Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
21. Mai 1995

Die Sünde in der Kirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Kirche ist eine sichtbare Größe. Die Sichtbarkeit bedeutet, daß sich ih ihr Göttliches mit Menschlichem verbindet. Diese Zusammenfügung von Göttlichem und Menschlichem ist selbstverständlich eine gewisse Entäußerung des Göttlichen. Das Göttliche begibt sich in die menschliche Beschränktheit und Begrenztheit hinein, in die menschliche Einseitigkeit, in die Kraftlosigkeit des Herzens und in das Ungenügen des Geistes.

Aber seinen Tiefpunkt erreicht dieses Sich-Entäußern des Göttlichen in der Sünde – in der Sünde in der Kirche. Die Christen sind durch die Taufe der Sündenmacht entrissen. Sie sind in das Reich ihres Erlösers versetzt. Die Kräfte des Heiligen Geistes leben in ihnen. Die Christen haben die Möglichkeit, der Sünde zu widerstehen. Aber es ist erst der Keim der Gottesherrlichkeit in sie gesenkt. Dieser Keim muß wachsen und wird erst zur vollen Reife gediehen sein im Tode. Dazu bedarf es des menschlichen Mittuns. Immerfort werden die Christen aufgefordert, das, was an ihnen geschehen ist, auch im Wirken zu beglaubigen. Du bist erlöst – also lebe wie ein Erlöster! Du hast die Kräfte des Geistes – also laß dich von ihnen treiben!

Die Erlösung ist kein mechanischer Vorgang, sondern sie will vom Menschen bejaht und ergriffen sein und im Leben fortgesetzt verwirklicht werden. Die Kräfte der Selbstherrlichkeit und der Ichsucht liegen noch bereit und suchen den Menschen in ihre Fänge zu bringen. Der Mensch, der aus der Kraft des Heiligen Geistes lebt, ist imstande, sie zu überwinden. Aber er besitzt auch die Freiheit, sich ihnen zu überlassen. So ist das Christenleben ein ständiger Kampf, ein Kampf gegen das andringende Böse, ein Kampf um das bereitliegende Gute, ein Kampf, der die in der Seele wirksame Kraft des Heiligen Geistes zur Auswirkung gelangen lassen soll. Wer bei diesem Kampfe versagt, der versagt als ein Glied der Kirche. Alles, was er tut, tut er ja als Kirchenangehöriger. Wenn er sich der Sünde überläßt, erscheint die Kirche als sündig. Die Kirche ist so heilig, was die ethische Heiligkeit angeht, wie ihre Glieder sind, und sie ist so unheilig, wie ihre Glieder sich der Ichsucht, der Selbstherrlichkeit der Sünde überlassen.

Alle Kirchenangehörigen tragen zu dem Bilde der heiligen oder unheiligen Kirche bei; denn alle Glieder der Kirche bilden den Leib Christi. Deswegen ist es irrig, wenn man die Heiligkeit oder Unheiligkeit der Kirche allein an ihren Amtsträgern messen wollte. Alle Kirchenglieder sind an dem Bild, das die Welt und Gott und die Engel von der Kirche gewinnen, beteiligt. Alle formen daran  mit, nicht nur die Amtsträger, sondern auch die Gläubigen, die den Amtsträgern unterstellt sind. Freilich ist die Selbstherrlichkeit, die Sünde, die Ichsucht am aufreizendsten bei denen, die kraft Amtes die Wahrheit verkünden und die Gnade vermitteln sollen. In den Amtsträgern stellt sich deswegen die Heiligkeit und die Unheiligkeit der Kirche am sichtbarsten dar. Die höchsten Gaben, meine Christen, sind auch immer die größten Aufgaben. Je höher einer gestellt wird, um so mehr wachsen die Risiken. Deswegen brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir vom Versagen und vom Fall von Amtsträgern hören und lesen. Wir brauchen nicht ins 10. Jahrhundert zurückzugehen oder ins 16. Jahrhundert; auch in der Gegenwart gibt es viele beklagenswerte Fälle, in denen Amtsträger der Kirche vor ihrer Aufgabe, die Heiligkeit der Kirche zuerst und zuoberst zu verwirklichen, versagen. Aber noch einmal: Alle Christgläubigen sind an der Aufgabe beteiligt, die Kirche sichtbar zu einer heiligen Gemeinschaft zu machen.

Wie erklärt sich die Sünde in der Kirche? Sie erklärt sich aus der menschlichen Freiheit und aus der göttlichen Vorsehung. Die Sünde in der Kirche ist ein unaufhellbares Geheimnis. Sie nimmt teil an dem Geheimnis, das in der Selbstentäußerung des Logos, des Sohnes Gottes, seinen Anfang nahm. Der menschgewordene Gottessohn wurde versucht vom Satan. Und diese Versuchungen des Satans wiederholen sich unaufhörlich an dem fortlebenden Christus, an seiner Kirche. Der Satan mutete Jesus an erster Stelle zu, seine göttliche Macht einzusetzen für irdische Zwecke. „Sprich, daß diese Steine zu Brot werden!“ Die zweite Versuchung bestand darin, daß er Jesus einlud, sein Heilswerk nicht durch Leiden und Tod, sondern durch ein Schauwunder, durch einen Machterweis zu vollbringen. „Stürze dich von der Zinne des Tempels hinab!“ Und schließlich die dritte Versuchung bestand darin, daß der Teufel ihm alle Herrlichkeit der Welt anbot, wenn er vor ihm niederfiel.

Diese Versuchungen gehen mit der Kirche. Sie sind der Kirche allezeit nahe, und sie sind allen Menschen in der Kirche nahe, Amtsträgern wie schlichten Gläubigen. Wenn die Kirche ihnen erliegt, dann ist sie verloren. Wenn sie ihnen widersteht, dann erfüllt sie ihren Auftrag. Der Satan hat einst versucht, das Erlösungswerk Christi zu verhindern. Er versucht jetzt, die Auswirkung dieses Werkes zu hintertreiben. Wenn es ihm gelingt, die Kirche zu überwinden, dann hat er den Triumph über Christus und sein Erlösungswerk errungen. Die Kirche führt im Verein mit ihrem Herrn den Kampf gegen den Satan; sie streitet gegen die Sündenmacht, sie ringt um Heiligkeit. Diese Aufgabe nimmt die Kirche unaufhörlich wahr. Sie weiß um die Sünde, und sie sucht die Sünde zu überwinden. Sie weiß erschreckter und bekümmerter um die Sünde als die Menschen außerhalb der Kirche, weil sie nämlich die Sünde an der Heiligkeit Gottes mißt. Die Menschen außerhalb der Kirche, die Gott nicht kennen, haben keine volle Ahnung, was die Sünde bedeutet, welcher Schrecken, welches Grauen in der Sünde wohnt. Aber wer Gott kennt und wer Christus kennt, wer um das Erlösungswerk und um den Kreuzestod Christi weiß, der versteht auch die Furchtbarkeit und die Not der Sünde. Die Kirche  sucht die Sünde mit aller Kraft zu überwinden und auszustoßen. Ihre Bemühungen, die Sünde zu besiegen, sind vielfältig. Jeden Tag werden alle Glieder der Kirche geheißen, zu beten: „Vergib uns unsere Schuld!“ Bei jeder heiligen Messe legen die Beteiligten, legt der Priester ein Schuldbekenntnis ab. Nach der heiligen Wandlung, wenn der Priester still die Aufopferungsgebete spricht, hebt er einmal seine Stimme, nämlich wenn er sagt: „Nobis quoque peccatoribus“ – auch uns Sündern. Und immerfort sucht die Kirche das Bußsakrament zu spenden. Alle sind dazu eingeladen, aufgefordert, dringlich verpflichtet. Papst und Bischöfe, Priester und Volk sollen sich in diesem Sakrament von ihrer Schuld reinigen, sollen sich bei seinem Empfang bekehren. Das ist das ernsteste Instrument, das der Kirche zur Verfügung steht, um die Sünde in sich zu überwinden. Und wehe der Kirche, die dieses Instrument nicht mehr schätzt und nicht mehr benutzt! Wehe aber auch den Kirchengliedern, die achtlos vorübergehen an den Gnadenstühlen, in denen dieses Sakrament verwaltet wird!

So ist die Kirche unaufhörlich bemüht, das Böse in sich zu überwinden und auszustoßen. Sie ist ständig unterwegs, nämlich von der sündigen Gegenwart in die heilige Zukunft. Sie ist eine Pilgerin, eine Pilgerin nicht nur in dem Sinne, daß sie durch alle Zeiten und Räume pilgert, sondern auch insofern, als sie aus der düsteren Vergangenheit über die büßende Gegenwart in die heilige Zukunft pilgert. Die Kirche muß ihr Bemühen ständig neu beginnen, denn es sind immer wieder neue Menschen, denen sie sich zuzuwenden hat. Es ist ein geradezu lächerlicher Gedanke, der Kirche vorzuwerfen, sie habe in 2000 Jahren noch nicht erreicht, daß sich die Menschen dem Bösen nicht mehr überlassen. Das ist doch unmöglich. Es sind immer neue Generationen, die von der Heiligkeit ergriffen werden sollen. Heiligkeit vererbt sich nicht wie ein leiblicher Besitz von einer Generation auf die andere, sondern Heiligkeit muß immer ständig neu erworben werden von jeder Generation, ach, was sage ich, von jedem Menschen! Jeder Mensch muß sich ständig darum bemühen. Es ist deswegen ein ganz irriger Vorwurf, zu meinen, die Kirche habe versagt, weil es immer noch Grausamkeit und Haß, Lieblosigkeit und Feindschaft gibt. Die Kirche muß in jeder Generation, in jedem Menschenleben ihr Werk der Heiligung neu beginnen. Jeder muß die Entscheidung zum Guten neu für sich fällen. Und gegen Ende der Zeiten wird dieses Werk immer schwieriger, denn dann nehmen die Bosheit und die Schlechtigkeit überhand. Es wird also nicht besser auf dieser Welt, sondern schlimmer. Das ist die Botschaft des Evangeliums.

Gott hat die Sünde in seinen Heilsplan eingebaut. „Es müssen Ärgernisse kommen, aber wehe dem Menschen, durch den sie kommen!“ Die Tatsache, daß es Sünde gibt und geben muß, mindert die Verantwortung dessen, der sie tut, nicht.

Die Sünde ist besonders aufreizend, wenn sie von denen getan wird, welche ein Amt in der Kirche haben. Sie sind ja aufgerufen, in der Christusnachfolge die Heiligkeit der Kirche in besonderer Weise abzubilden. In ihnen stellt sich daher die Heiligkeit oder die Unheiligkeit der Kirche besonders deutlich dar. Nun gibt es Menschen, die das Versagen von Amtsträgern zum Anlaß nehmen, um mit der Kirche zu brechen. Wir hören, daß in Österreich angesichts des Falles Groer die Kirchenaustritte in die Höhe schnellen; 38 % mehr in der Diözese Graz. Ist dieses Verhalten berechtigt? Haben die Menschen recht, wenn sie sagen: Wenn ein Amtsträger versagt, dann ist die Kirche erledigt? Meine lieben Freunde, die Urkirche hat mit dem Fall Judas Ischariot zurechtkommen müssen. Sie ist ungeachtet dieses Verräters über Jerusalem hinausgeschritten nach Samaria, in die kleinasiatischen Gefilde, nach Rom und über die ganze Erde. Sie hat also dieses schreckliche Begebnis nicht zum Anlaß genommen, zu sagen: Mit unserer Gemeinschaft ist es nichts, sondern sie hat einen Stellvertreter, einen Ersatzmann, gewählt und ist dann unbekümmert um die Vergangenheit in die Länder gegangen, um den Namen Christi zu verkündigen.

Einfache Überlegungen zeigen, daß dieses Verhalten richtig ist. Wir lesen in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder von Eltern, die ihre minderjährigen Kinder zu unzüchtigen Zwecken mißbraucht haben. In Worms wird ein Riesenprozeß geführt gegen Eltern, die mit ihren Kleinkindern derartige schreckliche Dinge getrieben haben. Ich frage: Werden dadurch Elternschaft und Familie hinfällig? Wir lesen wiederum in den vergangenen Wochen und Monaten von sich häufenden Fällen des Rezeptbetruges durch Ärzte. Manche Ärzte haben Hunderttausende unterschlagen mit falschen Abrechnungen. Sie haben Krankenbesuche aufgeschrieben, die sie nie gemacht haben. Ich frage: Wird die Medizin dadurch erledigt, daß sich Ärzte nicht an die Standesethik halten? Wir lesen schließlich in den letzten Wochen und Monaten von Fällen, in denen Polizeibeamte sich in kriminelle Machenschaften hineinbegeben haben, etwa in Hamburg. Sie haben sich an Rauschgiftgeschäften beteiligt, sie haben Festgenommene mißhandelt. Ich frage noch einmal: Wird das Strafgesetzbuch überholt dadurch, daß sich Polizisten nicht daran halten? Wird die Polizei überflüssig, weil es Polizisten gibt, die gegenüber ihrer Aufgabe versagen? Nein, so ist es doch, wie wir alle einsehen: Das schlimme Verhalten von Amtsträgern kann die Sache selbst nicht entwerten. „Was will es besagen“, fragte einmal Tertullian, „wenn ein Bischof, ein Lehrer, ja ein Martyrer der Lehre der Kirche untreu wird? Wird dadurch die Irrlehre wahr? Prüfen wir die Lehre nach dem Menschen oder die Menschen nach der Lehre?“ Treffend ausgedrückt von Tertullian im 2./3. Jahrhundert. Nicht wahr, wir prüfen doch die Menschen an der Lehre. Und wenn es Amtsträger gibt, die sich an die Lehre nicht halten, dann sind sie tadelnswert. Dann müssen wir schonungslos sagen: So etwas darf nicht vorkommen. Dann darf man nichts bemänteln und entschuldigen, sondern man muß sagen: Der Amtsträger hat versagt. Aber die Wahrheit der Kirche, die Gnade der Kirche, die bleiben davon unberührt.

Wir haben angesichts der Sünde in der Kirche drei Aufgaben, nämlich

1. Wir müssen unseren Glauben an Gott, an den Heiligen Geist und an die Kirche festigen. Unser Glaube steht nicht auf Menschen. Nicht ein hervorragender Bischof und nicht ein glänzender Theologe sind der Grund, weswegen wir glauben, sondern weil Gott sich geoffenbart hat, weil er seinen Christus gesandt hat und weil dieser Christus uns die Wahrheit gebracht hat. Das ist der Grund unseres Glaubens. Unser Glaube hängt nicht an Menschen, unser Glaube ruht auf Gott.

2. Wir dürfen nicht irre werden an der Kirche. Die Kirche ist eine Verbindung von Göttlichem und Menschlichem. Und wo Menschen sind, da menschelt es. Menschen sind immer in der Gefahr, ihre Befugnis zu mißbrauchen, ihr Amt zum eigenen Nutzen zu verwenden, von der Höhe, auf die sie gestellt sind, herabzustürzen. Der Mensch will immer etwas anderes, als was er soll. Das ist die große Gefahr für jedermann, natürlich in besonderer Weise für die Amtsträger. Aber das darf uns nicht irremachen an unserer Kirche. Die Kirche wird diese schrecklichen Fälle überleben und weiter ihr Zeugnis in die Zukunft tragen.

3. Schmücken wir die Kirche mit unserer Persönlichkeit! Werden wir Männer und Frauen, die die Kirche zieren! Reden im Zentralkomitee und das Geschwätz auf den Synoden bringen der Kirche nichts ein. Aber wenn wir Männer und Frauen haben, die heiligmäßig leben, die für ihren Glauben zeugen durch ihr Beispiel, die ein Vorbild sind für ihre Familie und ihre Umgebung, dann wird die Kirche anziehend sein. Dann wird sie zwar weiter eine sündige Kirche sein, aber man wird auch sagen können: Sieh da! Sieh dort! Sie ist nicht nur die Kirche der Sünder, sie ist auch die Kirche der Heiligen!

Amen.

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