Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Mai 2016

Wir sind erlöst

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jesus ist unser Erlöser; das haben wir am vergangenen Sonntag erkannt. Worin liegen die Wurzeln seiner Erlöserkraft? Wo ist der tiefste Quellgrund? Der tiefste Quellgrund der Erlöserkraft Jesu ist seine Gottheit, kann nur seine Gottheit sein. Die Kirchenväter haben immer die doppelte Aussage getroffen: Als Mensch, nur als Mensch, konnte er leiden, aber als Gott, nur als Gott, konnte er uns erlösen. Er sollte leiden, weil Gott das Leiden als erlöserische Macht benutzt hat. Aber dieses Leiden war nur von einem Menschen zu vollbringen, und deswegen musste der Gottessohn eine Menschennatur annehmen, um in dieser Natur das Unheil der Menschen aufzuarbeiten. Wenn Jesus nicht Gott wäre, könnte er uns nicht erlösen. Erlösen heißt eben: den Menschen aus seiner doppelten Gebundenheit befreien, aus der Gebundenheit an seine Natur und seine Naturmacht und aus der Gebundenheit an die Sünde. Es steht bei dem lebendigen Gott allein, ob er uns aus der doppelten Zerspaltenheit befreien will. Von uns Menschen aus führt kein Weg zum göttlichen Leben. Ein Abgrund tut sich hier auf, den niemand überbrücken kann als Gott allein. Das Wort von der Selbsterlösung ist ein eitler Wahn. Erlösen kann uns Gott allein, und deswegen waren die Kämpfe im 3. und 4. Jahrhundert so erbittert, die Kämpfe um die Gottheit Jesu. Die Arianer – zu denen leider unsere germanischen Vorfahren zählten – vertraten die Meinung: Er ist ein Geschöpf Gottes. Ein Geschöpf Gottes kann uns nicht erlösen, dieses muss ja selber einen Erlöser haben. Und deswegen haben die Antiarianer, also die Katholiken, so erbittert für diese Wahrheit gekämpft, bis sie endlich auf dem Konzil von Nicäa siegreich behauptet wurde. Wenn der Erlöser nicht wahrer Gott ist, sind wir alle noch Sünder. Nur ein göttlicher Erlöser kann die Menschen über die unermessliche Kluft tragen, die den Menschen von Gott trennt. Warum liegt in der Menschwerdung Gottes das Entscheidende? Weil wir jetzt einen Menschen unter uns haben, der Gott ist. In dem Menschgewordenen ist die Brücke über den Abgrund geschlagen. Unser Wesentliches, das, was uns zum Menschen macht, unsere Menschennatur, ist grundsätzlich und objektiv von ihm über diesen Abgrund getragen worden. Denn diese Menschennatur ist in Christus innigst vereinigt mit der Gottheit; er ist Gottmensch. Das ist die Lehre des Konzils von Chalcedon: Er besitzt eine doppelte Natur, eine menschliche und eine göttliche, und beide sind geeint in der göttlichen Person. In Christus ist die menschliche Natur die denkbar innigste Vereinigung mit der Gottheit eingegangen, sodass sie nur ein einziges Ich zum Träger haben, die zweite göttliche Person, das WORT, den LOGOS. So ist Christi Menschwerdung die alleinige Voraussetzung und Grundlage für sein Erlöserwirken und für unser Heil geworden. Christus konnte deshalb Himmel und Erde wiederverbinden, weil in ihm Himmel und Erde vereint waren. Er war Gott und konnte daher die Welt zu Gott heimführen. Er war Mensch, und so ist durch ihn die Menschheit aus der Verfallenheit befreit worden. Christus als Mensch ist der Mittler zwischen Gott und der Menschheit. Die menschliche Natur ist kraft ihrer Verbindung mit der Gottheit heilsmächtig tätig, sodass die Heilswerke Christi gottmenschliche Werke sind. Das göttliche Leben ist wieder an die menschliche Natur gebunden. Die menschliche Natur verrichtet werkzeughaft all das, was lediglich Gottes eigene Verrichtungen sind.

Aber da kann noch eine Frage aufstehen, nämlich: Wie kann das sein, dass sich dieses Wunder an einem einzigen Exemplar der Gattung Mensch vollzieht und dass dieses Geheimnis der ganzen Gattung zugutekommt? Es vollzieht sich an einem einzigen Exemplar der Gattung Mensch und es kommt doch der ganzen Gattung Mensch zugute. Wie ist das möglich? Dass kann deshalb sein, weil es das göttliche Wort war, das Mensch wurde, und das Erlösungswerk vollbrachte. Es war das schöpferische Prinzip selber, das Menschengestalt annahm, und deswegen ist Christus als Gottmensch das schöpferische Prinzip der neuen Menschheit. Er ist nicht ein Mensch, sondern er ist der Mensch. Er ist nicht ein einzelnes Glied der Menschheit, sondern er ist das Haupt. Er ist der neue Anfang, der Erstgeborene unter allen Brüdern, der neue Adam. Der alte Adam war auch nicht nur ein Mensch, er war der Repräsentant der gesamten Menschheit. In ihm war keimhaft die gesamte Menschheit, die nach ihm geboren wurde, enthalten, und deswegen hat er die gesamte Menschheit ins Unheil gerissen. So ist auch der neue Adam nicht nur ein Mensch, sondern der Mensch, der keimhaft die gesamte Menschheit in sich trägt, vermögend seiner personhaften Verbundenheit mit der Gottheit ist er Ausgang und Anfang einer neuen Gattung, der neue Mensch mit dem alle übrigen zum Heil berufenen Menschen keimhaft verbunden sind. Christus nimmt die von ihm geschaffene Menschheit an und fasst sie und ihre ganze Geschichte von Adam an in sich als dem Haupt, dem neuen Adam zusammen. Weil wir so durch Christus in seinen neuen göttlichen Lebenskreis erhoben sind, darum gehört uns wahrhaft und wirklich alles an, was Christus für uns getan hat, angefangen von seiner Menschwerdung in Bethlehem über Nazareth bis zum Tabor und bis zum Golgothahügel. Alles, was er vollbracht hat, gehört uns an, ist für uns und an unserer Stelle getan worden. „Das Leiden Christi“, sagt einmal der heilige Thomas von Aquin, „gehört uns derart an, als ob wir es selbst vollbracht hätten.“ Christus ist derjenige, der alles für uns getan hat, der die Substanz dessen, was auf dem Menschen liegt, um Gottes Gerechtigkeit zu versöhnen, bereits geleistet hat. Er ist tatsächlich das Lamm, das hinwegnimmt die Sünden der Welt.

Nun muss ich aber hier eine bedeutsame Erklärung hinzufügen. Der Mann, der im 16. Jahrhundert Deutschland von der Kirche Christi losreißen wollte und es bis zu einem gewissen Grade geschafft hat, der Mann hat die Wirksamkeit Christi in der Erlösung so sehr betont, dass für eine menschliche Beteiligung nichts mehr übrig blieb. Luther spricht von der „Alleinwirksamkeit Gottes“ in der Erlösung. Darin liegt der Fehler. Wir katholischen Christen bekennen die Allwirksamkeit Gottes; er wirkt alles, aber er wirkt es nicht allein, es bedarf der menschlichen Mitwirkung. Das ist die große Leistung des Konzils von Trient gewesen, dass es gegenüber dem Irrtum von der Alleinwirksamkeit Gottes die Allwirksamkeit Gottes mit der menschlichen Mitwirkung ausgesagt hat. Wir können das Werk der Erlösung nicht verrichten; das kann nur Gott. Wir brauchen es auch gar nicht, denn Jesus hat es für uns getan, an unserer Statt und zu unserem Nutzen. Aber wir müssen uns das Werk aneignen, wir müssen in es eingehen, wir müssen es an uns geschehen lassen, und das geschieht eben nicht ohne unsere Mitwirkung. Das ist das Schlüsselwort für die Aneignung der Erlösung. Ohne Anspannung, ohne Anstrengung, ohne Mühe, ohne Überwindung können wir das Erlösungswerk des Herrn nicht für uns erwerben. Das Konzil von Trient hat diese Wahrheit lichtvoll ausgesprochen, und zwar zunächst für die erste Rechtfertigung – die bei uns in der Taufe geschieht – und dann zweitens für das ganze Rechtfertigungsleben. Für die erste Rechtfertigung sagt das Konzil von Trient: Es braucht Zurüstung und Vorbereitung auf die Rechtfertigung von Seiten des Menschen. Das ist notwendig. Der Mensch wirkt auch und schon auf dem Weg zur Rechtfertigung und in der Phase der Vorbereitung mit der Gnade mit. Das Geschehen der erweckenden Gnade ist mit dem willentlichen Mittun des Menschen verbunden. Der Sünder ist mitbeteiligt an der Aufarbeitung der Sünde unter dem Walten der aktuellen Gnaden. Das ist die Zurückweisung des Irrtums von Luther, der erklärt: Der Mensch ist bei der Rechtfertigung völlig passiv. Er wird entweder von Gott geritten oder vom Teufel. Nein, so ist es nicht. Der Mensch ist nicht völlig passiv, er ist aktiv. Dann aber hat das Konzil auch für den ganzen Verlauf des menschlichen Heilslebens ausgesagt, dass die Mitarbeit, die Mitwirkung des Menschen unentbehrlich ist. Auf dem Weg zum ewigen Heil ist der Mensch Mitwirkender mit der heiligmachenden Gnade. Ohne sein Mittun kann er das Ziel nicht erreichen. Das Konzil von Trient nennt auch die Weisen, wie wir mitwirken müssen mit der Gnade, mit der Hilfe Gottes: die Beachtung der Gebote Gottes und der Kirche, das Zusammenwirken des Glaubens mit den guten Werken, das Wachstum des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Dieses Mitwirken ist Ausdruck der Pflicht, auf dem Wege der Gerechtigkeit zu wandeln. Was das Konzil von Trient hier sagt, das ist nichts anderes als der Widerhall dessen, was in den Heiligen Schriften steht: „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote!“, sagt Jesus dem reichen Jüngling. „Bemüht euch, durch die enge Pforte einzugehen“ – bemüht! euch. „Das Himmelreich leidet Gewalt, und nur die Gewalt brauchen, reißen es an sich.“ An die Gemeinde in Philippi schreibt Paulus: „Wirket euer Heil mit Furcht und Zittern!“ – wirket! euer Heil mit Furcht und Zittern. Die Aussage des Konzils von Trient hat dieses Wort aufgenommen. Das Konzil mahnt die Gläubigen, mit Furcht und Zittern ihr Heil zu wirken, „denn sie sind zur Hoffnung auf die Herrlichkeit und noch nicht zur Herrlichkeit wiedergeboren“. Das muss geschehen unter Mühen, im Wachen, in Almosen, in Gebeten, im Fasten und in Keuschheit. Alle diese Werke wachsen freilich nur in der von Christi Gnade empfangenen Gerechtigkeit. „Gott wirkt“, auch das sagt Paulus, „das Wollen und das Vollbringen.“ Aber bei dem Wollen und Vollbringen ist der Mensch beteiligt. Gott wirkt nicht ohne Zustimmung des Menschen. Der Mensch wird eben nicht entweder von Gott oder vom Teufel geritten, er reitet selber. Die Mitwirkung des begnadeten Menschen geschieht in der Kraft der Gnade. Das Glauben und Bereuen des Menschen, seine Reue und seine Askese, seine werktätige Liebe ist niemals seine eigene Sache allein, sondern sie ist im vorzüglichen Sinne Gottes Sache; sie geschieht durch Christus, unsern Herrn. Mein eigenes, mein persönliches menschliches Tun hat seine Antriebe in Gott, im Liebeswillen Gottes. Man nennt das in der Theologie die zuvorkommende Gnade. Alles, was der Mensch an Eigenem zu seiner Erlösung beiträgt, wurzelt in dem besonderen Antrieb der göttlichen Liebe. Die menschliche Aktivität – und ich sage noch einmal, sie ist unentbehrlich – ist in einer geheimnisvollen, uns verborgenen Weise in der göttlichen Aktivität verankert. Das, was uns antreibt, was uns auf dem Weg der Erlösung in Bewegung bringt und uns in der Bewegung entscheidend erhält, ist Gott und Christi Gnade. Im 6. Jahrhundert hat eine Synode im südfranzösischen Orange einen wunderbaren Satz aufgestellt, einen Satz, der heute noch gültig ist. Der Satz lautet: „Gott tut viel Gutes in den Menschen, das der Mensch nicht tut. Der Mensch aber tut nichts Gutes, ohne dass Gott verleiht, dass der Mensch es tut.“ Das ist der entscheidende Satz: Gott verleiht, dass der Mensch es tut, in seiner Verantwortung, mit seiner Zustimmung, mit seiner Mitwirkung. Der Mensch muss sich also bereithalten, er muss etwas beisteuern zu seiner Erlösung, er muss aufgeschlossen und wach sein, ja, er muss auch arbeiten und wirken, solange es Tag ist. Mit der Gnade Gottes mitwirken heißt also: Die Initiative, die von Gott ausgeht, die Atemimpulse, die Gott in unserer Seele erwachsen lässt, in mir bejahen und tapfer bewahren. Mit der Gnade mitwirken heißt: Guten Willens sein, aufgeschlossen für Gottes Anregungen und willig, ihnen zu gehorchen. Denn das hat auch das Konzil von Trient definiert: „Es ist dem Menschen möglich, der Gnade zu widerstehen.“ Luther meinte, die Gnade sei unwiderstehlich, nein, der Mensch hat die traurige Fähigkeit, der Gnade Widerstand zu leisten. Und deswegen kommt alles darauf an, dass wir guten Willens sind und bereitwillig uns in den Impuls der Gnade einfügen.

Das ist also das Christentum, meine lieben Freunde: Christsein heißt, erlöst sein. Erlöst nicht durch eigene Kraft, sondern durch Christus, unseren Herrn. Christsein heißt, wissen, dass ich in Christus alles habe. Da ist keine Sorge, wo Christus ist. Auch die Sorge um die Sünde ist da, wo Christus ist, nicht überwältigend. Der Schwerpunkt unserer neuen Haltung liegt nicht so sehr im ängstlichen Ringen mit der Sünde, sondern vielmehr in der tapferen Liebe zu Christus. Der heilige Franz von Sales mahnt einmal: „Mehr Liebe zum Guten als Furcht vor dem Bösen!“ Es ist möglich, dass wir fallen, dass wir immer wieder fallen. Wo ist ein Christ, der nicht gefallen wäre? Aber nicht das heißt Christsein, dass wir nicht fallen, sondern dass wir, wenn wir fallen, wieder aufstehen, nicht liegenbleiben, dass wir aus der Tiefe unserer Schuld zu Jesus rufen und dass wir uns von seiner Hand aufrichten lassen. Wo dieser liebende Glaube, diese glaubende Liebe, diese grenzenlose Aufgeschlossenheit für Christus ist, da kann unser Weg nur zum Vater im Himmel führen. Es ist Wahrheit, meine lieben Freunde, und es bleibt eine Wahrheit: Wir sind erlöst.

Amen.

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