Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
2. Februar 1992

Die notwendige Wahrhaftigkeit gegen den Nächsten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir schulden dem Nächsten die Gerechtigkeit und die Liebe. Wir haben am vergangenen Sonntag erkannt, daß wir für das Heil, für das Seelenheil des Nächsten verantwortlich sind. Wir schulden ihm aber auch unsere Wahrhaftigkeit. Wir sind gehalten, miteinander die Wahrheit zu reden und die Lüge zu meiden. Die Wahrhaftigkeit besteht darin, daß man nichts anderes sagt, als man denkt, daß also Äußeres und Inneres übereinstimmen. Die Wahrhaftigkeit ist eine Tugend, die durch Übung und Mühe erworben werden will. Sie ist deswegen notwendig, weil die Rede dazu geschaffen ist, daß die Menschen sich miteinander verständigen. Wir sprechen, um Gemeinschaft zu ermöglichen. Der Sinn der Sprache würde verkehrt, wenn sie dazu diente, den anderen über die eigene Gesinnung zu täuschen. Die menschliche Gemeinschaft litte Schaden, wenn das Wort benutzt würde, um den anderen in Irrtum zu führen.

Die Wahrhaftigkeit hat strenge Forderungen an uns Menschen. Man kann sie verletzen durch Exzeß, durch Übertreibung, und durch Defekt, durch Minderung. Eine exzessive Verletzung der Wahrhaftigkeit liegt vor, wenn wir schwatzhaft sind. Es gibt Geheimnisse, die der Mensch bei sich bewahren soll oder muß. Wer sie ausplaudert, verfehlt sich gegen das Gebot, daß die Lippen nicht entweiht werden sollen durch sinnloses Gerede. Der weise Sokrates, der Philosoph des Altertums, hat uns einmal dafür eine wunderbare Lehre gegeben. Zu ihm kam einer seiner Schüler und sagte: „Sokrates, ich will dir erzählen, was dein Freund...“. In dem Augenblick gebot Sokrates Schweigen. „Was du mir sagen willst“, so entgegnete er, „hast du es gesiebt durch das dreifache Sieb?“ „Ja, welches dreifache Sieb?“ meinte sein Schüler. „Das Sieb der Wahrheit, das Sieb der Güte und das Sieb der Notwendigkeit.“ „Ja nun“, geriet der Schüler in Verlegenheit, „ob es wahr ist, weiß ich nicht, ich habe es gerüchtweise gehört. Gut ist es bestimmt nicht, und ob es notwendig ist...?“ „Gut“, sagte Sokrates, „wenn du dieses dreifache Sieb gebraucht hast und die Äußerung, die du vorhattest, damit erledigt ist, dann behalte sie für dich! Mache dir und mir das Herz nicht schwer!“

Beim Geheimnis unterscheiden wir verschiedene Arten. Es gibt das natürliche Geheimnis, das dann vorliegt, wenn wir irgendetwas zufällig erfahren. Es gibt das anvertraute Geheimnis, das uns jemand mitgeteilt hat unter dem Siegel der Verschwiegenheit, manche sagen auch unrichtig: unter dem Beichtsiegel. Und es gibt schließlich das dienstliche Geheimnis. Gegen alle diese Geheimnisse kann man sich verfehlen, wenn man das weiterträgt, was einem zugänglich gemacht worden ist. Selbstverständlich gibt es Lagen, in denen ein Geheimnis nicht mehr verpflichtet, nämlich wenn höhere Werte auf dem Spiele stehen. Dann kann man, muß man unter Umständen sogar, das Geheimnis durchbrechen. Ein Arzt, der feststellt, daß jemand an einer ansteckenden Krankheit leidet, muß dieses Geheimnis der Gesundheitsbehörde mitteilen. Aber es wird viel auch gegen die Geheimnisse gesündigt, die nicht mitgeteilt werden dürfen. Wenn Sie einmal das Buch des früheren Innenministers Friedrich Zimmermann lesen „Kabinettstücke“, dann finden Sie dort die Bemerkung, daß der Vorgänger im Amt, nämlich der liberale Innenminister Baum, der wichtigste Lieferant des SPIEGEL war. Er hat viele Geheimnisse an dieses Blatt weitergegeben, und zwar Dienstgeheimnisse, die man nicht weitergeben darf.

Die Wahrhaftigkeit gebietet, daß wir miteinander die Wahrheit sprechen. Es ist freilich in Ausnahmefällen gestattet, eine zweideutige Rede zu gebrauchen. Das nennt man Amphibolie oder Mentalreservation. Man kann aus wichtigem Grunde eine Rede wählen, die in der eigenen Brust etwas anderes bedeutet, als was der Gegenüber darunter versteht. Das ist keine Lüge, sondern nur ein Verbergen des eigentlichen Sinnes. So etwas ist immer von der katholischen Moral als zulässig angesehen worden. Dafür gibt es berühmte Beispiele. Der erste Bischof des neuen Bistums Mainz, den Napoleon eingesetzt hat, war der heiligmäßige Josef Ludwig Colmar. In Mainz erinnert eine Straße in der Neustadt an ihn. Dieser Josef Ludwig Colmar kam aus dem Elsaß, war also von Geburt her Franzose, sprach allerdings fließend deutsch und hatte immer die deutschen Regimenter in Straßburg betreut. Colmar war in der Französischen Revolution einer der bestgehaßten Geistlichen. Man hatte eine Prämie auf seinen Kopf gesetzt und suchte ihn. Eines Tages kamen die Häscher in das Haus, in dem er weilte. Er hatte sich als Diener verkleidet, öffnete die Tür und fragte, was die Soldaten wollten. „Wir suchen Colmar.“ „Ich glaube nicht“, entgegnete Colmar, „daß ihr ihn hier finden werdet. Ich will euch führen.“ Er führte sie durch das ganze Haus, ohne Ergebnis, wie sich denken läßt. Und zum Schluß sagte er noch zu den Soldaten: „Ich habe es euch ja gesagt, daß ihr ihn nicht findet werdet.“ Dieses Verhalten war keine Lüge, aber es war eine zweideutige Rede, die im Augenblick höchster Gefahr gestattet war. Auch von einem großen Heiligen des Altertums wird ähnliches berichtet, vom heiligen Athanasius. Er war Bischof von Alexandrien, der Stadt, die heute bei Kairo liegt. Er wurde gesucht wegen seines Kampfes gegen die Irrlehre des Arianismus. Auf der Flucht vor seinen Feinden begab er sich auf ein Schifflein und fuhr den Nil hinauf. Als er eine Stunde weit gerudert war, gab er Befehl zurückzufahren. Da kam das Boot mit den Häschern. „Habt ihr den Athanasius gesehen?“ fragten sie. Athanasius antwortete: „Er ist gar nicht weit von hier; fahrt nur schnell nilaufwärts!“ Eilig machten die Männer sich daran, nilaufwärts zu fahren, wo sie den Athanasius nicht finden konnten, denn er war ja jetzt wieder nilabwärts gefahren. Sie sehen an diesem Beispiel, daß es unter Umständen gerechtfertigt sein kann, eine zweideutige Rede zu wählen, die in der eigenen Brust etwas anderes bedeutet, als was der andere darunter vermutet. Aber sie ist nur erlaubt, wenn der andere kein Recht auf die Wahrheit hat und wenn gewichtige Gründe dafür sprechen.

Die schwerste Verfehlung gegen die Wahrhaftigkeit ist die Lüge. Die Lüge besteht darin, daß man etwas anders sagt, als man denkt. Gegen die Lüge haben sich die neutestamentlichen Schriftsteller, hat sich unser Heiland Jesus Christus energisch gewandt. „Eure Rede sei ein Ja für ein Ja und ein Nein für ein Nein. Was darüber ist, das ist vom Teufel.“ Ja, den Teufel bezeichnet Christus als den Vater der Lüge, denn er hat schon die ersten Menschen durch eine Lüge verführt: „Keineswegs werdet ihr sterben, sondern die Augen werden euch aufgehen, und ihr werdet sein wie Gott.“ Der Teufel ist der Vater der Lüge, der die Menschen zur Lüge zu verleiten sucht. Und wir alle wissen, daß der Philosoph Kant recht hat, wenn er sagt: „Die Lüge ist der eigentlich faule Fleck im Menschen.“ Dies deswegen, weil die Lüge uns allen naheliegt, vor allen Dingen die Notlüge, aber auch die Scherzlüge oder die Dienstlüge, auch die Schadenslüge, die jemanden in Bedrängnis führt. Die Lüge untergräbt das Vertrauen unter den Menschen. Der Volksmund sagt: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er gleich die Wahrheit spricht.“ Es gibt notorische Lügner, denen die Lüge zur zweiten Natur geworden ist. Das mag manchmal mit dem geschäftlichen Betrieb zusammenhängen. Bei Kaufleuten ist es zugegebenermaßen schwierig, immer bei der vollen und reinen Wahrheit zu bleiben. Wer Lügen gebraucht, hat Vorteile auf dieser Welt, und deswegen hat auch Luther die Nutzlüge als erlaubt erklärt. Sie können daraus erkennen, daß zwischen katholischer Moral und protestantischer Sittlichkeit Abgründe klaffen. Wer sagt, die Morallehren der katholischen Kirche und des Protestantismus seien gleich, der kennt sie nicht. Luther hat die Lüge ausdrücklich für erlaubt erklärt; und wer lügt, hat es leichter im Leben. Er kommt besser durch. Die Wahrheit kann einem Schaden eintragen.

Im vorigen Jahrhundert haben sich die tapferen Tiroler gegen die französische Fremdherrschaft gewehrt, mit der Waffe in der Hand, und einer dieser Freiheitskämpfer, Peter Mayer, wurde gefaßt und sollte standrechtlich erschossen werden; denn Napoleon hatte bestimmt: Wer mit der Waffe in der Hand ergriffen wird, ist ohne weiteres zu erschießen. Aber der französische Kommandant hatte Mitleid mit ihm. Er dachte an die Frau und die vielen Kinder, die Peter Mayer hatte, und sagte ihm, er solle sagen, er habe nichts gewußt von dem Befehl Napoleons. Damit hätte er sein Leben retten können. Peter Mayer gab die Antwort eines klassischen katholischen Christen: „Mein Leben will ich nicht durch eine Lüge erkaufen“ und ging in den Tod. Dieses Beispiel mag uns mahnen, mit der Wahrheit sorgsam umzugehen, die Lüge zu meiden. „Ein jeder von euch rede die Wahrheit mit seinem Nächsten und nicht die Lüge.“ Wir wollen doch nicht Kinder des Teufels sein, der der Vater der Lüge ist.

Nicht weit von der Lüge entfernt sind Schmeicheleien und Prahlereien. Die Prahlerei besteht darin, daß man sich mehr zuschreibt, als in einem ist, die Schmeichelei, indem man einem anderen mehr zuschreibt, als in ihm ist. Der französische König Karl VIII. lag sterbenskrank nieder. Da fragte er seinen Diener Bernard: „Sag einmal, wie kommt es denn, daß so wenige Könige heilig sind?“ Der Diener zuckte verlegen die Achseln und gab keine Antwort. Da sagte ihm der König: „Ich will es dir sagen. Das kommt daher, weil die Könige so viele Schmeichler um sich haben, die ihnen die Wahrheit vorenthalten und sie nicht zurechtweisen, wenn sie sich verfehlt haben.“ Die Schmeichelei ist eine verführerische Waffe, denn viele Menschen, vielleicht die meisten, sind für Schmeicheleien empfänglich, und wenn man ihnen Schmeicheleien sagt, kann man sich Freunde erwerben. Das wird auch häufig genutzt. Aber es ist mit der Wahrheit nicht verträglich. Wir sollen mit dem Nächsten gütig, geduldig, freundlich und höflich umgehen, aber wir sollen ihm nicht Schmeicheleien, die der Wahrheit widersprechen, zuwenden, die ihn in einer falschen Sicherheit wiegen und unsere Lippen entweihen.

Die Wahrhaftigkeit, meine lieben Freunde, ist eine schwere Tugend. Wie jede Tugend wird sie nur errungen durch viele Kämpfe. Aber wir wollen Kinder unseres Vaters im Himmel sein, der wahrhaftig ist, ja der die Wahrheit selber ist, und von seinen Kindern verlangt, daß ihre Rede eindeutig und klar wie eine Quelle sei.

Amen.

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