden. Wie macht man denn das? Nun, erstens, indem man seine Vorstellungen läutert, indem man sie herabschraubt, indem man die Übertriebenheit dieser Vorstellungen preisgibt. Zweitens: Wir dürfen uns keine allzu hohen Erwartungen machen von den Menschen, vor allen Dingen nicht, was uns selbst angeht. Je weniger einer für sich selbst erwartet, um so weniger wird er auch enttäuscht. Je mehr einer von den Menschen erwartet – „Das muß er tun; darauf kann ich rechnen; da habe ich ein Anrecht“ – um so größer, um so häufiger, um so rascher ist die Enttäuschung. Wir müssen unsere Erwartungen herabschrauben. Vor allem aber, und das ist wohl das Entscheidende, es muß eine große Milde und Güte in unserer Seele aufstehen; wir müssen die Menschen mit Wohlwollen, mit Rührung betrachten; wir müssen das Edle, das Vornehme, das Sich-Durchringen zum Guten in ihnen sehen. Es muß uns an den Menschen etwas liegen, und wir müssen ein Mitleid mit ihnen haben, wenn sie sich ihre Finger blutig reißen an den Mauern ihrer Leidenschaften, ihrer Triebe, ihrer bösen Neigungen. Nur so kann man Seelsorge betreiben, daß man eine Güte, eine grenzenlose Güte im Herzen trägt zu der gefallenen Kreatur, und diese Güte nennt man Barmherzigkeit.
Es besteht eine Spannung zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit auch in uns selbst. Es ist eine Gnade, meine lieben Freunde, wenn man dazu kommt, einmal diese Spannung in sich selbst zu erkennen und zu begreifen. Das ist eine Gnade. Vielleicht kommen nur wenige Menschen dazu, sich selbst zu erkennen, die Weite des Abstandes zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit wahrzunehmen. Es ist eine Gnade, zu erkennen, wie hoch die Vorstellungen, die wir uns von uns selber machen, sind gegenüber der tatsächlichen Lage. Wenn wir erkennen, wie viele Verheißungen von uns ausgehen und wie kläglich die Erfüllungen sind, wenn wir einmal dazu kommen, daß wir uns nicht mehr so wichtig nehmen, daß wir uns zurücknehmen, daß wir uns hinter andere zurücksetzen, wenn wir einmal über uns weinen können, bitterlich weinen, wie Petrus über sich geweint hat, dann haben wir die Gnade der Selbsterkenntnis gewonnen. Solche Erkenntnis erwächst zum Beispiel aus der Gewissenserforschung. Wer wirklich sein Gewissen gründlich erforscht, wer wirklich in sein Inneres schaut mit den Augen Gottes, wer wirklich die Falten seiner Seele aufdeckt, der muß doch über sich selbst in Not und in Angst geraten. Ich denke an eine Äußerung des englischen Kardinals Heenan, der einmal in seiner Autobiographie schreibt: „Die Menschen würden allen Respekt vor mir verlieren, wenn sie wüßten, wie ich wirklich bin.“ Wahrhaftig: „Die Menschen würden allen Respekt vor mir verlieren, wenn sie wüßten, wie ich wirklich bin.“ Diese Erkenntnis ist dem großen Bischof von Liverpool geworden.
Eine solche Erkenntnis kann auch aufstehen, wenn man einem Menschen begegnet, der wirklich ein Christ ist, dessen Herz wirklich nach Gottes Absichten gebildet ist. Dann spürt man den Abstand, den Abstand, in dem man selbst von einem solchen Menschen steht. Vor allem aber kann diese Erkenntnis uns werden, wenn wir Gott begegnen, wenn wir dem unendlichen, dem unbegreiflichen, dem gewaltigen Gott begegnen. Dann steht in uns auf die Empfindung, die Petrus ausgesprochen hat: „Herr, geh weg von mir, ich bin ein sündiger Mensch!“ Wenn wir diese Erkenntnis in uns vollziehen, wie groß der Abstand der Verheißungen, die wir erwecken, zu der Wirklichkeit unseres Seins ist, dann beginnt eine Krise. Denn jetzt kommt es darauf an, was wir aus dieser Erkenntnis machen, wie wir mit dieser Erkenntnis umgehen, wie diese Erkenntnis sich auswirkt. Es kommt darauf an, ob das Lächeln über uns zu einem Hohnlachen wird, ob das Weinen über uns zu einer Verzweiflung wird, ob die Selbsterkenntnis zu einem Selbstmord wird. Das ist entscheidend, was wir aus dieser Erkenntnis unserer Nichtigkeit machen. Wir haben Bilder aus der Heiligen Schrift, die uns zeigen, wie Menschen mit dieser Erkenntnis umgegangen sind. Kain erkannte sich selbst und verwünschte sich selbst; Judas erkannte sich selbst und vernichtete sich selbst. Aber der verlorene Sohn erkannte sich selbst, und diese Selbsterkenntnis wurde in ihm zu einer wunderbaren Reife in Demut, Empfänglichkeit und Bereitwilligkeit. Auch Petrus erkannte sich selbst, und die Selbsterkenntnis wurde in ihm zu der Reife eines großen Seelenhirten. Magdalena erkannte sich selbst, und diese Selbsterkenntnis ward in ihr zu einem großen Schweigen, zu kostbaren Tränen, zu einer alles vermögenden Liebe.
Eine Spannung besteht zwischen dem eigenen Ich und seiner Verwirklichung. Eine Spannung besteht auch zwischen Gott und unserer Erkenntnis von Gott. Auch an Gott kann man Ärgernis nehmen, und ich meine, es sind drei Weisen, wie man an Gott Ärgernis nehmen kann. Die primitivste Weise ist darin gelegen, daß Menschen Gott zürnen, weil er ihre Gebet nicht so buchstäblich und so pünktlich erhört, wie sie meinen, daß es geschehen müßte. Ein solches Ärgernis an Gott zeugt von einer seelischen Kleinheit, von einer Enge des Geistes, von einer großen Selbstsucht und Engstirnigkeit. Der große, gewaltige Gott ist nicht zu unserem Dienst bestellt. Wir sind sein und seine Diener und nicht umgekehrt. Eine weitere Stufe des Ärgernisses an Gott wird dann erstiegen, wenn ein Mensch sich wirklich für Gott entschieden hat, wenn er sprechen kann mit dem Psalmisten: „Laetus obtuli omnia“- „Ich habe alles freudig dargebracht“, wenn ein Mensch wirklich ganz opferwillig, ganz dienstwillig geworden ist, und Gott bleibt ferne, Gott zeigt sich ihm nicht, Gott wendet sich ihm nicht zu. Ja, dann erwacht in einem solchen Menschen der furchtbare Gedanke: Gott will mich nicht! Er will mein Opfer nicht! Er will meine Gabe nicht! Er schaut nicht einmal darauf. Dieser furchtbare Gedanke steigt in ihm auf, und er sagt sich: Ich weiß, daß ich eine Nichtigkeit bin, ich weiß, daß ich eine Winzigkeit bin, aber ich hätte doch erwartet von meinem Gott, daß er wenigstens etwas damit anfangen kann, daß er mich doch irgendwie gebrauchen kann. Wenn Gott keine Freude mehr an mir hat, worauf soll ich mich dann freuen? Wenn Gott nichts mehr von mir erwartet, was soll ich dann noch erwarten?
Dieser Schmerz ist groß, meine lieben Freunde, aber er ist noch nicht der tiefste und der größte. Die letzte Stufe des Ärgernisses an Gott wird dort erstiegen, wo der Mensch Ärgernis nimmt an der Größe und Güte Gottes. Ein solcher Mensch hat eine derartige Vorstellung von der Größe Gottes, daß ihm alle seine Werke noch zu klein dünken. Er hat einen solchen Begriff von der Güte Gottes, daß ihm alle seine Werke nicht deutlich genug davon zu sprechen scheinen. Der Sternenhimmel preist die Herrlichkeit des Ewigen, nicht genügend für diesen Menschen. Die Kirche ist ihm Ursache unstillbaren Kummers, weil sie nicht so groß, so strahlend, so umfassend, so rein ist, wie er meinte, sie müsse es sein. Die Sakramente scheinen ihm nicht genügend rührend und ergreifend die Süßigkeit Gottes widerzuspiegeln. Wahrhaftig, in einem solchen Menschen steht die bange Frage auf: O Gott, warum zeigst du dich nicht so, wie du bist? Warum verbirgst du dich? Warum verhüllst du dich? Warum zeigst du nicht deine Größe und deine Kraft in der Geschichte und in der Natur? Darum sind unsere Augen noch gehalten, und wir wandeln so auf dieser Welt herum, als ob wir dich gar nicht kennten. Alle Werke Gottes scheinen einem solchen Menschen noch zu klein, alle Namen Gottes scheinen ihm noch nicht genügend, alle Offenbarungen Gottes scheinen ihm wie Verhüllungen. Wahrhaftig, das Leid eines solchen Menschen ist groß und tief. Er ist ein Wissender geworden. In ihm ist die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit jetzt umgekehrt: Er steht in der Wirklichkeit, in der Wirklichkeit Gottes, aber die Werke Gottes spiegeln ihm diese Wirklichkeit nicht genügend. Und so ist sein Leid tief und groß. Er hat seinen Gott noch nicht gefunden, und alles, was ihm auf dieser Erde begegnet ist, spricht ihm zu undeutlich von Gott.
Amen.