Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
31. Dezember 2017

Die Fremdheit Jesu in dieser Welt

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In dieser Weihnachtszeit und auch heute, am letzten Tage dieses Jahres, war und ist es mein Anliegen, Ihnen den unverstellten Blick auf Jesus Christus, unseren Gott und Heiland, freizugeben. Wir müssen wissen, wer der ist, der als Kind in der Krippe lag und dem die Engel huldigten, damit wir die richtige Beziehung zu ihm aufbauen, also Vertrauen und Liebe, Anbetung und Gehorsam. Was die Zeitgenossen Jesu an diesem Menschen erlebten, geht über alles hinaus, was Geschichte und Erfahrung sonst von einem Menschen erzählen. So hat man mit Recht gesagt: Die Gestalt Christi ist unerfindlich. So redlich hier das menschliche Leben bestanden und das menschliche Schicksal getragen wird, die Gestalt Christi bleibt rätselhaft, solange wir nicht sehen, aus welcher hintergründigen Wirklichkeit sie herauswächst. Alles, was dieser Mensch ist und tut, hebt sich empor aus seiner Gottwirklichkeit. Darin sind sich alle neutestamentlichen Schriftsteller einig: Derjenige, den sie bei seinen Predigten hörten und auf seinen Wanderungen begleiteten, mit dem sie zu Tische saßen, der geht über alles hinaus, was Menschenmaß und Maß der Welt ist. Er ist der eingeborene, dem himmlischen Vater wesensgleiche Sohn Gottes. Gemeint ist die metaphysische, die seinshafte Gottessohnschaft, nicht die moralische, die im Bewusstsein besteht. Nein, metaphysische Gottessohnschaft bedeutet: Der Sohn hat dasselbe göttliche Wesen wie der Vater. Jeder der neutestamentlichen Schriftsteller hat Christus in seiner Weise erlebt und schildert ihn daher auch in seiner Weise mit dem ihm zur Verfügung stehenden Sprachschatz, in der ihm gemäßen Weise, die Wirklichkeit zu ergreifen. Jeder legt von Christus Zeugnis ab, und was sie bezeugen, das stimmt im Kern überein. Aber jeder legt Zeugnis ab in seiner Sprech- und Vorstellungsweise. Dieses Zeugnis ist letztlich das Zeugnis des Heiligen Geistes. Er ist es, der von Christus Zeugnis ablegt, er ist der Verfasser, der unsichtbare, der letzte und erste Verfasser der Schriften des Neuen Testamentes. Das Zeugnis des Heiligen Geistes aber geschieht durch Menschen: durch Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Paulus und wie sie alle heißen. Denn der Heilige Geist hebt, wenn er freie Menschen als seine Werkzeuge benutzt, die Eigenart dieser Menschen nicht auf, er achtet sie, passt sich ihr an. In jedem Christuszeugnis spiegelt sich also der ganze Christus, aber er spiegelt sich in jedem Zeugnis anders. Bei aller wesenhaften Einheitlichkeit im Inhalt bestehen in der Auswahl und in der Form des Bezeugten Unterschiede. Aus der Zusammenschau der verschiedenen Weisen des Christuszeugnisses gewinnen wir die Ganzheit seiner Person.

Zunächst ist für das Christuszeugnis der Evangelien charakteristisch, dass er nach der Schilderung ihrer Verfasser über alles hinausgeht, was mit psychologischen und biologischen, biographischen und historischen Mitteln erfasst werden kann. Sie haben ihn als eine fremde, in menschliche Kategorien sich nicht einfügende Wirklichkeit erfahren. Dies wird besonders deutlich an der Tatsache, dass Christus ihnen zeitlebens trotz aller Nähe und Vertrautheit in seinem letzten Geheimnis unverstanden blieb. Als Jesus nach der großen Abendeinladung, die er gegeben hatte, ihnen ganz nahe gekommen war, da mussten sie erleben, dass er ihnen wieder entglitt. „Gleich entließ er das Volk“, so heißt es im Evangelium nach Markus. Er schickte die Volksmenge weg, „er selbst aber ging auf den Berg, um zu beten“. Auf ihre Aufforderung: „Meister, iss!“, da mussten sie hören: „Ich habe ein Speise zu essen, die ihr nicht kennt.“ Da sprachen die Jünger zu ihm: „Hat ihm vielleicht jemand zu essen gebracht?“ Jesus sagte ihnen: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, um seine Werke zu vollbringen.“ In der gleichen Linie liegt es, wenn den Jüngern, auch den nächstliegenden, die Botschaft vom Reiche Gottes noch vor der Himmelfahrt unverständlich blieb: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Königreich für Israel wieder her?“ Erst nach der Verwandlung, die der Heilige Geist an ihnen vorgenommen hat, erst danach haben sie einen endgültigen Zugang zum Geheimnis Jesu gefunden. Aus der Tatsache, dass Christus den Jüngern, solange er bei ihnen war, ein undurchdringlicher Geheimnisvoller war, aus dieser Tatsache sieht man, dass seine Gestalt wesentlich anders ausgefallen wäre, wenn sie von Menschen erfunden wäre. Sie ist nicht von den Jüngern in einer schöpferischen Intuition hervorgebracht worden, sondern in einer immer wieder mit neuem Staunen erlebten Erfahrung entgegengenommen worden. Wie Christus aussieht, wenn Menschen ihn gestalten, das kann man an der liberalen Exegese erkennen. Der Christus des 19. Jahrhunderts, den die damaligen Exegeten dargestellt haben, ist ein Abbild des wissenschaftsgläubigen Spießers dieser Zeit. Und der Christus des 20. Jahrhunderts ist für die liberalen Exegeten der im Grunde nicht mehr gottesgläubige Genießer.

Am stärksten tritt dieser Sachverhalt in Erscheinung bei Paulus und Johannes. Für Paulus war es ein lebenslängliches Rätsel, dass Gott seine Herrlichkeit offenbarte in der Schwäche des Fleisches, in der Torheit des Kreuzes. Dem Apostel wäre aufgrund seiner ursprünglichen Vorstellung von Gott ein wesentlich anderes Bild vom Rettergott nahegelegen: das Bild eines Starken, eines Mächtigen, der die Feinde zerschmettert. Man spürt in den Briefen Pauli häufig, dass er sich gegen die Gottesvorstellung in seinem eigenen Innern zur Wehr setzt, zur Wehr setzen muss, um sich von der von außen ihm zukommenden Gotteserfahrung überwältigen zu lassen. Wenn er im Brief an die Gemeinde in Rom schreibt, dass er sich des Evangeliums nicht schämt, so drückt sich darin in einer verräterischen Weise aus, was aus der Tiefe seines Inneren immer wieder ans Licht zu kommen sucht. Ähnliches gilt von dem Satze, dass die Botschaft vom Kreuze den Juden ein Anstoß und den Heiden ein Spott ist; man lacht über eine derartige Offenbarung Gottes. Der Apostel spürt offensichtlich in sich die Versuchung, in dieses Lachen einzustimmen. Wie sollte der Mensch sich nicht an einem schwachen, von den Menschen zum Tode verurteilten und hingerichteten Gott stoßen? Er widerspricht allen Bildern, die der Mensch sich vom Göttlichen, vom Numinosen macht. Was Paulus von Gott sagt, wenn er ihn als den Gekreuzigten verkündet, ist nicht geboren aus der Tiefe seines Herzens, aus der Tiefe irgendeines Herzens, sondern es entstammt der Erfahrung, die von außen über ihn gekommen ist und ihn zu Boden wirft, die das Gottesbild zertrümmert, das er sich selber gebaut hat. Vor den Toren von Damaskus hat Paulus erfahren, dass Christus seine Hand auf ihn legt. Und er hat ihn verwandelt, sodass er jetzt anbetete, was er verfolgt hatte, und dass er verkündete, was er vorher verurteilt hatte.

Nicht anders steht es mit dem Christuszeugnis des Johannes. Johannes besaß von Natur aus eine gewaltige Liebeskraft, aber er war ohne Güte. Er hatte eine Liebe zu den Sachen, eine Liebe zu der Sache, aber nicht zu den Menschen. Dieser ungütigen Liebe entspricht die Fähigkeit zu glühendem Hass; er äußerte sich in der Schärfe, mit der Johannes den Judas beurteilte. In Bezug auf den Inhalt seiner ursprünglichen von Hause ihm liegenden Überzeugung nähert sich Johannes jener Weltanschauung, die man dualistisch nennt. Die Welt ist aus Gegensätzen aufgebaut, sie besteht aus Göttlichem und Dämonischem, aus Gutem und Bösem, aus Licht und Finsternis, aus Materie und Geist, aus Liebe und Hass. Am Johannesevangelium sieht man, dass Johannes in den Erfahrungen, die er mit Christus machte, seine ursprüngliche Wesensanlage und seine ursprüngliche religiöse Überzeugung umgeformt hat. Aber das Ursprüngliche tritt in seinem Evangelium gelegentlich blitzartig hervor. Hätte Johannes das Bild Christi aus seinem eigenen Inneren heraus schöpferisch erzeugt, dann hätte er eine vom Hass gegen seine Feinde glühende, fanatische Erlösergestalt erschaffen. Die Christusgestalt, die uns im Evangelium begegnet, trägt wesentlich andere Züge. Sein Christus ist kein Mythos, sondern Geschichte. Der Inhalt seines Christuszeugnisses ist der Niederschlag dessen, was er gesehen und gehört hat; darauf legt er den größten Wert. „Was von Anfang an war, was wir gehört und mit eigenen Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände betastet haben, das verkündigen wir euch.“

Die Gestalt Christi ist also schon den vertrauten Jüngern geheimnisvoll und fremdartig erschienen. Dieser Eindruck verstärkte sich, als er inmitten seiner hinreißenden Reden und seiner überwältigenden Taten anfing, von seinem grausamen Ende zu sprechen. Der Evangelist Lukas beschreibt mit drei Wendungen das Unverständnis der Jünger auf die dritte Leidensweissagung: sie verstanden nichts davon, die Rede war für sie dunkel, sie erkannten nicht, was damit gesagt werden sollte. Erst recht ist die Gestalt Jesu den fernstehenden und teilweise feindlich gesinnten Menschen unverständlich gewesen. Seine Botschaft von Gott und vom Menschen, vom Reiche Gottes und von der Welt war derart, dass sie allem, was die Massen sich von Gott und dem verheißenen Reiche erwarteten, ins Gesicht schlug. Deshalb waren sie durch Christus und seine Botschaft enttäuscht und gereizt. Er zerschlug liebgewordene Bilder und Vorstellungen, und deswegen nahmen sie an ihm Anstoß. Der Ärger, den sie an ihm nahmen, spitzte sich zum Hass zu, indem sie sich Christus auf jede Weise vom Leibe schaffen wollten. Dieser Hass, meine lieben Freunde, war keine Zufallserscheinung. Er hätte nicht durch größere Vorsicht oder Geschicklichkeit Jesu vermieden oder überwunden werden können, er war vielmehr unvermeidlich. Denn in ihm äußerte sich der Widerstand, den der gegen Gott verschlossene, in sich selbst verliebte Mensch dem auf ihn zugehenden Gott entgegensetzt. Der selbstherrliche Mensch, der seiner selbst sichere Mensch erträgt es nicht, dass er Gott in der Ohnmacht und Hilflosigkeit eines Kindes, eines Menschen, noch dazu eines zum Tode verurteilten Menschen anbeten soll. Sein Widerspruch und sein Widerstand, seine Gereiztheit und sein Hass entstammen also nicht irgendeiner schädlichen Einwirkung Christi auf das menschliche Leben, sondern der Mensch nimmt an ihm Anstoß, weil der in Christus ihm begegnende Gott anders ist als die Gottes- oder besser als die Götzenbilder, die er sich selbst geschaffen hat und von denen er nicht lassen will. Dass Christus hingerichtet wurde, lag nicht an einem Missverständnis oder an einer taktischen Ungeschicklichkeit, es lag im Wesen jener Beziehung, in die der eigenherrliche Mensch zu dem in der Schwäche erscheinenden Gott treten muss. Der autonome Mensch erträgt einen solchen Gott nicht.

Christus war sich selbst seiner Fremdheit in der Welt des selbstherrlichen Menschen bewusst. Er musste dieses furchtbare Bewusstsein ertragen. Er wusste, dass er nicht bloß diesem oder jenem Menschen, sondern jedem Menschen fremdartig erschien. Er musste daher trotz der Nähe zu den Seinen in einer unüberwindlichen Einsamkeit leben. Wenn er, wie er sagte, nichts hatte, wohin er sein Haupt legen konnte, dann drückt sich darin seine wesenhafte Fremdheit in dieser Welt aus. Christus musste es zeitlebens aushalten, dass er seinen Getreuen und seinen Hassern, seinen Freunden und seinen Feinden unzeitgemäß erschien. Er kommt dem sündigen Menschen immer unzeitgemäß vor, weil er zur Selbstherrlichkeit dieser Welt nicht passt. Die Welt schließt sich gegen ihn im Hass zusammen. Der Gegensatz, den sie gegen ihn verspürt, liegt jenseits aller sonstigen Gegensätze. Diese werden vor dem Hauptgegensatz – eben gegen den in Christus erschienenen Gott – eingeebnet. So wird begreiflich, dass die unversöhnlichsten Feinde in der gemeinsamen Gegnerschaft zu Christus sich zu Freunden zusammenfinden. Der Heide Pilatus und der Jude Herodes vergessen angesichts Christi ihre lange und tiefe Feindschaft. Alle innerweltlichen Differenzen verlieren vor dem Widerspruch zu Christus ihr Gewicht. So erklärt sich auch – nebenbei gesagt, meine lieben Freunde – die Tatsache, dass sich die anderen Religionsgemeinschaften gegen die katholische Kirche und ihre Lehre zusammenschließen. Das ist ihr Hauptgegner. Er muss es sein, weil diese Kirche die Botschaft Christi unversehrt durch die Zeiten trägt. Christus drückt die Tatsache dieser Fremdheit in einem Worte aus, in dem sein innerstes Bewusstsein von der Einsamkeit, die ihm in dieser Welt auferlegt ist, hervorbricht: „Wenn die Welt euch hasst, so wisset, dass sie mich zuvor gehasst hat. Wenn ihr aus der Welt wäret, würde die Welt das Ihrige lieben. Da ihr aber nicht aus der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt erwählt habe, hasst euch die Welt. Es soll das Wort in Erfüllung gehen: Sie haben mich ohne Grund gehasst.“ Die tiefste Ursache für die Fremdheit Christi in dieser Welt liegt darin, dass er von „oben“ ist, während alle anderen von „unten“ sind. Christus ist nicht geboren aus Fleisches- willen und Manneswillen, er ist vielmehr vom Vater in die Welt gesandt. Er steht zwar in der Reihe der menschlichen Generationen, aber überragt alles Menschliche. Dieser Jesus Christus, meine lieben Freunde, und nur dieser ist der Herr unseres Glaubens und der Gegenstand unserer Anbetung. Er hat uns an sich gezogen und uns zu seinen Brüdern und Schwestern gemacht. Der domestizierte Christus der liberalen Theologie ist eine Erfindung von Menschen, von Menschen, die Gottes Offenbarung verwerfen. Der domestizierte Christus ist nicht der wahre Christus. Entweder der göttliche Heiland mit Krippe und Kreuz oder der ideale Mensch der gottvergessenen liberalen Theologie. Wir haben gewählt. Wir haben geglaubt und erkannt, dass Jesus der Heilige Gottes ist. Ihm gehören wir an, und von ihm wollen wir nicht lassen.

Amen.

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