Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Dezember 2014

Zeuge Jesu im Leben und im Sterben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das 23. Kapitel im Matthäusevangelium, aus dem wir eben einen Teil gehört haben, ist eines der erschreckendsten Kapitel des ganzen Evangeliums. Denn in diesem Kapitel wird uns berichtet, wie Jesus Abrechnung mit seinen Gegnern, Feinden, Widersachern – also vor allem mit den Schriftgelehrten und Pharisäern – hält. Acht Mal ruft er das „Wehe“ über sie aus: „Wehe euch!“ Am Ende steigert sich seine Anklage zur Klage über das Schicksal der heiligen Stadt: „Jerusalem, Jerusalem, du mordest die Propheten und steinigest, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt, aber ihr habt nicht gewollt!“ „Das soll die Botschaft des zweiten Weihnachtstages sein?“, so fragt man jedes Jahr aufs Neue. Wir brauchen uns indessen nur an das Geheimnis des verborgenen Königs zu erinnern, das ja der Inhalt des Weihnachtsfestes ist, dann verstehen wir alles. „Er kam in sein Eigentum; aber die Seinigen nahmen ihn nicht auf.“ Wie seine Botschaft so traf auch seine Erscheinung auf Widerstand. Nicht nur die Neutralität der Abseitsstehenden, sondern auch die Leidenschaft der Ärgernisnehmenden erfüllt sich im Leben Jesu. Als er im Tempel dargestellt wurde, da hat der greise Simeon geweissagt: „Dieser ist gesetzt zum Falle und zur Auferstehung vieler und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird.“ Gottes Absicht war das Heil der Menschen, aber ihre Feindseligkeit, ihr Widerstand durchkreuzt seine Absicht. Und so erfüllt sich auch das andere Wort des Herrn: „Das aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, die Menschen aber die Finsternis mehr liebten als das Licht; denn ihre Werke waren böse.“ Aus welchem Grunde das alles? Es ist fast unbegreiflich, dass die Menschenfreundlichkeit Gottes mit Widerstand, Ablehnung, Hass beantwortet wird. Mehr „nein“ der Versagung als „ja“ des Glaubens.

Deutlich wird dies alles am Schicksal des heiligen Stephanus am heutigen zweiten Weihnachtstag. Am ersten Tag die Botschaft vom Himmel, am zweiten die Antwort der Erde. Stephanus voll Gnade und Kraft wirkte große Zeichen und Wunder inmitten des Volkes. Stephanus war ein Diasporajude, der aber zum Evangelium gefunden hatte und der unter die sieben Diakone aufgenommen wurde. Stephanus war jetzt ein inbrünstig Glaubender, klar wie Kristall und hart wie ein Diamant. Er disputierte mit seinen Gegnern, er war kein Leisetreter und kein Schreibtischapostel. Nein, er trat vor seine Widersacher und vertrat die Sache seines Herrn. Er tat das, was die meisten Sachwalter des Herrn in unserer Zeit nicht tun, nämlich unter die Ungläubigen gehen und den Glauben bezeugen. Er diskutierte, d.h. er hatte Argumente, mit denen er vor die Feinde trat, und er legte sie vor. Stephanus war der erste Kontroverstheologe. Kontroverstheologie ist die Auseinandersetzung der christlichen Wahrheit mit ihren Abweichungen, also die Darlegung der Unterscheidungslehren, etwas, was in der nachkonziliaren Kirche verlorengegangen ist. Der zentrale Punkt der Ausführungen des Stephanus ist das Zeugnis, dass durch Jesus Christus das Alte Testament erfüllt und überschritten ist. Stephanus breitet die ganze Geschichte Israels vor den Hörern aus. Wir haben ja im Evangelium des Tages nur einen Ausschnitt gehört; das Kapitel in der Apostelgeschichte ist viel umfangreicher. Er breitet also die ganze Geschichte Israels aus und hebt zwei Dinge hervor. Einerseits, dass der Glaube an den lebendigen Gott Bestand gehabt hat auch ohne den Tempel und ohne den Opferritus. Und zweitens, dass das Volk permanent geschwankt hat zwischen Treue zu seinem Gott und Abfall zu den Götzen. Diese Darlegung bringt die Zuhörer auf gegen ihn. Er muss den Vorwurf hören, er lästere Gott, er habe sich gegen die heilige Stätte – also den Tempel – verfehlt und gegen die Thora, gegen das Gesetz Gottes. Er hat behauptet, Christus werde den Tempel zerstören und das Gesetz verwandeln. Der Bericht in der Apostelgeschichte legt das größte Gewicht darauf, dass sich im Prozess des Stephanus der Prozess Jesu wiederholt: dieselben Anklagen, dieselben falschen Zeugen, dasselbe Urteil: der Tod. Im Schicksal der Propheten des Alten Bundes ist das Geschick Jesu und seiner Nachfolger abgebildet. Als sich die Rede des Stephanus zu heiliger Begeisterung steigert, als er zumal die junge Christenheit als die Repräsentantin des wahren Israel darstellt, da werden die Zuhörer erregt, da knirschen sie mit den Zähnen und stürmen auf ihn los. Es war anfangs wohl ein geordnetes Gerichtsverfahren geplant, deswegen hat man ja Stephanus vor den Hohen Rat geführt. Aber das Gerichtsverfahren unterbleibt, es kommt zu einer Volksjustiz. Sie schleppten ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Die Steinigung war die übliche Todesstrafe in Israel. Sie wird ausdrücklich erwähnt für Götzendiener, Gotteslästerer und Unzüchtige. Sie geschah vor der Stadt, und alle Volksgenossen waren aufgerufen, sich daran zu beteiligen. Die Zeugen hatten als erste den Stein zu werfen.

Aber nicht so sehr die Einzelheiten des Prozesses und seines tödlichen Ausganges sind es, die das Interesse der Botschaft des zweiten Weihnachtstags beherrschen, sondern vielmehr die Gestalt und die Haltung des Zeugen, des ersten Blutzeugen, des ersten mit seinem Blut für Christus zeugenden Nachfolgers. Stephanus, heißt es, war voll des Heiligen Geistes. Er war ein gebildeter Mann. Er benutzte seinen Verstand, aber er vertraute nicht auf den Verstand, sondern auf die Macht und die Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Er war ausgerüstet mit Heiligem Geist, voll des Heiligen Geistes. Jetzt erfüllt sich, was der Herr seinen Jüngern verheißen hatte: „Ich werde euch Rede und Weisheit geben, der alle eure Widersacher nicht widerstehen noch widersprechen können.“ Die Kraft des Geistes prägte sich sogar im Äußeren des Stephanus aus. Sein Gesicht war das eines Engels. Als Stephanus seine Zeugnisrede beendet hatte, richtete er seine Augen zum Himmel empor und erblickte die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen. Er schaut in den Himmel hinein, er hatte eine Vision, eine göttliche Schauung. Und wen sieht er da? Er sieht Jesus. Den Jesus, den seine Feinde dem Henker überliefert haben, mit dem sie Schluss gemacht hatten, den sie ans Kreuz geheftet haben, den sieht er nicht in der Hölle, sondern im Himmel. Das musste natürlich auf die jüdischen Zuhörer eine Reizwirkung ausüben, denn sie wollten ja von diesem Jesus nichts wissen, und jetzt stellt ihn Stephanus als zum Himmel erhöht vor. Jesus, nicht der Verfluchte, sondern Jesus, der Erhöhte. Der Himmel ist geöffnet, und Jesus steht in der Herrlichkeit Gottes. Er ist dem Zugriff des Bösen entrückt. Wenn sie könnten, würden sie ihn ja wieder umbringen. Aber nein, er ist dem Hass der Feinde entzogen. Aber etwas Merkwürdiges sieht Stephanus. Er sieht Jesus nicht zur Rechten Gottes sitzen, sondern stehen. Wir bekennen im Glaubensbekenntnis: „sitzet zur rechten Hand Gottes“, und damit soll die Teilhabe an der Herrlichkeit des himmlischen Vaters ausgedrückt werden, und rechts ist auch der Platz, auf dem die Ehrengäste sitzen. Das alles ist natürlich bildhaft, aber es soll eben ausgesagt werden: Jesus ist der Glorie des Vaters im Himmel teilhaftig. Aber Stephanus sieht ihn nicht sitzen, sondern stehen. Warum denn? Ja, Jesus ist aufgestanden, um seinem Bekenner entgegenzugehen und ihn aufzunehmen. Er hat sich erhoben, um Stephanus in seine Herrlichkeit hereinzuholen. Der Gesteinigte ist also kein Gotteslästerer; er ist ein Gottesfreund.

Zwei Aussagen sind es vor allem, die das Geschehen um Stephanus uns heilig und denkwürdig machen. Einerseits das Gebet: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ und andererseits der Ruf: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Meine lieben Freunde, erinnern Sie sich, so ist schon einmal einer gestorben. „Herr, nimm meinen Geist auf!“, so hat der Heiland gesprochen, als er am Kreuze hing und endgültig von dieser Welt Abschied nahm. Und als er ans Kreuz geheftet wurde, als die Nägel durch seine Hände getrieben wurden, da sprach er: „Herr, verzeih ihnen; sie wissen nicht, was sie tun.“ Er suchte sie, zu entschuldigen. Das spricht ihm jetzt Stephanus nach. „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ und noch einmal: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Wer so stirbt, der stirbt wohl.

Meine lieben Freunde, allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden. Also einige haben doch die Botschaft aufgenommen und sich dem Herrn angeschlossen. Jene nämlich, die nicht aus dem Geblüte, nicht aus dem Wollen des Mannes, nicht aus dem Fleische geboren sind, sondern aus Gott. Sowohl der im Leben Zeugende als auch der durch seinen Tod, durch sein Sterben Zeugende: Beide, der Wortzeuge und der Blutzeuge, reichen die Weihnachtsbotschaft weiter, erben die Weihnachtswirklichkeit fort. Zweimal nennt der Bericht der Apostelgeschichte einen Namen, den die Christenheit aller Denominationen kennt und verehrt. Die den Stephanus steinigten, legten ihre Kleider nieder zu Füßen eines jungen Mannes, der Saulus hieß. Wir kennen diesen Saulus. Es ist derselbe, dem der Herr auf dem Weg nach Damaskus erschien und der aus dem Saulus einen Paulus machte. Was hat Paulus wohl bewogen, ein Anhänger Christi zu werden? Hat ihn das engelhafte Antlitz des Stephanus ergriffen und nachdenklich gemacht? Oder das Zeugnis vom geöffneten Himmel und von der Herrlichkeit Gottes, in der Jesus steht? Oder das alle Maßstäbe von Juden und Heiden zerbrechende Wort: „Vergib ihnen, Herr“? Das muss doch wohl in Paulus ein Echo geweckt haben. Ohne Stephanus gäbe es womöglich keinen Paulus. Und Paulus verdankt die Christenheit die Ausbreitung des Evangeliums in ganz Europa und Kleinasien. Mit dem Worte der Botschaft des Stephanus und mit dem Mysterium seines Sterbens wurden wir allesamt eingeholt durch das Wort und Sakrament. Jene Zeugenschaft – des Wortes und des Blutes – jene Zeugenschaft aus Glaube und Heiligem Geist, die sich im Reden und Sterben des Stephanus vereinigt hat, diese Zeugenschaft hat uns erreicht und uns zu Jüngern des Herrn gemacht. O möchten wir, meine lieben Freunde, in unserer Sterbestunde den Himmel offen sehen und Jesus zur Rechten Gottes. Und möchten wir all denen, die uns verfolgt, verachtet, misshandelt haben, möchten wir all denen das Wort des Stephanus zurufen: „Herr, vergib ihnen, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt