26. Februar 2023
Jesu Worte der Not
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir wollen heute und an den kommenden Sonntagen das Leiden unseres Herren betrachten, aber weniger von außen, nicht so sehr sein körperliches Leiden, als vielmehr das, was in seiner Seele vor sich ging, seinen inneren Kampf und seine innere Not, seine innere Kraft und seine große Heilandsliebe. Wir wollen hineinschauen in sein Herz und sehen, was er selber über sein Leiden sagt, denkt, fühlt.
Heute wollen wir die Worte der Not betrachten, die Christus gesprochen hat, die Notrufe, die er erhoben hat. Zwei davon hat er gesprochen hinauf zu seinem Gott und Vater. Als aber sein Gott und Vater ihn nicht erhörte, hat er zwei Worte der Not gerufen zu den Menschen, zu uns. Das erste Wort der Not hat er im Garten des Ölbergs gesprochen. Als die Todesangst ihn überfiel, als er auf der Erde lag, zitternd an allen Gliedern, kraftlos und mutlos, als das Blut ihm aus den Poren drang, als er keine Hilfe und keine Rettung mehr sah in sich, da hat er gerufen und gefleht: „Vater, wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorübergehen!“ Warum rief er zum Vater? Er ging zum Vater auch in dieser bitteren Stunde, weil er immer zum Vater ging, weil er mit allem zum Vater ging, weil er sein ganzes Herz in jeder Stunde zum Vater trug, weil dort seine Heimat war, weil er nicht bloß seine Not, sondern auch seine Freude, seinen Mut, seine Bereitschaft, seine Dankbarkeit, weil er alles zum Vater trug, alles, wie ein Kind; denn er war das Kind des Vaters. So trug er jetzt auch seine große Not zu ihm, eine Not, wie er sie noch nicht gehabt in seinem Leben, eine Schwäche, eine Angst, eine Todesangst. Jetzt, wo er ganz zerbrochen am Boden lag, auch jetzt hob er seine Augen empor zum Vater, wie er es immer getan hatte. Er scheut und schämt sich nicht, vor seinen Vater zu kommen, es mag sein, wie es will. Mit allem, was er im Herzen trägt, mit allem, was er fühlt und denkt und lebt, kommt er zum Vater. Der Vater war ihm der große Vertraute, der einzige Freund, die Heimat seiner Seele, wohin er alles trug. „Vater“, sagt er, „wenn es möglich ist.“
Warum sollte es nicht möglich sein? Bei Gott ist doch alles möglich, Gott ist doch der Allmächtige, Gott kann doch jeden Kelch an ihm vorübergehen lassen – warum sollte es also nicht möglich sein? Wenn es nicht möglich ist, dann kann es nur daher kommen, dass hier ein Ratschluss Gottes steht so fest und unverrückbar wie das Wesen Gottes selbst. Was in der Heiligkeit und in der Liebe Gottes gegründet ist, das kann in der Tat nicht geändert werden, das steht ewig fest, und es ist nicht möglich, daran zu rütteln. So ein Ratschluss liegt hier vor. Das weiß Jesus, und darum fängt er auch nur an, ganz schüchtern zu fragen; er denkt nicht daran, einen solchen Ratschluss etwa umstoßen zu wollen; er will auch seinem Vater nicht Gewalt antun. „Vater“, sagt er ganz fügsam, „wenn es möglich ist, dann lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Noch sind erst einige Stunden vorüber, da hat er zu seinen Jüngern gesagt: „Hier, nehmt diesen Kelch und trinket alle daraus; keiner lasse diesen Kelch an sich vorübergehen.“ Nun aber wird ihm selbst ein Kelch geboten, und er soll ihn trinken, und nun muss er bitten: Lass ihn an mir vorübergehen! Aber freilich, da ist ein Unterschied: Der Kelch, den er seinen Jüngern vor wenigen Stunden gereicht hat, war ein Kelch der Freude; er aber soll den Kelch der Bitterkeit trinken. Das war ein Kelch der Kraft, er aber soll den Kelch des Todes trinken. Zwischen den beiden Kelchen besteht ein Unterschied, aber auch ein Zusammenhang. Den fühlt und sieht er selbst, und darum sagt er: „wenn es möglich ist“. Er weiß schon, es ist nicht möglich. Denn gerade weil er seinen Freunden einen Kelch der Liebe bot, darum muss er den Kelch des Leidens trinken. Weil er seinen Jüngern den Kelch des Lebens bietet, darum muss er den Kelch des Todes trinken. Denn er muss den Kelch der Danksagung, den er für seine Jünger gefüllt hat, erkaufen mit dem Kelch der Bitterkeit. So betet er: Lass ihn vorübergehen, wenn es möglich ist! Es ist der Kelch, den er um unsertwillen trinken muss und an dem er nicht vorbeikommt. Und er hat ihn schon angenommen in dieser heiligen Stunde am Ölberg. Er musste ihn trinken.
So fängt er an ihn zu trinken. Und dann weiter vor Annas und Kaiphas und Pilatus und Herodes Antipas, vor den römischen Legionären und der johlenden Menge. Und da er schon bald an den Schluss gekommen ist, bis zur bitteren Neige, wird es ihm wieder zu schwer. Deshalb erhebt er nochmals seinen Notruf zu Gott: „Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich verlassen!“ Das ist der Notruf am Ende. Der andere war der Notruf am Anfang. Was liegt alles dazwischen: das Trinken des großen, tiefen Kelches. So ist auch ein Unterschied zwischen diesen beiden Worten. Damals im Ölgarten war es noch der erste Tropfen, jetzt aber ist er zur bittersten Neige gekommen. Damals war noch eine Süßigkeit in seinem Notruf. „Vater“, konnte er sagen, und sein ganzes Kindesherz hat da mitgesprochen, hat mitgebebt. Es war noch ein Vertrauen darin: Dieser Vater wird mich nicht verlassen, wenn ich auch den Kelch trinken müsste. Wenn es möglich wäre, würde er ihn mir ersparen. Aber in diesem zweiten Wort der Not – wie erschrecken wir, wenn wir das hören, dass Gottes Sohn so rufen konnte: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ist vielleicht in seiner Seele für einen Augenblick das Leid zum Herrscher geworden und hat alles übertönt, was sonst in dieser Seele klang und lebte? Wenn ja, dann war es das Menschheitsleid, das in dieser Stunde über ihn Herr wurde, dann war es das Leid der Welt vom ersten Tag der Schöpfung an bis zum letzten Tag, das über ihn herfiel und ihn niederdrückte, dann war es unser aller Not, die auf ihm lag. Der Psalm, den Jesus zu beten anfängt, fährt dann fort: „Mein Gott, den ganzen Tag rufe ich zu dir, und du erhörst mich nicht.“ So hat Jesus weitergebetet, und in der Tat, so war es. Den ganzen Tag ruft er schon, von der nächtlichen Stunde, wo er im Ölgarten lag, bis jetzt um die sechste, um die neunte Stunde, wo schon die Abendschatten über Golgotha herziehen. Den ganzen Tag schon ruft er zu Gott, und der Vater erhört ihn nicht. Es kommt keine Stimme vom Himmel, wie sie früher gekommen war, wo es geheißen hatte: „Das ist mein geliebter Sohn.“ Es kommt keine Legion von Engeln. Es öffnet sich kein Himmel. Es fährt kein Blitz hernieder, seine Feinde zu vertreiben. Er ist verlassen, preisgegeben seinen Henkern.
So geht er zu den Menschen. Wie ist das furchtbar, dass auch Christus, der leidende, den Weg zu den Menschen gehen muss! Schon im Ölgarten begann er diesen schweren Weg zu gehen. Da die Todesangst nicht von ihm wich und immer schwerer wurde, stand er auf, einmal, zweimal, und kam zu seinen Jüngern. Aber die Jünger schliefen. Da flehte er: „Wachet doch mit mir! Könnt ihr nicht einmal eine Stunde mit mir wachen? Wenigstens eine Stunde sollt ihr mit mir wachen.“ Warum bittet er so? Es ist ihm ergangen, wie es allen leidenden Menschen geht: Sie schauen aus nach einem hilfreichen Menschen. Wenn er ihnen auch nicht helfen kann, wenn sie wenigstens einen Menschen sehen, wenigstens eine bekannte Stimme hören, wenigstens eine Hand fassen, in ein Auge schauen können, dann ist es schon leichter. So wird der Mensch in seiner Not zum Menschen getrieben. Wenn nur etwas Lebendiges da ist, dann ist es schon ein bisschen leichter. So kommt der Heiland zu seinen Jüngern, um etwas Lebendiges zu spüren, in ihre Augen zu schauen, wenigstens ihre Stimme zu hören, wenn sie ihm auch nicht helfen können. Sie können seinen Kelch nicht trinken, sie können ihn nicht befreien, seine Todesangst nicht wegnehmen, aber hören möchte er sie, sehen möchte er sie. So bittet er sie, mit ihm zu wachen. Doch er hat nicht gefunden, was er suchte. Die Jünger schliefen, waren schlaftrunken, und gaben ihm entweder gar keine oder eine verworrene Antwort. Sie verstanden ihn nicht in seiner Not, denn er war zu weit weg. Wenn ein Mensch einmal ganz tief in der Not ist, ist er immer einsam. Wenn er dann um sich greift mit den Armen, um etwas Lebendiges zu fühlen, dann wird er nichts finden; denn er ist so tief drunten. Dort in jener Tiefe ist jeder allein. Je größer ein Leid ist, um so einsamer muss es werden. Wir sehen an diesem Hilfeflehen Jesu Christi, dass sein Leiden wirklich bis auf den Grund gereicht hat, auf den Grund einer furchtbaren Einsamkeit, wo seine Jünger, die es doch gut mit ihm meinten, nichts mehr verstanden.
Noch einmal geht der Herr zu den Menschen, erhebt er einen Notruf, und das am Ende der Passion. Nachdem er den Notruf zu Gott erhoben hat, ohne eine Erleichterung zu bekommen, ruft er am Kreuze wiederum zu den Menschen und sagt: „Mich dürstet.“ Ach, so weit ist er jetzt gekommen. Jetzt verlangt er nicht mehr viel. Jetzt verlangt er keine seelische Gemeinschaft mehr, jetzt verlangt er keine warme Hand mehr und kein teilnehmendes Wort, nur noch „ich dürste“ sagt er. In dem Notruf zu Gott war die Stimme seiner Seele, die Stimme seiner Kindschaft übertönt von der Stimme des Weltleids, des Menschheitsleids. Aber in diesem letzten Wort der Not, das er zu Menschen spricht, sagt seine Seele überhaupt nichts mehr, ist seine Seele ganz stumm geworden. Nur noch sein armer, zerrissener Leib erhebt die Stimme. Für seinen Leib noch fleht er um eine Erleichterung, seine Seele verlangt nichts mehr. Wenn es noch eine Verzweiflung des Leids nach der Verlassenheit gibt, dann war sie hier, wo er so anspruchslos geworden ist, nur noch einen Tropfen Flüssigkeit zu erbitten, sonst nichts.
Und siehe, da ward ihm nun Erhörung und Erfüllung, gerade jetzt. Ein Soldat wurde von Mitleid gerührt und tauchte einen Schwamm in ein Gefäß mit Essig und reichte ihm den Schwamm auf einem Stab, und Jesus netzte seine Lippen an dem essigsauren Schwamm. Es ward ihm eine Hilfe. Und es ward Mitleid erregt in dem Herzen eines Menschen, in dem Herzen eines Mannes. In einem harten Soldatenherzen glühte ein Schimmer der Liebe auf. Sollte nicht das vielleicht der Grund gewesen sein, warum der Vater ihn nicht erhört hat, warum der Himmel geschwiegen hat. Der Himmel wartet darauf, dass auf der Erde die Liebe erblüht, dass auf der Erde ein Schimmer von Mitleid erwacht. Denn so will Gott den Menschen helfen, durch die Menschen will er ihnen helfen, durch hilfreiche, liebreiche Menschen, durch opferwillige selbstlose Menschen will Gott helfen, auf keine andere Weise in der gewohnten Heilsordnung. Das ist wohl der Grund, warum Gott zu so viel Leid immer noch schweigt: Weil immer noch nicht die Liebe wach geworden ist in unseren Herzen; weil wir immer noch nicht laufen, einen Schwamm zu tunken in erquickende Flüssigkeit, um unsere Mitmenschen zu laben. Immer noch wartet Gott darauf. Und warum wohl? Können wir denn unsere Mitmenschen erquicken? Können wir denn die Not der Welt aufheben? Wir können doch so wenig tun. Was ist schon Großes an diesem essigsauren Getränk, das da den Lippen des Heilands geboten wird! Ist das nicht eine ganz armselige kleine Hilfe? O nein, nein, nein. Was die Liebe tut, ist niemals unbedeutend, ist niemals unbeachtlich.
Diese Liebe ist die Erlösung der Welt. Denn das ist eigentlich die größte Not, in der wir sind: nicht die Not der Ungeliebten, nicht die Not der Verstoßenen, nicht die Not der Enterbten, sondern die Not der Lieblosen. Die Menschheit, die keine Liebe hat, ist wahrhaftig in Not, ist unrettbar, ist verloren. Darum muss alles aufgeboten werden, um die Liebe aufzuwecken in der liebeleeren Menschenseele. Wenn es gelingt, auch nur in einer Seele, in einem harten Soldatenherzen, in einem rauhen Henkerherzen einen Schimmer von Liebe aufzuwecken, dann kann Gott ruhig zusehen, dass sein eigener Sohn sich zu Tode ruft in seiner Not; das ist nicht zu teuer erkauft. Es ist der Mühe wert, dass Gottes Sohn in Not kommt, wenn nur in einem Herzen ein Fünklein Liebe erwacht. Es scheint, dass wir nicht viel mehr tun können, als unseren Brüdern und Schwestern eine kleine Erquickung bereiten. Und doch wartet Gott darauf, dass wir es tun. Warum denn? Weil es etwas Großes ist um die Liebe, die das tut, und wenn sie auch nur einen Schwamm an den Mund eines Sterbenden drückt, ist es etwas Großes, wenn es die Liebe tut. Auch für diesen Menschen selbst; denn so wird er selbst gerettet. Wir hören nichts weiter aus der Heiligen Schrift von diesem Soldaten. Aber ich glaube, seine Liebestat hat ihm selbst auch Rettung gebracht. Der rechte Schächer, der nur ein Wort zugunsten des Herrn sprach, bekam das Paradies noch am gleichen Tag. Dieser Henker aber hat mehr getan. Unter dem Spott und gegen den Widerstand seiner Kameraden hat er den Sterbenden getränkt. Sollte nicht auch er das Himmelreich bekommen haben? Es war ja schon in seiner Seele ein Anfang des Himmelreiches, es war schon ein Aufblühen Gottes in dieser Regung des Mitleids, der er gefolgt ist. Ihm ist das Leiden wahrhaftig zur Brücke geworden, auf der Gott zu ihm kam an dem Abend dieses Karfreitags. So möchten wir denken. Das ist der Weg, der einzige Weg, auf dem das Leid der Welt aufgehoben wird: dass es hineinströmt in die Seelen und dort die Liebe weckt, von Liebe getragen, von Liebe umfangen, von Liebe betreut wird. Dann wird diese Liebe selbst zum Himmelreich. Gott selbst steigt nieder auf der Brücke der Not in die dienende Liebe der Seelen. So hat auch der Heiland selbst die Welt erlöst von Sünde und Leid. Er hat das Leid der Menschheit, das maßlose und grenzenlose Leid, in seine Seele aufgenommen. Und seine Seele war groß und weit wie sonst keine Menschenseele. In dieser großen, weiten Seele war eine ebenso große Erbarmung und Liebe, und sie hat dieses Menschenleid umfangen. So hat er das Himmelreich gegründet für sich selbst und für uns. Weil er dieses Leid von uns und für uns getragen hat, ist er auch für uns der Erretter geworden, der alles heilt, alle Freude, alles Glück, alle Erhebung, alle Seligkeit für uns in sich trägt. Wahrhaftig gelobt und gebenedeit ist er, weil er für uns gelitten hat.
Amen.