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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Natur und Übernatur (Teil 2)

9. März 2003

Die Vereinbarkeit von Natur und Übernatur

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns am vergangenen Sonntag vorgenommen, die Spannungen zu betrachten, die zwischen dem Gnadenleben und dem alltäglichen Leben bestehen. Man könnte sie auch bezeichnen: die Spannungen zwischen Natur und Übernatur. Daß solche Spannungen bestehen, ist uns allen gewiß. Wir brauchen uns nur einige Tatsachen ins Gedächtnis zu rufen. In der Bergpredigt heißt es: „Selig die Selbstlosen; selig die Reinen; selig die Sanftmütigen.“ Aber in der Welt des Alltags, da kommen nicht die Sanftmütigen und die Selbstlosen voran, sondern die Unerbittlichen, die Harten, die Grausamen, die Ellenbogenmenschen, die kommen voran; die Starken, nicht die Schwachen. In der Übernatur, da ist alles auf Erbarmen, auf Liebe gegründet. Die Natur weiß nichts von Erbarmen und Liebe; sie kennt nur das Recht des Stärkeren, den Kampf ums Dasein. Derjenige siegt, der listiger und mächtiger ist als ein anderer. In der Natur gilt das Recht und das Gesetz, und das muß ja sein. Aber in der Übernatur, da gilt die Liebe und das Erbarmen, das Mitleid und das Verzeihen.

Wir sehen also, daß zwischen Natur und Übernatur Spannungen bestehen, und doch muß es möglich sein, Natur und Übernatur zu vereinigen, denn wir kennen ja einen, der Natur und Übernatur in vollkommenster Weise vereinigt hat, unser Herr Jesus Christus. Er war ein ganzer, ein rechter, ein gerader Mensch und doch gleichzeitig der Träger der Übernatur. Aber auch in seinen Worten ist diese Spannung enthalten. Jesus sagt: „Selig die Friedfertigen; selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“, und er sagt gleichzeitig: „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Er erklärt aber auch: „Meinen Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ Er fordert uns auf, auf die Güte des Vaters zu vertrauen, nicht ängstlich zu sorgen, und doch gebietet er uns zu sprechen: „Gib uns heute unser tägliches Brot!“ Der Herr war ein echter und ganzer und gerader Mensch. In ihm waren Natur und Übernatur in wunderbarer Weise verbunden. So ist uns doch wohl klar, daß es zwar eine Spannung zwischen Natur und Übernatur gibt, aber keine Spaltung, daß da gewiß zwischen Natur und Übernatur eine Abhängigkeit besteht, aber keine Unterdrückung. Wir können das Verhältnis zwischen Natur und Übernatur in drei Sätzen ausdrücken, nämlich: Die Natur muß von der Übernatur erstens entfaltet werden, sie muß von der Übernatur zweitens gestaltet werden, und sie muß drittens von der Übernatur überboten werden.

Die Natur muß von der Übernatur entfaltet werden. Alles, was wir an Kräften besitzen, ist gut, weil es von Gott stammt. Unsere Talente, unsere Anlagen, unser Körper, unser Geist, unser Wille, unser Verstand, alles ist von Gott gut geschaffen, und nichts davon ist in sich böse. Diese Anlagen, Talente und Fähigkeiten aber müssen entfaltet werden, und diese Entfaltung geschieht durch Betätigung. Wir müssen den Verstand bilden, wir müssen den Willen trainieren, wir müssen an unserem Körper arbeiten, wir müssen ihn ausbilden, unsere Fähigkeiten, unsere Fertigkeiten, unsere Gelenkigkeiten. Das alles ist unerläßlich und notwendig, denn das will Gott. Gott will, daß wir das, was er uns gegeben hat, betätigen. Diese Weise, uns zu entfalten, wird aber durch die Übernatur unterstützt, und zwar deswegen, weil die Übernatur die Gnadengemeinschaft mit Gott ist. Die Gnadengemeinschaft ist aber auch eine Liebesgemeinschaft, und die Liebe ist in sich schöpferisch und aufbauend. Die Liebe bringt das Gute in uns hervor. Die Liebe macht uns empfänglich für die Einsprechungen Gottes und führt uns zu der Entfaltung der in uns angelegten Möglichkeiten. Wer in der Liebe Gottes lebt, der ist besonders geeignet, die Fähigkeiten in sich auszubilden, vor allen Dingen eines zu überwinden, was uns besonders am Herzen liegt: die Angst, die Lebensangst, die Todesangst, die Menschenangst. Dazu hilft uns die Liebe, denn sie gibt uns die Geborgenheit in Gott. Und die Angst ist es ja, welche die Entfaltung unserer Möglichkeiten verhindert, die uns hemmt, die uns bindet. Die Liebe löst diese Bindung, macht uns frei und empfänglich und hilft uns, die Fähigkeiten unserer Natur zu entfalten. Es soll keine Angst, kein Mißtrauen, kein Argwohn mehr in uns sein. Das alles soll überwunden werden in der Liebe. Die Liebe hilft uns, die Anlagen, die in uns sind, zu entfalten.

Die Liebe, die Übernatur hilft uns aber auch, die Natur zu gestalten. Die Natur muß, da sie noch nicht fertig ist, von uns geformt werden; sie muß von uns gestaltet werden. Das Wachstum der Natur, das notwendig ist, darf kein wildes Wachstum sein; es gibt ja auch Entartungserscheinungen. Es gibt ja auch eine Zerrüttung der Möglichkeiten, die in uns angelegt sind, und deswegen muß alles, was in uns und um uns ist, gestaltet werden. Wir können die Natur nicht so lassen. Gott hat den Menschen geschaffen, daß er die Erde bebaue. Ohne Bebauung würden wir zugrunde gehen. Die Sümpfe und die Urwälder und die wilden Tiere, die müssen wir beherrschen lernen, auch die Sümpfe, die Urwälder und die wilden Tiere, die in uns sind. Auch die müssen gestaltet werden. Was der Natur widerstreitet, die Maßlosigkeit, die Entartungserscheinungen, die Übertreibungen, die müssen von der Natur durch die Übernatur gestaltet werden.

Wir alle wissen, daß es gute Anlagen gibt, die entarten können. Der Selbstbehauptungsdrang, der notwendig ist, kann auch zum Vernichtungswillen werden. Der Stolz, der berechtigte Stolz, der in uns ist, kann auch zur Maßlosigkeit werden. Alle unsere Anlagen können sich ins Ungemessene entfalten. Die Begeisterung kann zum Fanatismus werden. Und deswegen muß die Natur gebändigt und geformt werden durch die Übernatur. Das ist wiederum Aufgabe der Liebe; denn die Liebe ist eben das Element, das schöpferisch und aufbauend und formend ist. In der Liebe vermögen wir sachlich, wahr und gerecht zu werden. Die Liebe vermag uns demütig und empfänglich zu machen, wie es notwendig ist, wenn wir die Natur entfalten und gestalten wollen.

Die Übernatur gibt uns aber auch das Ziel ein. Denn was wir werden sollen, wie wir werden sollen, das wissen wir nicht von der Natur. Erst wenn wir den Gottmenschen kennenlernen, erst wenn wir den Menschensohn erkennen, wissen wir, wie wir uns gestalten sollen, was wir aus uns machen sollen. Wir sollen so werden, wie er gewesen ist. So gibt uns die Übernatur das Ziel auch für die Entfaltung und Gestaltung unserer Natur.

Aber die Natur soll eben nicht nur entfaltet und gestaltet werden, sie soll auch von der Übernatur überboten werden. Das Höchste, was die Natur leisten kann, ist der Knecht Gottes, der vor Gott niederkniet. Aber die Übernatur hebt den Knecht auf und macht ihn zum Gotteskind. Das Gesetz in der Natur ist heilig, aber die Liebe überbietet es. Das Recht ist eine Notwendigkeit, aber höher steht die Freiheit der Gemeinschaft. Und eben dazu vermag uns die Liebe zu erheben. Der Aussätzige, der von einem Heiligen gepflegt wird, wie es Damian Deveuster gemacht hat, der Aussätzige ist nach den Gesetzen der Natur dem Tode ausgeliefert. Und daß sich da ein wertvoller, ein heiliger Mensch seiner annimmt, das ist Überbietung der Natur. Menschen, die todgeweiht sind, will die Natur dem Tode überantworten, aber der Arzt und die Schwester, die sich darum mühen, das entfliehende Leben zu halten aus Ehrfurcht vor dem Leben, aus Ehrfurcht vor dem göttlichen Gebot, die handeln wider die Natur, aber sie überbieten sie. Der Lehrer, der in einer Hilfsschule steht, wo er Menschen vor sich hat, deren Verstand nicht ausgebildet ist, widerspricht in gewisser Hinsicht der Natur, denn in der Natur, da soll eben das Begabte vorankommen, nicht das Unbegabte. Aber er überbietet die Natur, wenn er diesen Schwachbegabten, diesen Unbegabten, diesen Minderbegabten etwas beizubringen versucht aus der Liebe Gottes. Wahrhaftig, meine lieben Freunde, die Übernatur überbietet die Natur.

Gewiß, es ist ein Gegensatz zwischen Natur und Übernatur, aber eben nur deswegen, weil da ein Aufstieg ist, weil da ein Überbieten ist. Wie schön ist der Frühling, wie schön sind die Blumen und wie schön sind die Sterne! Aber noch schöner und noch heller ist das Dunkel von Gethsemane und Golgotha! Wie strahlend ist ein Menschenleib in seiner Jugendkraft! Aber kostbarer ist die Seele eines Gotteskindes. Das Recht ist notwendig und heilig, aber die Liebe ist größer. Die Freuden, die von der Liebe geschenkt werden, mögen berauschend sein, aber die Leiden, die aus Liebe getragen werden, sind noch viel beglückender. Bezaubernd kann das Lächeln eines Frauenantlitzes sein, aber hilfreicher für uns ist das Weinen der Schmerzensmutter. Herrlich steht vor uns die Statue des Apoll vom Belvedere, ein junger Mann in der Kraft und Schönheit seiner Jugend, aber trösten kann uns nur das Haupt voll Blut und Wunden.

Amen.

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