Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
8. Oktober 2000

Die Zeugnisse der Heiligen Schrift

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Was dünkt euch von Christus? Wessen Sohn ist er?“ Diese Frage haben wir soeben im Evangelium der heiligen Messe vernommen. Sie ist zeitlos. Seitdem Christus über die Erde gewandelt ist, ist immer gefragt worden: Was dünkt euch von Christus? Wessen Sohn ist er? Die Pharisäer gaben die Antwort: „Er ist der Sohn Davids.“ Das war nicht falsch, aber es war nicht genügend. Deswegen hat der Herr sie weitergeführt und ihnen die Frage gestellt: „Wenn Christus der Sohn Davids ist, wie kann dann David ihn ,Herr‘ nennen? Man nennt doch nicht seinen Sohn ,Herr‘.“ Damit wollte er sie zum Geheimnis Christi führen, das weit, weit über der Davidssohnschaft hinaus liegt. Wir bekennen mit dem Glauben: Christus ist der Sohn des lebendigen Gottes; er ist der Eingeborene vom Vater; er ist der wesensgleiche Sohn des himmlischen Vaters.

Die Gestalt Christi ist unerfindlich. Alle Zeugen, die uns von seinem Leben berichten, sind sich darin einig, daß er alles Menschenmaß überschreitet. Derjenige, mit dem sie wanderten, dessen Worte sie hörten, dessen Taten sie erlebten, geht weit, weit über alles Menschenmaß hinaus. Er ist mit biographischen, biologischen, historischen und anthropologischen Kategorien nicht einzufangen. Christus überschreitet alles, was von einem Menschen ausgesagt werden kann.

Die Schriften des Alten und des Neuen Bundes künden uns von Christus, dem Messias. Im Alten Bunde ist seine Herrlichkeit noch verhüllt. Da ist nicht so sehr von der metaphysischen Gottessohnschaft die Rede, also von der Gottessohnschaft im Sein, sondern von der moralischen Gottessohnschaft, d. h. von der Gottessohnschaft in der Gesinnung. Der israelitische König ist ein Sohn Gottes, weil er der Machtträger Gottes ist und weil er im Dienst Gottes steht. Das Volk Israel ist ein Sohn Gottes, weil es der Träger der Verheißungen Gottes ist. Aber das besagt immer nur die moralische Gottessohnschaft, die Gesinnungssohnschaft im Gegensatz zur Seinssohnschaft. Erst im Neuen Testament ist die Gottessohnschaft des Messias in ihrem vollen Sinne enthüllt. Alle neutestamentlichen Schriftsteller sind sich darüber einig: Derjenige, der ihnen begegnet ist, läßt das Maß des Menschen hinter sich. Er übersteigt alles, was von einem Menschen ausgesagt werden kann. Dieser Mensch lebt aus einer Fülle, die menschliche Kategorien nicht auszudrücken vermögen.

Das Christuszeugnis der neutestamentlichen Schriftsteller ist verschieden. Es ist nicht gegensätzlich, es ist verschieden, und zwar rührt die Verschiedenheit davon her, daß ein jeder Schriftsteller nach seiner Eigenart Christus aufgenommen und dargestellt hat. Ein jeder neutestamentliche Schriftsteller gebraucht seine Vorstellungswelt und seinen Sprachschatz, um Christus zu schildern. Die ersten drei Evangelisten, die Synoptiker, stellen Christus als den menschgewordenen Gottessohn dar, als des Davididen, den Messias, der gekommen ist, das Reich Gottes zu bringen, aufzurichten, und der seiner Botschaft am Kreuze zum Opfer gefallen ist, aber vom Vater siegreich aus dem Grabe gerissen wurde. Der Apostel Paulus stellt Christus dar als die himmlische Macht, als den erhöhten Herrn, der kraftvoll in sein Leben einwirkt. Johannes schildert die Gottesherrlichkeit in Christus, die in der Hülle des Fleisches verborgen, aber auch sichtbar geworden ist. Das Christuszeugnis des Johannesevangeliums ist das entfaltetste von allen neutestamentlichen Schriften. In ihm hat sich der Heilige Geist am deutlichsten über Christus ausgesprochen. Johannes schildert Christus so, wie er ihn hätte sehen müssen, wenn er schon damals, als Christus auf Erden wandelte, vom Heiligen Geist erfüllt gewesen wäre. Das heißt: Er schildert ihn so, wie Christus wirklich war, aber wie er von den Seinen nicht begriffen wurde.

Daß Christus den Jüngern zeitlebens rätselhaft blieb, ergibt sich aus mannigfachen Tatsachen. Als er einmal eine große Abendeinladung gab und sie meinten, ihm besonders nahegekommen zu sein, da entglitt er ihnen und ging auf einen Berg, um zu beten. Einmal wollten sie ihm zu essen bringen, und sie sagten: „Meister, iß!“ Da entgegnete er ihnen: „Ich habe eine Speise, die ihr nicht kennt.“ Da waren die Jünger ratlos: Ja, hat ihm denn jemand zu essen gebracht? „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, daß ich sein Werk vollbringe.“ Rätselhaft war ihnen Jesus auch in seinen Wundertaten. Als er den Seesturm gestillt hatte, da fragten sie voll Furcht: „Was ist denn das für einer, daß ihm sogar der Wind und die Wellen gehorchen?“ Und selbst noch vor der Himmelfahrt fragten sie ihn, ob er jetzt das Reich Gottes nach ihrem Verständnis herstellen würde. Sie hatten also immer noch nicht begriffen, welches das Reich war, das er ihnen verheißen hatte.

Dieses Geheimnisvolle, dieses Undurchdringliche an Jesus ist der Grund dafür, daß die Jünger ihre eigenen Gottesbilder zertrümmern mußten, um Jesus zu begreifen. Wenn sie aus ihrem Inneren, aus der Tiefe ihres Herzens eine Phantasiegestalt geschaffen hätten, dann wäre sie ganz anders ausgefallen als der Jesus, der uns in den Evangelien begegnet. Das ist deutlich zu sehen an den Aposteln Paulus und Johannes. Paulus war es zeitlebens ein Rätsel, daß Gott sich offenbaren konnte in der Schwäche des Fleisches und in der Torheit des Kreuzes. Aus seinem eigenen Inneren hätte er eine Gottesgestalt geschaffen, die ein mächtiger Rächer ist, eine gewaltige, furchtbare Gestalt, die die Feinde aus dem Lande treibt und die Unreinen tötet. Aber diese Gottesgestalt, die aus seinem Inneren aufstieg, wurde ihm zerschlagen durch die Erfahrungen, die er mit Jesus machte. Einmal sagte er, er schäme sich des Evangeliums nicht. Das ist verräterisch, denn offenbar spürt er aus seinem Inneren die Versuchung aufsteigen, sich dieses Evangeliums von dem gekreuzigten Gott zu schämen. Auf derselben Linie liegt es, wenn er einmal sagt: Das Wort vom Kreuze ist den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit. Man lacht darüber, und er spürt in sich die Versuchung, in dieses Lachen einzustimmen. Aber er hat diese Versuchung überwunden; er hat die eigenen Gottesbilder von der Erfahrungen, die er mit Christus, dem Gekreuzigten und Erhöhten, machte, zertrümmern lassen.

Ähnlich ist es bei Johannes. Guardini hat einmal mit Recht festgestellt, daß Johannes von Natur aus ein fanatischer, unduldsamer, gewalttätiger Typ war. Er hatte eine Liebe zu den Sachen, nicht zu den Menschen. Er hatte die Möglichkeit eines furchtbaren Hasses, wie sie ja auch noch durchschimmert in seinen Äußerungen über den Judas in seinem Evangelium. Von seiner ganzen Artung her hätte er ein gnostisches Welt- und Gottesbild entworfen. Gnostisch, das heißt eine Welt, die aus dem Gegensatz zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkel, zwischen Geist und Materie besteht. Ein solches gnostisches Gottesbild hätte ihm nahegelegen, aber die Erfahrungen, die er mit Christus machte, haben seine Wesensanlage umgewandelt und haben seine Vorstellungen über Gott geändert. Der Christus, den er in seinem Evangelium schildert, ist von ihm nicht erfunden, sondern ihm gegen seine eigene Wesensanlage, gegen seine eigenen Vorstellungen von außen aufgezwungen worden. „Was wir gesehen haben“, schreibt er ja in seinem ersten Briefe, „was wir gehört haben, was wir mit den Händen getastet haben, das künden wir euch von Christus.“

Wenn schon den vertrauten Jüngern Jesu seine Gestalt unverstanden blieb, dann gilt das erst recht von den Volksmassen. Diese erwarteten ein irdisches Messiastum. Sie träumten von einem neuen, großen, irdischen Reiche, und jetzt kam einer, der diese Träume zerschlug. Jetzt kam Christus, dessen Reich nicht von dieser Welt ist. Sie waren enttäuscht, sie waren gereizt, und ihre Gereiztheit schlug um in Haß. Sie wollten ihn beseitigen, der ihnen ihre Gottesvorstellungen und ihre Reichsvorstellungen zertrümmerte. Der selbstherrliche Mensch erträgt nicht, daß Gott anders ist als die Bilder, die er sich von ihm macht. Der Mensch will nicht von seinen Götzenbildern lassen. Er will sich nicht zu einem Gott führen lassen, der gekreuzigt wurde und hingerichtet ward. Der selbstherrliche Mensch ist deswegen gereizt und haßerfüllt gegen den Gott, den das Christentum verkündet.

Christus selbst wußte, daß er in einer unaufhebbaren Einsamkeit leben mußte. Es war ihm bewußt, daß er den Massen, ja auch den Jüngern fremdartig erschien. Er kannte seine Heimatlosigkeit in dieser Welt, und er hat es einmal ausgesprochen: „Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen könnte.“ Christus ist heimatlos auf dieser Erde, er ist fremdartig, er ist den Menschen unvertraut. Sie lehnen ihn ab, weil er ihren aus der Tiefe des eigennützigen Herzens aufsteigenden Gottesbildern allzu sehr widerspricht. Der Gegensatz zwischen den menschlichen Götzenbildern und dem wahren Gott, wie er uns in der Offenbarung entgegentritt, ist so groß, daß alle anderen Gegensätze darüber zusammenschmelzen. Das ist der Hauptgegensatz, der die ganze Geschichte durchdringt: der Gegensatz zwischen dem wahren Gott und den Götzenbildern, welche die Menschen sich schaffen. Im Angesicht dieses Hauptgegensatzes finden sich die größten Feinde zusammen. Der Jude Herodes und der Heide Pilatus wurden in der gemeinsamen Gegnerschaft gegen Christus Freunde.

„Was dünkt euch von Christus? Wessen Sohn ist er?“ Das ist die Frage, die uns heute und an den kommenden Sonntagen beschäftigen soll. Wir wollen fragen: Wer ist dieser Christus, dem wir unser Leben geweiht haben? Wer ist dieser Christus, den wir im Glaubensbekenntnis bekennen? Wer ist dieser Christus, auf den wir hoffen im Leben und im Sterben?

Amen.

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