Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. Dezember 2018

Die Folgen der Erbsünde

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Vom Wesen der Erbsünde, das wir am vergangenen Sonntag betrachtet haben, muss man ihre Folgen unterscheiden. Der Mensch wurde durch die Erbsünde in einen schlechteren Daseinszustand versetzt. Die Verschlechterung umfasst den Verlust der übernatürlichen Güter und die Verwundung der natürlichen menschlichen Kräfte. Das übernatürliche Ebenbild Gottes ging verloren, das natürliche Ebenbild wurde verunstaltet. Der Verlust der übernatürlichen Güter schließt in sich den Mangel des göttlichen Lebens, der übernatürlichen Verbundenheit und Ähnlichkeit mit Gott und der sie begleitenden übernatürlichen Wirklichkeiten und Werte, also den Mangel, wie wir sagen, den Mangel der heiligmachende Gnade, der göttlichen Tugenden, der von Gott geschenkten göttlichen Gnadenhilfen. Der Mangel des göttlichen Lebens ist das Wesen der Erbsünde. Er ist aber auch die Folge der Erbsünde, die Straffolge. Sofern er mit der Wegwendung des Menschen von Gott gleichbedeutend ist, ist er das Wesen der Erbsünde. Sofern auf die Wegwendung des Menschen von Gott dieser mit der Wegwendung vom Menschen reagiert, ist er die Strafe der Erbsünde. In der Schrift wird das Nein des Menschen zu Gott als Gottes Zorn bezeichnet, eines Zornes freilich, der niemals der Liebe vergessen kann, der Nein sagt zum sündigen Zustand des Menschen, um ihn umzuwandeln in den Zustand der Gerechtigkeit und Heiligkeit. Der sündige Mensch lebt in der Gottverlassenheit. Weil er nicht in Gott gründen will, ist er den dunklen Mächten ausgeliefert, die überall da hervorbrechen, wo nicht der Heilige Geist herrscht. Fern von Gott wird er von wilden zerstörerischen Leidenschaften hin und hergeworfen, spürt der Mensch an seinem sündhaften Leben, wie groß seine Verlorenheit und Gottverlassenheit ist. Die Sünde, die er begeht, die persönliche Sünde, ist die Auswirkung und der Ausdruck des Sündenstandes, in den er hineingeboren, hineingezeugt worden ist.

In der Heiligen Schrift wird die Sünde, die Preisgegebenheit des Menschen an die Sünde mit düsteren Farben geschildert. Christus lässt die Sonderung in Gerechte und Sünder nicht zu. Gerade die, welche sich als die Gerechten ausgeben, verfehlen das Heil. Nach Paulus gibt es nur heilsbedürftige, der Sünde verfallene Menschen. Im Römerbrief schildert er ausführlich, wie diese Menschen aussehen: Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit Abbildern von vergänglichen Menschen, von Vögeln, von vierfüßigen und kriechenden Tieren. Darum überließ sie Gott den Gelüsten ihres Herzens. Er überließ sie der Unlauterkeit. Sie vertauschten den wahren Gott mit den Götzen und beteten die Geschöpfe an. Deshalb überließ sie Gott ihren schändlichen Leidenschaften. Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen. Ebenso die Männer: Den natürlichen Verkehr mit der Frau gaben sie auf und entbrannten in wilder Gier zueinander. Männer trieben Schamloses mit Männern und empfingen so an sich die verdiente Strafe für ihre Verirrung. Weil sie verschmähten, Gott anzuerkennen, überließ sie Gott ihrem verworfenen Sinn. Das Nein des Menschen zu Gott setzt sich fort im Nein zu sich selbst und zu der menschlichen Gemeinschaft. Der Mensch ist in sich gespalten. Die Einstimmigkeit der Natur ist zerstört. Bald kann die eine Kraft ohne die andere ungeformt und ohne Maß hervortreten, bald kann diese oder jene Leibes- oder Seelenmacht wie gelähmt oder erstarrt und im Übermaß ermüdet sein. Alle Einseitigkeiten und Verwirrungen des menschlichen Lebens haben darin ihren tiefsten Grund. Gemüt, Erkennen, Lieben fügen sich nicht mehr zur Einheit zusammen. Die sinnlichen Triebe stehen aus einer dunklen Tiefe auf und suchen sich gegen den Verstand und gegen den Willen durchzusetzen. Sie sind immer auf dem Sprung, den Geist zu überwältigen. Die Begierlichkeit ist keine Sünde, aber eine der schmerzlichsten Folgen der Sünde. Sie bleibt auch im begnadeten Menschen als eine Erinnerung und ein Mahnmal an das Grauen und die Verlorenheit, der er entronnen ist. Der Mensch kennt das Gute und tut doch das Böse. So beschreibt es Paulus im 7. Kapitel des Römerbriefes: „Ich weiß, dass in mir nichts Gutes wohnt. Denn das Wollen liegt mir nahe, aber das Vollbringen des Guten nicht. Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will.“ Auch Menschen vor Christus wussten um diese Zerspaltenheit. Der heidnische Dichter Ovid hat es beschrieben: „Ich sehe das Bessere, und es findet meine Zustimmung, und doch tue ich das Schlechtere.“

Die Gottverlassenheit des erbsündigen Menschen wird anschaulich und spürbar durch den Tod und das Leid. Der Leib des Menschen ist nicht mehr von der Gottverbundenheit gestaltet, er ist nicht mehr nach der Gottähnlichkeit gestaltet. Der leibliche Tod ist ein immerwährendes Mahnmal an die Flucht des Menschen weg von Gott, vom Quell des Lebens. Der erbsündige Mensch steht unter der Herrschaft des Todes und seiner Vorzeichen. Das Leid in der Seele bricht hervor als Zweifel und Verwirrung, als Irrtum, Schmerz und Zerrüttung, als Hunger und Durst, als Schimpf, Gewalttaten und Ungerechtigkeiten, als Lüge, Untreue und Ungerechtigkeit und Feindschaft. All das ist jedem spürbar und von niemandem abzuleugnen, letztlich aus der Erbsünde geborene Daseinsmacht. Die Preisgegebenheit an das Leid wirkt sich in unserem Erleben aus als Angst. Die Angst ist die Erfahrung der Ungesichertheit, der Ungesichertheit des Daseins, das von seinem tiefsten Grund losgerissen ist.

Die Lage des Menschen wird dadurch verschärft, dass nicht bloß in seinem Innern dunkle Kräfte am Werke sind, sondern dass auch die Welt dem Fluch verfallen und voller Feindseligkeit gegen ihn ist. Der Mensch ist das Schicksal der Welt. Der Sturz des Menschen bedeutet die Katastrophe für das Gesamtleben der Schöpfung. Das Gerichtsurteil Gottes, das den Menschen traf, dehnt sich aus auf die dem Menschen zugeordnete Welt. Der Mensch hat in seiner Wegbewegung von Gott die Schöpfung in diese Bewegung hineingezogen. Die gesamte Schöpfung ist in Trauer, Finsternis und Unordnung; sie ist dem Tode verfallen. Wenn in der klaren Sternennacht der großen Wüste Sahara, in Afrika, der Wind über die Wüste streift und die unzähligen Sandkörner sich ineinander reiben, hört es sich an wie das Wimmern eines tödlich verwundeten Riesentieres. „Hört ihr“, fragte der arabische Karawanenführer eine Gesellschaft, „hört ihr, die Wüste weint, sie klagt, dass sie zur unfruchtbaren Steppe geworden ist. Sie beweint die blühenden Gärten, die wogenden Kornfelder, die lachenden Früchte, die sie einst trug, bevor sie zur ausgebrannten Öde wurde.“ Die Tiere werden mit dem Menschen aus dem Paradies vertrieben. Schmerz und Tod wird das Los der Natur, die Ordnung der Welt ist gestört, der Regen kommt nicht mehr zur rechten Zeit, das Wachstum stockt, die Erde zittert. Sie klagt über Gräuel und Gewalttaten, die in ihr geschehen. Der Lobgesang der Kreatur wird übertönt von dem Notschrei der Erde über das Blut, das auf ihr vergossen wird. Sie schreit zu Gott um Hilfe und Erbarmen. Gott vernimmt das Schreien der jungen Raben ebenso wie den Schrei des Blutes des gerechten Abel. Durch die Sünde wurde der Tod in die Schöpfung hineingetragen, der ein Gleichnis der Sünde ist. Der Tod gewinnt nun einen anderen Tiefgang als er früher hatte. Auch die Menschen im Paradies sind ja nur eine bestimmte Lebenszeit auf der Welt geblieben, auch sie beendeten ihr irdisches Leben, um in das ewige Leben einzugehen, aber jetzt gewinnt der Tod eine vorher nicht gekannte Schärfe. Er ist mit einer im Paradies nicht vorhandenen Qual verbunden, besonders wenn er vorzeitig eintritt, oft ohne Sinn und Zusammenhang mit dem Naturganzen zu sein scheint. Der Tod herrscht in der Natur wie ein allgegenwärtiges Gesetz. Die Vergänglichkeit ist repräsentativ für die Schöpfung. Der deutsche Dichter Friedrich Schlegel hat diesen Zustand auf seine Weise ausgedrückt:

„Es geht ein allgemeines Weinen,

soweit die stillen Sterne scheinen,

durch alle Adern der Natur.

Es ringt und seufzt nach der Verklärung,

entgegenschmachtend der Gewährung,

in Liebesangst die Kreatur.“

Ferner muss die durch die Sünde verderbte Schöpfung der Vergänglichkeit dienen. Was sie hervorzubringen vermag, ist totgeweihtes Leben. In alle menschlichen Werke, die aus dem Material der Welt geschaffen werden, ist der Tod hineingebaut. Auch die von der Vergänglichkeit bedrohten Werke müssen der Natur vom Menschen in Mühsal abgerungen werden. Sie tun ihren Dienst dem Menschen nur widerwillig, sie leisten ihm Widerstand. Die Arbeit bekommt dadurch ein anderes Gesicht als im Paradies. Sie ist durchtränkt von Mühsal und Plage, begleitet von Unfruchtbarkeit und Ermüdung. Die Auflehnung der Natur gegen den Menschen ist noch verhängnisvoller. Seitdem der Fluch Gottes auf ihr lastet, ist sie voll Grauen und voll Unheimlichkeit, voll Tücke und Sinnlosigkeit, ja, voll Täuschung und Verführung. Den Dingen scheint eine magische Kraft inne zu wohnen, den Menschen in ihren Zauberkreis zu locken, ihn sich selbst zu entfremden, zum Abfall von Gott und vom Geist zu verleiten.

Zu diesen schwerwiegenden Verlusten gesellt sich noch ein weiterer Schaden: die Verwundung der natürlichen Kräfte des Menschen. So muss es sein. „Früher oder später, aber gewiss immer, wird sich die Natur an allem Tun des Menschen rächen, das wider sie selbst ist“, hat einmal der große Erzieher Pestalozzi geschrieben. Früher oder später, aber gewiss immer, wird sich die Natur an allem Tun des Menschen rächen, das wider sie selbst ist. Die Natur des Menschen, also Leib und Seele, ist verwundet und verderbt. Die Leistungsfähigkeit und die Widerstandskraft des Leibes ist gemindert. Wir erfahren diese Minderung jeden Tag. Die Kräfte der Seele sind beeinträchtigt, der Verstand ist getrübt, der Wille geschwächt. Der Mensch missbraucht alles: den Verstand, um Mittel zur Tötung und Zerstörung zu erfinden, den Willen, um sein Begehren auf Gottwidriges und Menschenfeindliches abzulenken. Eine andere Form der Verwundung besteht darin, dass die menschlichen Kräfte von der richtigen Richtung abgebogen werden: das Erkenntnisvermögen von der Richtung auf das Wahre, das Willensvermögen von der Richtung auf das Gute, die Liebesfähigkeit von der Richtung auf das andere Du. Der erbsündige Mensch muss sich anstrengen, um auf das Wahre hingerichtet zu werden. Er muss sich aufraffen zum Guten, um das Gute zu tun. Er muss sich von seiner Ichsucht befreien, um auf das Du hin sich zu bewegen.

Aus natürlichen Erwägungen, Überlegungen und Erfahrungen lässt sich die Erbsünde nicht aufweisen. Sie ist ein strenges Glaubensgeheimnis. Sie ist von Gott geoffenbart. Doch ihre Folgen kann niemand übersehen. Jeder merkt, dass die Welt und der Mensch durch die Schuld in Unordnung ist, jeder spürt die Zwiespältigkeit in seinem eigenen Innern. Man kann diese Tatsachen einfach als unabwendbares Schicksal hinnehmen, ohne sich über den Ursprung Gedanken zu machen. Man kann versuchen, das Leben in heroischem Pessimismus zu meistern oder sich durch gedankenlosen Genuss der Werte, die das Leben auch jetzt noch hat, über die Drangsale des Daseins hinwegzutäuschen. Man kann hoffen, dass das menschliche Elend durch den Fortschritt der Kultur immer geringer werde und schließlich ganz aufgehoben wird. Diese Erwartungen müssen sich freilich damit verbinden, dass der Mensch immer besser werde, dass die Selbstsucht, dass der Hass, dass der Neid, diese stets fruchtbaren Quellen des Unheils, überwunden werden. Dürfen wir darauf hoffen? Die Welt ist in einer schmerzlichen Weise dem Leid und dem Bösen überantwortet. Die Lehre von der Erbsünde gibt uns den Schlüssel für das Verstehen. Die Offenbarung weist auf den verborgenen Grund hin, aus dem alles menschliche Elend ununterbrochen hervorquillt. Es ist die Abwendung des Menschen von Gott. Die sichtbare Unordnung ist Ausdruck der unsichtbaren Unordnung. Die erste Unordnung kann deswegen nur geheilt werden, wenn die letzte geheilt wird. Der Mensch kommt zur Einstimmigkeit mit sich und zur Gemeinschaft mit der Natur nur, wenn er geheilt wird. Er wird aber nur geheilt, wenn er geheiligt wird. Der Heilige Geist teilt uns die erbsündige Verlorenheit des Menschen mit, um uns die Größe der in Christus geschenkten Herrlichkeit zu erklären. Die Mitteilung von der Erbsünde ist nur der dunkle Hintergrund. Der Ton liegt in der Offenbarung auf der Erlösung, nicht auf dem unerlösten Zustand. Man kann in zutreffender Weise nicht von der Erbsünde sprechen, wenn man nicht gleichzeitig von Jesus Christus spricht. Die Heilung ist möglich. Für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist Christus, der Sohn Gottes, herabgestiegen auf die geschändete und blutgetränkte Erde. Durch sein Leben und Lehren, sein Leiden und Sterben hat er die Schuld der Menschen aufgearbeitet und sie mit Gott versöhnt. Wir sind, meine lieben Freunde, auf dem Weg zur Feier jener Tat, mit der unsere Erlösung begonnen hat: der Menschwerdung des LOGOS.

Amen.

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