Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
28. November 1999

Die objektive Wirklichkeit der Kirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Kirche ist der Einbruch des Objektiven in unsere Welt. Die Welt ist nämlich erfüllt von Subjektivisten. Die Menschen beurteilen alles von ihrer Bewußtseinslage, von ihrem Empfinden, von ihrem wirklichen oder vermeintlichen Nutzen. Dagegen ist die Kirche die Stätte der Objektivität. Sie ist gegeben, und sie muß hingenommen werden. Wir wollen diese objektive Wirklichkeit, die die Kirche darstellt, heute in einigen ihrer Eigenschaften betrachten.

An erster Stelle ist die Kirche eine geistige Wirklichkeit. Geistig ist die Kirche in mehrfacher Hinsicht, einmal indem sie über keine irdischen Machtmittel verfügt. Der Staat besitzt die Polizeigewalt und das Gewaltmonopol; die Kirche appelliert an den Geist. Das ist ihre Stärke, das ist freilich auch ihre Schwäche. Die Kirche versucht die Einsicht der Menschen zu gewinnen. Es ist ihr daran gelegen, daß die Menschen mit dem Herzen den Glauben ergreifen und daß sie mit ihrem Willen die Gebote des Glaubens zu vollziehen trachten. Ihre Schwäche ist darin gelegen, daß die Menschen geneigt sind, das Massive, das Materielle dem Feinen und dem Geistigen vorzuziehen. Vor die Entscheidung gestellt zwischen Geist und Geld, zwischen Tugend und Genuß, zwischen Religion und Karriere, sind die meisten Menschen – Gott sei es geklagt – geneigt, dem geringeren Wert den Vorzug zu geben. Das Irdische, das Massive drängt sich ihnen eben in ganz anderer Weise auf als das Geistige, und darum hat es die Kirche schwer in einer Welt der Massivität, des materiellen Nutzens und des irdischen Gewinns. Aber sie hört nicht auf, eine geistige Wirklichkeit zu sein, und sie muß es bleiben, wenn immer sie ihrer Stiftungsurkunde treu bleiben will.

Die Kirche ist zweitens eine sichtbare Wirklichkeit. Das Mittel, das man gegen unbequeme Erscheinungen mit größter Sicherheit anwendet, nämlich das Totschweigen, läßt sich gegenüber der Kirche nicht verwenden. Die Kirche ist sichtbar; sie ist sichtbar in ihrer Verfassung, in ihrer Lehre, in ihrer gottesdienstlichen Tätigkeit; sie ist sichtbar in ihrer Mission; sie ist sichtbar in ihren Kämpfen und Erfolgen, aber auch in ihren Niederlagen. Die Kirche ist eine sichtbare Wirklichkeit. Es ist ein Irrtum, zu meinen, die eigentliche Wirklichkeit der Kirche sei unsichtbar. Natürlich, die Gnade ist unsichtbar, und das Gottverhältnis im Herzen ist der Anschauung entzogen. Aber die Kirche hört nicht auf, eine sichtbare Wirklichkeit zu sein. Von ihr gehen Einwirkungen aus, Einwirkungen auf ihre Umgebung. Die Kirche prüft alles; die Kirche beurteilt alles, die Technik und die Wirtschaft, die Kultur und die Wissenschaft, und sie muß es tun, wenn immer sie sich als geistige und gleichzeitig sichtbare Wirklichkeit behaupten will.

Die Kirche ist drittens eine kraftvolle Wirklichkeit. Sie besitzt eine gottgegebene Kraft. Wenn es heute manchmal so scheint, als ob die Kirche unkräftig oder kraftlos sei, dann beruht das entweder auf einer Täuschung oder darauf, daß die Kirche ihre Kraft noch nicht genügend entfaltet hat. Ein Riese, der schläft, scheint auch unkräftig, aber wenn er aufwacht und sich reckt, dann sieht man, welche Kraft in ihm ist. In der Kirche ist solche Kraft. Sie hat es in 2000 Jahren Kirchengeschichte bewiesen, daß sie eine Macht voller geistiger Kraft ist. Wie oft schien sie am Boden zu liegen, wie oft hat man gesagt: Jetzt ist das Ende gekommen, wie oft hat man gemeint: Von diesem Fall wird sich die Kirche nicht mehr erheben! Und eines Tages stand sie wieder kraftvoll und verjüngt da, hat alle Gefahren überwunden, und wir dürfen überzeugt sein, sie wird auch die Gefahren der Gegenwart und der Zukunft überwinden. In ihr ist eine Kraft, und diese Kraft braucht nur erweckt zu werden, und dann macht sie sich auch geltend.

Daß diese Kraft in der Kirche heute nicht verschüttet ist, ersieht man daraus, daß sie immer wieder gegen eine Welt von Feinden ihrem göttlichen Auftrag treu bleibt. Das gilt vor allem in ihrer Verkündigung. Die anderen verteilen Kondome, um der Krankheit Aids zu begegnen, die Kirche ruft unerschüttert gegen alle Anfeindungen zur Enthaltsamkeit auf. Die anderen alle, die Orthodoxie, der Islam, der Protestantismus, sie alle beugen sich vor den menschlichen geschlechtlichen Trieben und geben die Ehescheidung frei, die Kirche allein erinnert auf der ganzen Erde an das Gebot des Herrn: „Es ist dir nicht erlaubt.“ „Wer seine Frau entläßt und eine andere heiratet, der bricht die Ehe. Und wer eine vom Manne Entlassene heiratet, der bricht die Ehe.“ Ich bin stolz auf diese Kirche, die das heute noch zu sagen wagt. Wir dürfen glücklich sein, daß wir in dieser herrlichen Gemeinschaft sind, die gegen eine ganze Welt von Feinden unbeirrt und unbeirrbar am Willen ihres Herrn festhält.

Die Kirche ist viertens eine lebendige Wirklichkeit. Die Lebendigkeit zeigt sich in mehrfacher Hinsicht. Einmal ist etwas lebendig, was die Teile beherrscht und zu einem Ganzen formt, wo das Ganze die Teile in sich integriert. Genau das ist der Fall bei der Kirche. Sie hat zahllose Gedanken, Vorstellungen, Systeme, Anschauungen geprüft und, wenn sie brauchbar befunden wurden, sich selbst integriert. Sie hat die Philosophie des Aristoteles und die Philosophie des Platon sich angeeignet. In ihr konnte ein Augustinus genauso Platz finden wie ein Thomas von Aquin. Die Kirche besitzt eine unglaubliche Kraft der Assimilation, weil sie lebendig ist. Ein lebendiger Körper kann sich eben fremde Wirklichkeiten, die er als geeignet findet, assimilieren.

Die Lebendigkeit der Kirche zeigt sich sodann in ihren Dogmen, ihrem Gottesdienst und in ihrer Sittenlehre. Die Dogmen scheinen verkrustete Vorstellungen aus alter Zeit zu sein; sie sind ja zum großen Teil formuliert worden in den ersten 3 oder 4 Jahrhunderten, und wehe dem, der an ihre Formulierung oder gar an ihren Inhalt rührt. Und doch sind die Dogmen voller Lebenskraft. Sie, die Sie hier sind, wir alle, wir leben aus den Dogmen. Wenn wir uns mit dem Kreuze bezeichnen, um den ganzen Tag Gott zu weihen, dann glauben wir an das Dogma von der Dreifaltigkeit und von der Erlösung durch unseren Heiland Jesus Christus. Wenn unsere Kranken ergeben sind in Gottes Willen und Vertrauen haben auf Gott, ja, dann wird ein Dogma lebendig, nämlich das Dogma von der Allherrschaft Gottes. Der Gottesdienst zieht die Menschen an sich, und immer noch sind es Millionen und Abermillionen in aller Welt, die ihre Kraft ziehen aus dem Gottesdienst, die in der Verbindung mit dem Heiland das schwere Werktagsleben auf sich nehmen, die hier Erhebung finden. „Wie hätten wir das Leben ertragen“, hat einmal der Arbeiterdichter Heinrich Lersch gesagt, „wenn nicht der Sonntag die Tore weit aufgeschlagen hätte! Hier an der Kommunionbank, da waren wir alle gleich.“ So der Arbeiterdichter Heinrich Lersch. Und was soll ich sagen von der Sittenlehre der Kirche? Sie hat unzähligen Menschen einen Halt geboten. Sie hebt den Menschen über die Niederungen seiner Triebe; sie veredelt den Menschen. Was wäre aus uns geworden, meine lieben Freunde, ich frage Sie: Was wäre aus uns geworden, wenn wir die Sittenlehre der Kirche nicht kennengelernt hätten, wenn die Kirche uns nicht bei der Hand genommen und gesagt hätte: „Das darfst du, das darfst du nicht“? Was wäre aus uns geworden? Wir wären versunken im Schlamm unserer Triebe und Wünsche und Neigungen. Nein, die Sittenlehre der Kirche ist ein Zeichen ihrer Lebendigkeit. Sie hat uns mit ihren sittlichen Normen das Leben vermittelt. Es ist deswegen ganz falsch, wenn die Scheinbefürworter sagen: „Wir haben die Seelsorge, und ihr habt die Prinzipien.“  Eine Seelsorge ohne Prinzipien gibt es nämlich nicht; die gibt es ebensowenig, wie es einen menschlichen Körper ohne Knochengerüst gibt. Die Prinzipien tragen die Seelsorge, sie dienen der Seelsorge; ohne Prinzipien, ohne sittliche Prinzipien wird die Seelsorge zur Leibsorge. Es ist ganz falsch, was die Befürworter der Scheine sagen. Es ist auch nicht so, daß man gewissermaßen die Gebote Gottes durch Barmherzigkeit mildern müßte. Man bekommt es oft zu hören: „Man muß barmherzig sein mit den ungültig Verheirateten, man muß barmherzig sein mit denen, die vorehelichen Geschlechtsverkehr ausüben, man muß barmherzig sein mit denen, die sich selbst umbringen.“ Man muß barmherzig mit den Sündern sein, ohne Frage, aber indem man ihnen die Gebote Gottes vorhält, denn das ist ja die Barmherzigkeit Gottes, daß er uns diese Gebote gibt und daß wir sie verkünden dürfen. Das ist die Barmherzigkeit Gottes. Wir dürfen die Gebote nicht erweichen, dann wären wir nämlich unbarmherzig. Die Barmherzigkeit liegt darin, daß uns Gott seinen Willen kundgemacht hat und daß wir ihm nachleben dürfen.

Die Kirche ist fünftens von Christus gestiftet und geheiligt. Ein solches Werk, eine solche Wirklichkeit kann nicht von Menschen stammen. Wäre sie von Menschen, dann wäre sie schon längst zugrunde gegangen. Hätten Menschen dieses Unternehmen gestiftet, dann wäre es in den Stürmen von 2000 Jahren längst zerbrochen, dann wäre es auch zugrunde gegangen durch die eigenen Leute. Als ich Ende der vierziger Jahre in München studierte, sagte mir einmal mein Beichtvater, ein frommer, gläubiger Theologieprofessor: „Für mich ist ein Beweis der Göttlichkeit der Kirche die Tatsache, daß der Klerus sie noch nicht kaputt gemacht hat.“ Er wußte von den Gefahren, die vom Klerus, von einem Teil des Klerus, von dem morbiden Teil des Klerus für die Kirche ausgehen. Und deswegen sagte er: „Für mich ist es ein Beweis der Göttlichkeit der Kirche, der göttlichen Stiftung der Kirche, daß der Klerus sie noch nicht kaputt gekriegt hat.“

In dieser Kirche ist Jesus zu finden. Neulich hat jemand in einer Leserzuschrift den Satz ausgesprochen, er bedürfe nicht der Vermittlung der Kirche, er wende sich unmittelbar an Jesus. Ja, meine lieben Freunde, das ist gut gesagt, aber wir kennen Jesus überhaupt nicht, wenn es keine Kirche gäbe. Daß es einen Jesus gibt, an den man sich wenden kann, das verdanken wir der Kirche. Und daß wir wissen, wer dieser Jesus ist, das ist wiederum der Kirche zuzuschreiben. Wenn die Kirche nicht wäre, dann hätte man Jesus schon längst unter die Großen dieser Erde, wie Napoleon oder Buddha, eingereiht. Die Kirche sagt uns, daß man sich an ihn wenden kann, weil er der leibhaftige Sohn Gottes ist. Bald wird es wieder heißen: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist der Messias und Herr.“ Das ist die Botschaft, die die Kirche verkündet, und daher wissen wir, daß wir uns an Jesus wenden dürfen und mit Erfolg an ihn wenden können. Nein, ohne die Kirche wäre die Botschaft von Jesus längst zugrunde gegangen. Es gibt keinen anderen Weg zu ihm als über die Kirche.

Die Kirche ist sechstens eine religiöse Wirklichkeit. Die anderen Unternehmungen dieser Erde sind nicht religiös; sie dienen der Erkenntnis der Natur, oder sie dienen der Vorsorge für Nahrung, Kleidung und Gesundheit der Menschen. Die Kirche allein ist eine religiöse Wirklichkeit. Das besagt: Sie ist der Religion verpflichtet. Sie ist die Verkörperung, sie ist die Menschwerdung der Religion. Wenn die Menschen sich selbst überlassen sind, werden sie nicht etwa immer religiöser, sondern sie werden immer religionsloser. Das kann man in der früheren DDR beobachten. Als ich zu Anfang der fünfziger Jahre dort als Priester tätig war, waren noch so gut wie alle Bewohner getauft. Sie waren also Christen. Jetzt, nach über 40 Jahren, ist der Anteil der Ungetauften außerordentlich stark angewachsen; die Religion spielt im Vergleich zu damals in den jetzigen neuen Bundesländern kaum eine Rolle. Das ist die Wirkung von über 40 Jahren Kampf gegen die Religion, Kampf gegen die Institution, welche die Religion bewahrt, gegen die Kirche. Das ist die Folge der vom Staat betriebenen Religionslosigkeit. Die Kirche allein erhält die Religion; die Kirche allein verteidigt die Religion. Derjenige, der am meisten Religion trägt, ist auch am meisten mit der Kirche verbunden. Das sieht man an den Heiligen. Die Heiligen verdanken ihre Religiosität der Kirche. Von ihr haben sie sie empfangen. Und sie haben natürlich der Kirche auch wieder den entscheidenden Beitrag geleistet durch ihre Religiosität. Sie haben die Kirche geschmückt mit ihren Persönlichkeiten, und sie haben sie geziert mit ihren Tugenden.

Die Kirche ist die Verkörperung der Religion. Ohne die Kirche welkt die Religion dahin, verliert sie ihren Inhalt, verliert sie ihre Konturen, macht sich der Mensch Gott nach seinem eigenen Bild. Der Gott, den der Mensch sich ohne die Kirche macht, ist ein Gott nach dem Bilde des Menschen. Ganz richtig hat Feuerbach von dieser Sorte religiöser Menschen gesagt: „Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“ Für sie gilt das tatsächlich. Anders bei der Kirche. Sie lehrt einen Gott, der uns immer unbegreiflich sein wird, ja, der uns manchmal zu der Frage Anlaß gibt: Wo ist unser Gott? Aber gerade darin liegt eben die Wahrheit der Verkündigung der Kirche, daß sie einen Gott verkündet, der menschlichem Begreifen nicht zugänglich ist. Das ist ein Zeichen dafür, daß dieser Gott nicht von der Kirche geschaffen ist, sondern daß er ihr von Gott selbst geoffenbart worden ist.

Wir alle wissen, meine lieben Freunde, um die heutigen Mängel der Kirche, und wir leiden darunter; denn weil wir die Kirche lieben, leiden wir unter ihrer Schwäche. Jeder von uns kann zahllose Ärgernisse aufzählen; jeder von uns wird täglich in der Presse mit neuen Skandalgeschichten konfrontiert. Wir wissen, daß ein großer Teil des Klerus im argen liegt; wir wissen, daß sich die Gottesdienststätten immer mehr leeren; wir wissen, daß der Priesternachwuchs ausbleibt oder durch schlechte Erzieher von seinem Beruf abgebracht wird. Das alles wissen wir. Aber ist das ein Anlaß, die Liebe zu unserer Kirche erkalten zu lassen? Ist es nicht vielmehr ein Grund, die Liebe zu ihr zu vermehren? Wer verläßt denn seine Mutter, wenn sie krank ist? Er hegt und pflegt sie, er nimmt sich ihrer an, er leidet mit ihr. Und das müssen wir tun. Wir müssen dieser Kirche nicht nur unsere Kraft und unsere Fähigkeiten leihen, nein, wir müssen ihr auch unser Herz schenken. Wir müssen mit dieser Kirche leben und leiden, wir müssen sie lieben. Ja, die Kirche muß in einem gewissen Sinne Gegenstand unserer Verehrung sein. Diese so geschändete, diese so mißbrauchte, diese so verlassene Kirche, die müssen wir mit ganzem Herzen umfangen. Wie anders kann sie denn gerettet werden, soweit es menschlichem Bemühen zugänglich ist, als durch unsere Liebe?

Und so wollen wir sie nicht verlassen. So wollen wir ihr die Treue halten. So wollen wir ihr sagen: Gesegnet seist du, katholische Kirche, du, die einzige, die zu uns kommt im Namen des Herrn, im Namen des Lebens und der Liebe, im Namen der Heiligkeit und der Gerechtigkeit. Du, katholische Kirche, du sollst uns als deine treuen Kinder sehen und erhalten, bis einmal die Schatten fallen!

Amen.

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