Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. Juni 1989

Jesus, der Gute Hirte

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wenn man die Kapelle der Mainzer Klarissen in der Gymnasiumstraße betritt, fällt einem das ausgesetzte Allerheiligste auf in der Monstranz und darüber ein Mosaikbild. Auf dem Mosaikbild ist folgendes dargestellt: Ein Kreuz, mit einem Strahlenkranz umgeben. Von diesem Kreuz gehen sieben Ströme aus, und von rechts und links kommen Schafe, um von den Wassern zu trinken. Unter diesem Bilde steht geschrieben: „Der Herr ist mein Hirt.“

Dieses Bild erinnert uns an die Absicht, die wir hatten, nämlich die Bezeichnungen uns vor Augen zu führen, die unser Herr und Heiland trägt. Denn diese Namen, die er von Gott empfangen hat, die er sich selbst gegeben hat oder die seine Jünger ihm beigelegt haben, geben etwas von seinem Wesen wieder. Diese Bezeichnungen sind keine zufälligen Worte, die man gefunden hat, sondern sie sind der zutreffende Ausdruck seiner Wirklichkeit. In all diesen Bezeichnungen drückt sich etwas aus von der Wesensart Jesu. Wir haben die Bezeichnungen Messias, Menschensohn, Herr uns vor Augen geführt und ihren Inhalt zu erschließen versucht. Wir wollen heute daran gehen, zu erklären, was es heißt: „Der Herr ist mein Hirt“, wie es unter dem Bild in der Kapelle der Gymnasiumstraße in Mainz geschrieben steht.

Hirten sind in unseren Verhältnissen selten geworden. Aber dort, wo die Nomaden durch die Lande ziehen, noch heute durch die Lande ziehen, weiß man, was ein Hirte ist. Der Hirte ist der Führer seiner Herde. Ob es sich um Esel oder Kamele, um Ziegen oder Schafe handelt, der Hirte hat immer dieselben Aufgaben. Er muß über seiner Herde wachen, er muß sie auf gute Weide führen, er muß kranke und schwache Tiere betreuen, er muß ihnen ein fürsorglicher und tapferer Lenker sein. Diese Erfahrung des Hirten steht natürlich den Menschen, die das Alte Testament geschrieben haben, und auch den Verfassern des Neuen Testamentes in ganz anderer Weise zur Verfügung als uns. Aber auch wir können uns jedenfalls noch ein Bild vom Hirtenleben machen. Schließlich kommen ja auch im Neuen Testament Hirten vor, Hirten auf den Feldern von Bethlehem, wo die Botschaft vom Erlöser an sie erging, Hirten in Gerasa, wo der Besessene von Jesus geheilt wurde. Der Hirt muß also in sich vereinigen Wachsamkeit, Tapferkeit, Führung und fürsorgliche Wartung. Diese positiven Züge im Hirtenbild machen es geeignet, auf Menschen übertragen zu lassen. So hat man schon im Alten Testament, aber auch in der Umwelt des alten Orients die Könige als Hirten bezeichnet. Sie haben eben gegenüber ihren Völkern eine ähnliche Aufgabe wie der Hirt gegenüber seiner Herde. Sie müssen über ihnen wachen, sie müssen sie schützen, sie müssen für sie sorgen.

Es ist aber das Hirtenbild auch geeignet, auf Gott angewendet zu werden. Auch Gott ist eben gegenüber den Menschen wie ein Hirt. Er sorgt für sie, er kümmert sich um das Kranke und Schwache, er führt sie auf gute Weide, er übt Fürsorge und Wartung über ihnen aus; und das meint ja auch dieser Spruch in der Kapelle der Schwestern in der Gymnasiumsstraße: „Der Herr ist mein Hirt.“ Das ist der Anfang eines Psalmes aus dem Alten Testament, es ist der Psalm 23, und dieser wunderbare Psalm beginnt mit dem Satz: „Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir mangeln, er weidet mich auf grüner Au. Er führt mich zu erquickenden Gewässern und labt dort meine Seele. Er leitet mich auf rechten Wegen um seines Namens willen. Auch wenn ich wandern müßte in Todesschatten, ich fürchte kein Unheil, du bist ja bei mir. Dein Stock wie auch dein Stab gereichen mir zum Trost. Du rüstest mir ein Mahl, jenen zum Trotz, die mich bedrängen. Du salbst mein Haupt mit öl, mein übervoller Becher, wie köstlich ist er doch! Ja, dein Erbarmen folgt mir alle Tage meines Lebens, und wohnen darf ich immerdar im Hause des Herrn.“ Das ist der 23. Psalm, meine lieben Freunde, der von der Hirtentätigkeit Gottes kündet. Gott wird hier als ein Hirt beschrieben.

Aber nicht nur Gott wird mit dem Hirtentitel belegt. Auch sein Messias, auch der angekündigte Heilsbringer wird als der Hirt im Alten Testament bezeichnet. Beim Propheten Ezechiel heißt es an einer Stelle: „Ich werde über sie einen Hirten bestellen, der sie weiden soll, meinen Knecht David, der soll sie weiden, der soll ihr Hirt sein.“ Also auch der angekündigte Erlöser, der Messias, den wir schon als Menschensohn und Herrn kennengelernt haben, der soll ein Hirte sein. So war die Verheißung. Und so ist die Verheißung auch in Erfüllung gegangen. Denn unser Heiland kam als ein Hirte. Er hat sich ja selber so bezeichnet. „Ich bin zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ Er hat sich also selbst als Hirten verstanden. Er hat seine Jünger als „die kleine Herde“ bezeichnet. „Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es hat Gott gefallen, euch das Reich zu geben.“ Wo eine Herde ist, da muß auch ein Hirt sein, wenn die Herde nicht verkommen und sich verlaufen soll. Der Hirt ist er selbst.

Und der Höhepunkt in der Bezeichnung, in der Selbstbezeichnung als Hirt findet sich im Johannesevangelium. „Ich bin der gute Hirt,“ so sagt der Herr. Der gute Hirt zum Unterschied von den anderen, die sich als Hirten ausgegeben haben, die aber nur gekommen sind, um zu rauben und zu morden, die die Schafe verführt und zugrundegerichtet haben. „Ich bin der gute Hirt.“ Er nennt sich selbst den guten Hirten, weil er sich um seine Schafe kümmert, weil er sie annimmt, weil er mit ihnen vertraut ist. „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.“

Ich habe einmal gelesen, daß auch die menschlichen Hirten unserer Tage ihre Schafe durchaus voneinander unterscheiden können. Ja, uns scheinen sie alle gleich auszusehen, nicht wahr? Wenn wir eine Schafherde vor uns erblicken, da sieht ein Schaf wie das andere aus. Aber nicht so für den Hirten; ich habe mit Erstaunen gelesen, daß der Hirt jedes Schaf am Gesicht erkennt. Jedes Schaf hat ein eigenes Gesicht, und ein guter Hirt kann jedes Schaf am Gesicht vom anderen unterscheiden. Offenbar schwebte das dem Heiland vor, als er sagte: „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.“ Es besteht also eine Vertrautheit zwischen dem Hirten Jesus und den Seinen.

Ein weiterer Zug dieses guten Hirten ist, daß er noch andere Schafe hat, die nicht aus diesem Schafstalle sind. Ja, wie ist das zu verstehen? Nun, es gibt eben Schafe zweier Kategorien. Die einen, das sind die aus dem Volke Israel stammenden Schafe, die anderen, das sind die aus der Heidenwelt stammenden Schafe. Der Herr hat also von vorneherein die Rettung, die Zusammenführung, die Wartung auch der Heidenwelt in seiner Herde vorausgesehen.

Den Höhepunkt freilich ersteigt der Herr, wenn er sagt: „Der gute Hirt gibt sein Leben für seine Schafe.“ Das ist ein Zug im Hirtenbild, der im ganzen Alten Testament nicht vorkommt. Da wird niemals gesagt: Der Hirt gibt das Leben für seine Schafe. Das kommt nur im Neuen Testament vor. Dieser Hirt nährt die Schafe mit seiner Lebenshingabe. Er nährt sie wie der Pelikan, indem er ihnen selbst sein Fleisch und sein Blut zu essen und zu trinken gibt. Das ist ein Hirt wie kein anderer Hirt.

Diese Lebenshingabe hat der Herr angedeutet, kurz bevor er verhaftet wurde. Da sagte er nämlich zu seinen Jüngern: „Es wird in Erfüllung gehen, was beim Propheten Zacharias geschrieben steht: 'Ich will den Hirten schlagen, und die Schafe werden sich zerstreuen!'„ Ich will den Hirten schlagen, und die Schafe werden sich zerstreuen! Ja, das ist an ihm in Erüllung gegangen. Als er verhaftet wurde, da sind die Jünger geflohen. Aber seine Lebenshingabe hat bewirkt, daß selbst nach seinem irdischen Tode seine Hirtentätigkeit weitergehen konnte, weil ein Strom von Gnade von seinem Kreuzestode ausgeht. Deswegen das Bild in der Gymnasiumstraße. Da gehen sieben Ströme vom Kreuze aus. Das bedeutet, vom Kreuze fließt uns das Heil zu. Vom Kreuze dieses Hirten, vom Lebensopfer dieses Hirten geht ein Strom von Gnade, nein, gehen sieben Ströme von Gnade über uns aus. Und so wird selbst in der Apokalypse, im letzten Buch der Heiligen Schrift, der Hirt Jesus als der Erlöser der Seinen beschrieben, der seine Hirtentätigkeit vom Himmel der Freuden an den Seinen fortsetzt (Apk 7,17).

Neulich sagte mir ein Priester: „Die Leute hören es nicht mehr gern, wenn man sie mit einer Herde vergleicht.“ Das mag sein. Aber ob die Leute es gern hören oder nicht, spielt gar keine Rolle. Wenn der Herr uns – und da zählen ja die Priester genauso dazu wie die Nichtgeweihten –, wenn der Herr uns als seine Herde bezeichnet hat, dann haben wir das hinzunehmen, und dann haben wir das zu erfüllen, nämlich daß wir ihm folgen, ihm, dem guten Hirten. Diejenigen, die dem von Christus bestellten Hirten oder dem Hirten Christus selbst nicht mehr folgen wollen, die folgen halt falschen Führern, die folgen den Schreibern vom „Spiegel“ oder vom „Stern“. Das sind ihre selbstgewählten Hirten. Es ist geradezu lächerlich, so zu tun, als ob die Menschen der Führung nicht bedürften; sie sind und bleiben stets auf Führung angewiesen; und wenn sie nicht die rechten Führer haben, die Christus eingesetzt hat, dann sind es eben Verführer, denen sie folgen! Aber geführt werden sie immer.

Deswegen, meine lieben Freunde, hat es nichts auf sich, wenn man den vom Herrn gebrauchten Ausdruck „Herde“ auf die Gläubigen, und das sind alle Gläubigen, das sind die Geweihten wie die Nichtgeweihten, wenn man diesen Ausdruck zurückweist. Eine solche Ablehnung vergeht sich gegen den Wortlaut und den Sinn der Heiligen Schrift. Nein, wir sind die Schafe seiner Weide, und er ist unser Hirt, und diesem Hirten trauen wir, und diesem Hirten folgen wir, und von diesem Hirten empfangen wir das Heil. „Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir mangeln. Er weidet mich auf grüner Au. Er führt mich zu erquickenden Gewässern und labt dort meine Seele. Dein Stock wie auch dein Stab“, der Hirt hat einen Stock zur Abwehr gegen den Wolf und einen Stab für die Leitung der Herde, „dein Stock wie auch dein Stab gereichen mir zum Trost. Du rüstest mir ein Mahl, jenen zum Trotz, die mich bedrängen. Du salbst mein Haupt mit Öl. Mein übervoller Becher, wie köstlich ist er doch! Auch wenn ich wandern müßte im Todesschatten, ich fürchte kein Unheil. Du bist ja bei mir!“

Amen.

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