Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
2. Dezember 2018

Die Ursünde

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die ersten Menschen lebten ursprünglich im Zustand der Gottähnlichkeit und Weltbeherrschung. Sie waren frei von der Sünde und von der Neigung zur Sünde. Durch ein eigenes Gebot brachte Gott ihnen zum Bewusstsein, dass ihr durchgnadetes Leben Aufgabe und Verantwortung in sich schließt. Das Gebot erinnerte sie an Gottes Herr-sein und rief sie zu dessen Anerkennung auf. Dieses Verhältnis zwischen Gott und den Menschen wird – wie man es einfachen und schlichten Menschen darstellt – unter dem Bilde des Paradieses und des verbotenen Baumes im Paradiese dargestellt. Wie soll man anders zu kindlichen Menschen sprechen? Die Offenbarung muss sich dem Fassungsvermögen derer, an die sie gerichtet ist, anpassen. „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen“, hatte Gott gesagt, „nur vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn sobald du davon isst, musst du sterben.“ Das Gebot war Erinnerung und Mahnung an Gott und Wegweiser zu ihm. Die Menschen sollten vor der Versuchung bewahrt bleiben, es genug sein zu lassen mit der Herrlichkeit der Natur und ihres eigenen Wesens, Gott zu vergessen und so die Vollendung, die noch ausstand, zu verfehlen. Dass die ersten Menschen trotz ihrer Gottverbundenheit in Versuchung geführt werden konnten, war damit begründet, dass auch sie im Glauben und nicht im Schauen wandelten. Der Mensch, der sein Leben im Glauben vollzieht, sagt Ja zu einer verborgenen Wirklichkeit. Er lebt in der Hoffnung. Es war also in den ersten Menschen noch etwas Unerfülltes, eine ungestillte Sehnsucht nach einer kommenden Wirklichkeit. In dem Mangel der letzten Vollendung lag die Möglichkeit der Sünde. Dazu kam die innere Fähigkeit, sich gegen Gott zu entscheiden. Gott schenkte den Menschen die höchste und zugleich gefährlichste Gabe: die Freiheit. Es erwies sich, dass die Gabe zu groß und der Beschenkte zu klein war.

Aus sich heraus wäre freilich der Mensch nicht auf den Gedanken gekommen, seine Sehnsucht auf anderes als auf Gott in gottwidriger Weise zu richten. Eine fremde Macht musste über ihn kommen, auf dass die in ihm ruhenden gefährlichen Möglichkeiten verwirklicht wurden. Diese Macht wird in bildlicher Weise unter der Gestalt eines Tieres geschildert. Der Urheber des Bösen der Welt ist nicht ein Tier. Das die Sünde bewirkende geistliche Wesen ist der Teufel. Die Schlange ist ein Bild des Teufels mit ihrer schleichenden, fast unhörbaren Art der Fortbewegung und wegen ihres tödlichen Bisses. Die Schlange gilt als verschlagen und listig und giftig. Die Schrift erzählt schlicht und anschaulich, wie es zur Sünde kam, was sie ist und was sie wirkt. Die Schlange redete die Frau an und begann mit ihr ein Streitgespräch. „Hat Gott wirklich gesagt: ‚Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen‘?“ Die Schlange bittet um Belehrung; ihre Frage aber ist eine Überspitzung. Ein so weit gehendes Gebot wäre wirklich eine starke Einengung des Menschen gewesen, und Eva weist treuherzig und stolz darauf hin, dass ein solches Gebot von Gott nicht gegeben ward. „Von den Früchten des Gartens dürfen wir essen. Nur bezüglich der Früchte des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: ‚Davon dürft ihr nicht essen, ja, die Früchte nicht einmal berühren, sonst müsst ihr sterben!‘“. Der Schlange gelingt es im ersten Anlauf nicht, die Lage durch ihre eine Lüge in sich schließende Frage zu verwirren und Eva zu beunruhigen. Aber sie kommt mit der Frau immerhin ins Gespräch und zwingt sie zu dem Geständnis, dass sie in einem Zustand beschränkter Freiheit lebt. Die Frau spürt das Einengende des göttlichen Gebotes, und daran knüpft die Schlange an. „Keineswegs werdet ihr sterben! Vielmehr weiß Gott, dass euch die Augen aufgehen werden, sobald ihr davon esst, und dass ihr wie Gott werdet, indem ihr erkennt, was gut und böse ist.“ Der Versucher verneint die Notwendigkeit des Gebotes dadurch, dass er die Folgen der Übertretung verneint, ja sogar eine Erhöhung des Glückes für die Menschen in Aussicht stellt, wenn sie das Gebot übertreten. Die Schlange streut in die Herzen der Menschen Misstrauen gegen Gott, gegen seine Güte und gegen den Ernst seiner Androhung. Das Gebot, so sagt sie, kommt nicht von der Sorge Gottes für das menschliche Leben, sondern von Selbstsucht und Herrschsucht; Gott will den Menschen etwas vorenthalten. Sie könnten etwas gewinnen, wenn sie das Gebot übertreten. Sie gewännen eine Erkenntnis, die Gott missgünstig und neidisch für sich allein haben will. Gott ist also nicht gütig und nicht glaubwürdig. Jetzt, wo die Autorität Gottes untergraben ist, wo die Aussicht auf göttliche Lebensfülle lockt, merkt Eva, wie köstlich die Frucht des Baumes ist, wie lieblich ihr Anblick, wie begehrenswert ihr Genuss. Schon oft hat sie die Frucht gesehen, aber noch nie so wie jetzt. Sie ist wie verzaubert, eine echte Törin, hofft sie, durch die Frucht weise zu werden wie Gott. Sie nimmt von den Früchten und isst. Wortlos nimmt der Mann, der bei ihr ist, an ihrem Frevel teil. Diese Darstellung der Entstehung der Sünde ist meisterhaft. Der Satan veranlasst die Menschen, Gott zu misstrauen. Er sät in ihre Herzen das Verlangen, entweder ihr Leben ohne Gott zu gestalten oder die Vollendung – die noch bevorsteht – durch eigenmächtiges Handeln zu erzwingen. Der Satan stempelt die Haltung des Gehorsams und der Unterwürfigkeit unter Gott als Dummheit. Er treibt die Menschen dazu, Gottes Wort beiseite zu schieben. Dadurch werden sie die Herren, die nach niemandem fragen, die sich nichts sagen lassen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Wurzel der Sünde ist der Unglaube. Aber der Unglaube ist wieder das in hochmütigem Trotz gesprochene Nein gegen Gott. Die Sünde ist Überheblichkeit und Selbstherrlichkeit. Die Sünde ist Gesetzlosigkeit und Ungehorsam, Beleidigung Gottes, Feindschaft gegen Gott. Deshalb ist die Sünde dämonisch. Das erste Buch der Bibel, die Genesis, ist die historische Antwort auf die Frage: Wie ist das physische und moralische Übel in die Welt gekommen? Antwort: Das physische Übel ist eine Folge des moralischen Übels. Das Übel verdankt dem freien Willen des Menschen seinen Ursprung. Die Heilige Schrift erzählt keine Märchen, sie berichtet ein geschichtliches Ereignis in bildlicher Anschaulichkeit. Anders konnte sie nicht sprechen, wenn sie von den Menschen verstanden wissen wollte.

Adam und Eva erwarteten von der Übertretung des Gebotes Bereicherung und Erfüllung ihres Lebens. Das Gegenteil trat ein. Sie verloren die Verbundenheit und die Ähnlichkeit mit Gott, und damit den höchsten Reichtum, den sie besaßen. Sie wurden auf die Armseligkeit ihres auf sich selbst gewählten Menschentums zurückgeworfen. Sie spürten jetzt das Gesetz des Fleisches in ihren Gliedern. Sie merkten, dass sie nackt waren. Der ihren Leib bekleidende Gottesglanz war erloschen; sie standen einander in hüllenloser Preisgegebenheit gegenüber, und sie schämten sich voreinander. Deshalb banden sie Feigenblätter zusammen und machten sich Schürzen daraus. Vorher ruhte ihre Unschuld voreinander in der Unschuld vor Gott, jetzt aber ist die Sicherheit und Unbefangenheit dahin. Mit dem Schuldbewusstsein vor Gott erwacht das Schamgefühl voreinander. Sie spüren das Gesetz des Fleisches. Sie wissen jetzt, was sie zu wissen gewünscht hatten: was gut und böse ist. Aber es ist ein schmerzliches Wissen, denn sie wissen sich als Sünder. Deshalb ist ihnen die Nähe Gottes unheimlich. Sie halten seinen Blick nicht mehr aus. Sie versuchen sich vor ihm, dem niemand zu entfliehen vermag, zu verstecken. Sie erschrecken, wenn sich seine Gegenwart im Rauschen des Gartens kundtut. Sie wissen sich schuldig vor ihm. Ihr Trotz bricht in der Furcht vor der Heiligkeit Gottes zusammen.

Die Offenbarung Gottes nach der ersten Sünde wird als Gerichtssitzung dargestellt. Gott hält ein Verhör, und aufgrund des Verhörs spricht er sein Urteil. Und zwar wird die Verurteilung vorgenommen nach der Reihenfolge der Mitwirkung an dem Vergehen. Gott beginnt das Verhör mit Adam: „Wo bist du?“ Er antwortet: „Als ich im Garten das Geräusch deiner Stimme hörte, da fürchtete ich mich, weil ich nackt bin, deshalb habe ich mich versteckt.“ Das Geständnis Adams ist unvollständig. Es fehlt nämlich die Angabe des Grundes, aus dem die Wahrnehmung der Nacktheit erfolgt. Da fragte Gott: „Was hast du getan? Wer hat dir kundgetan, dass du nackt bist? Hast du etwa von dem Baum gegessen, von dem ich dir zu essen verboten habe?“ Adam antwortete: „Die Frau, die du mir beigesellt hast, die gab mir von dem Baume, und ich aß.“ Adam sucht seine Sünde möglichst gering hinzustellen. Die Ursache seines Falles ist die Frau, und diese ist ihm von Gott als Gefährtin gegeben, also fällt in letzter Linie die Ursache der Sünde auf Gott. Nun fragt Gott, der Herr, die Frau: „Warum hast du das getan?“ Die Frau entgegnet: „Die Schlange hat mich verführt, deshalb habe ich gegessen.“ Auch die Frau versucht sich ihrer Schuld zu entledigen. Die Versuchung ist von außen an sie herangekommen, sie hat sie nicht gesucht. Der Verführer wird von Gott nicht gefragt. Seine Straflosigkeit ist bekannt.

Jetzt ergeht Gottes Strafgericht über seine ungetreuen Geschöpfe. Es hebt an mit der Verurteilung des Versuchers und Verführers. „Da fuhr Gott die Schlange an: ‚Weil du das getan hast, sei verflucht unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes! Auf deinem Bauch musst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens! Feindschaft will ich setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Spross und ihrem Spross; er wird dir den Kopf zertreten, du aber wirst ihn an der Ferse verletzten.‘“ Der Fluch bezieht sich natürlich nicht auf die Schlange als ein Wesen, das dem Tierreich angehört. Er bezieht sich auf den, der unter der Erscheinung der Schlange wirksam ist: Satan. Die erwähnten physiologischen Einzelheiten sind gewiss nicht buchstäblich zu verstehen; sie dienen lediglich der Ausschmückung. Danach ergeht das Strafgericht über Eva. Sie ist ja zuerst dem Versucher erlegen. Und der Herr sagt zu der Frau: „Viele Beschwerden will ich dir auferlegen bei deiner Mutterschaft: in Schmerzen sollst du Kinder haben. Und doch wirst du nach dem Manne verlangen; er wird über dich herrschen.“ Als Strafe werden der Frau zugesprochen: Beschwerden der Schwangerschaft, Schmerzen beim Gebären, Unterwürfigkeit dem Manne gegenüber. Wie der Tod eine Folge der Sünde ist, so auch die Leiden des irdischen Lebens. Der Trieb, der Trieb! nach sinnlicher Lust bleibt dennoch bestehen. Schließlich ergeht das Urteil über den Mann; er hat sich von seiner Frau widerstandslos verleiten lassen. Und so sagt Gott zu Adam: „Der Erdboden sei verflucht um deinetwillen; mit Mühe sollst du dich von ihm nähren alle Tage deines Lebens! Dornen und Disteln wird er dir tragen! Im Schweiße deines Angesichtes wirst du dein Brot verzehren, bis du zur Erde zurückkehrst, von der du genommen bist. Denn Staub bist du, und zum Staube kehrst du zurück!“ Dem Manne wird als Strafe in Aussicht gestellt: eine mühevolles und beschwerliches Wirken. Die Beschwerlichkeit der Arbeit wird an den Mühsalen des Landmannes dargestellt. Die Erde wird unfruchtbar sein, aus sich selbst keine Pflanzen hervorbringen, die zum Leben des Menschen notwendig sind. Ohne Pflege gehen selbst die edelsten Gewächse allmählich in den Zustand der Verwilderung über. Den Schluss der Strafsentenz über den Mann bildet die eindrucksvolle Versicherung, dass die Beschwerden des Lebens nie aufhören und der Tod die Strafe der Sünde ist.

Die ersten Menschen waren das natürliche und übernatürliche Ebenbild Gottes. Das natürliche Ebenbild ist wesentlich in der geistigen Anlage des Menschen gelegen. Das übernatürliche Ebenbild umfasst Freiheit von der Begierlichkeit, Unsterblichkeit und Freiheit von Beschwerden und Leiden. Und entsprechend die Folgen. Die Folgen der Abwendung von Gott sind: Verlust der ursprünglichen Heiligkeit und Gerechtigkeit, Überantwortung an den Zorn und die Ungnade Gottes, an den leiblichen Tod und an die Herrschaft des Teufels, Verschlechterung an Leib und Seele. Das übernatürliche göttliche Ebenbild ist vernichtet, das natürliche Ebenbild ist geschwächt. Die Abwendung von Gott wirkt sich aus in der Gezweiung des eigenen Wesens des Menschen, in der Gegensätzlichkeit zwischen Ich und Du, zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch und Erde. Was die Menschen verloren haben, das haben sie für immer verloren. Sie werden aus dem Paradies vertrieben, und es gibt keine Rückkehr. Das Leben in Friede und Ruhe, in Sicherheit und Fülle ist für immer dahin. Gott lässt seiner nicht spotten! Die Abwendung von Gott wird für die Menschen spürbar als Ferne vom Quell der Ruhe und des Lebens, der Kraft und der Freude, der Liebe, der Fülle und der Geborgenheit der Existenz. Adam und Eva werden dem Hunger, der Blöße, der Obdachlosigkeit überantwortet. In der Gottesferne gibt es für den Menschen keine Sättigung, keine Würde und keine Beheimatung. Das Nein zu Gott erweist sich als das Nein zur eigenen menschlichen Größe und Würde. Der Verlust Gottes bedeutet den Verlust des eigenen Selbst. Am schmerzlichsten wird die Ferne von Gott deutlich im leiblichen Tod. Zum Tode verurteilt sich der Mensch gewissermaßen selbst. Gott bestätigt in seinem Gerichtsort nur, was der Mensch sich selbst angetan hat. In der Unterwerfung unter den Tod zeigt sich, dass der Mensch in der Ferne von Gott nicht leben, sondern nur sterben kann. Gott hat jedoch die Vollstreckung des Urteils aufgeschoben. Der Mensch sollte erst durch Mühseligkeiten und Plagen seine Schuld sühnen. Und wir dürfen annehmen, dass Adam und Eva diese Schuld gesühnt haben. Gott entlässt die Menschen nicht ohne Gnade. Sie Gnade ist die sündentilgende Reue. Man darf annehmen, dass die ersten Menschen auf dem Wege der Buße das Heil gefunden haben, dass sie ihren stürmischen Trotz weggeworfen hatten. Vergessen Sie nicht, dass wir am 24. Dezember das Gedächtnis der Heiligen Adam und Eva begehen. Dass Gott den Menschen nicht völlig verwirft, zeigt sich in der Verheißung, die er gibt, im Aufschub des Todes und in der Bereitstellung eines Ersatzkleides, das besser war als die Bekleidung, die sie sich selbst besorgt hatten. Der Verweis auf den Schlangentreter, also auf die Erlösung, begleitete die ersten Menschen in ihrem Büßerleben. Die Verheißung lautet: „Streit will ich setzen zwischen dir und dem Teufel. Der Schlangentreter wird ihm den Kopf zertreten.“ Das ist die Urverheißung in unserem ganzen Alten Testament. Der Schlangentreter ist der verheißene Erlöser. Die Kirchenväter, auf die wir uns ja als Zeugen des Glaubens berufen dürfen, sind einmütig der Überzeugung, dass Adam und Eva in der Gnade Gottes gestorben sind. Wegen dieser berechtigten Ansicht wird oft dargestellt, dass unter dem Kreuze Jesu ein Totenschädel zu sehen ist. Das ist der Schädel Adams. Das Blut des Herrn ist über die ersten Menschen geflossen und hat sie vom ewigen Tode errettet.

Amen.   

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