Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Sünde

Predigtreihe: Die Sünden (Teil 1)

17. Mai 1992

Über Stolz und Geiz als Wurzelsünden

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Als ich vor wenigen Wochen einen Vortrag in Augsburg hielt, meldete sich in der Diskussion eine Dame zu Wort und sagte etwa folgendes: „Ich stamme aus Rußland und bin seit elf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Ich bin immer und jeden Sonntag zur heiligen Messe gegangen. Aber ich habe in dieser ganzen Zeit so gut wie niemals von der Sünde predigen hören.“ Wenn das zutrifft, was diese Dame sagte, dann muß man sagen, hier haben Prediger einen Teil ihrer Aufgabe versäumt. Denn die Predigt von der Sünde ist ein wesentlicher Bestandteil der christlichen Verkündigung. Christus ist ja gekommen, um die Bollwerke des Teufels zu zerstören. Und die Bollwerke des Teufels, das sind eben Sünde, Laster, Verbrechen. Wer also mit Christus wirken will, der muß sich in seinen Kampf gegen die Sünde eingliedern, um die Bollwerke des Teufels zerstören zu helfen.

Unter den Sünden besteht eine bestimmte Stufenordnung. Es gibt schwere Sünden, es gibt leichte oder läßliche Sünden. Schwere Sünden sind jene, wo es um eine wichtige Sache geht und wo man sich gegen Gottes Willen mit Bewußtsein und Freiheit entscheidet. Die schwere Sünde heißt auch Todsünde. Es ist versucht worden, meine lieben Freunde, zwischen schwerer Sünde und Todsünde einen Unterschied zu machen. Ein solcher Unterschied existiert nicht. Es gibt nur zwei Kategorien von Sünden, schwere Sünde oder Todsünde und läßliche oder leichte Sünde. Die leichte Sünde ist eine Handlung, die entweder nicht mit vollem Bewußtsein und mit voller Willensfreiheit in einer wichtigen Sache gegen Gottes Willen, oder die in einer verhältnismäßig geringfügigen Sache mit Freiheit und klarer Erkenntnis gesetzt wird.

Unter den schweren Sünden gibt es wieder besonders gewichtige, besonders schwerwiegende Verfehlungen. Diese Sünden nennt man Hauptsünden oder Wurzelsünden; Hauptsünden, weil sie gewissermaßen das Haupt von anderen Sünden sind, und Wurzelsünden, weil aus ihnen andere Sünden wie aus einer Wurzel herauswachsen. Die christliche Tradition zählt gewöhnlich sieben Hauptsünden auf: Stolz, Geiz, Neid, Unmäßigkeit, Unkeuschheit, Trägheit und Zorn. Das sind die sieben Hauptsünden. Sie sollen der Gegenstand der Überlegungen dieses und der folgenden Sonntage sein. Heute wollen wir zwei der Hauptsünden ins Auge fassen, nämlich den Stolz und den Geiz.

Der Stolz besteht in der Selbstüberhebung. Die Selbstüberhebung ist die fruchtbare oder, wenn Sie wollen, die furchtbare Wurzel von vielen anderen Sünden, die sich daraus ergeben. Der Stolz führt zu eitler Ruhmsucht. Die eitle Ruhmsucht ist das unordentliche Streben nach Anerkennung bei den Menschen. Eitel ist diese Ruhmsucht, weil die Menschen irrtumsfähig sind, auf deren Urteil man so viel gibt, weil das Objekt, der Gegenstand des Rühmens bei Licht betrachtet oft das Rühmen gar nicht wert ist und weil der Ruhm, der sich eventuell einstellt, nicht auf Gott bezogen wird. Die eitle Ruhmsucht ist oft verbunden mit Prahlerei, indem man auf eigene Vorzüge, wirkliche oder vermeintliche Vorzüge, hinweist. Sie verbindet sich bei religiösen Menschen mit Scheinheiligkeit. Man gibt sich als einen anderen aus als den, der man in Wirklichkeit ist. Stolz führt zur Rechthaberei; man will sich in seinem Urteil, in der Anerkennung, die man sucht, nicht stören lassen. Es kommt zur Streitsucht, zur Unbotmäßigkeit. Wahrhaftig, der Stolz ist wie eine furchtbare Wurzel, aus der andere Sünden und Fehler emporwachsen.

Mit ihm eng verbunden ist der Ehrgeiz, das ungeordnete Verlangen nach Ehre, nach Ehrenstellungen, nach Ehrenbezeugungen. Der Ehrgeizige bezieht die Ehre, die einem gezollt wird, nicht auf Gott, sondern auf sich selbst. Er strebt auf ungeordnete Weise, d.h. auch manchmal auf unlautere Weise, nach Ehre. In der Französischen Revolution, meine lieben Freunde, wurden 45 Generäle hingerichtet von den Revolutionsgerichten. Unter ihnen befand sich auch der General Custine, ein in unseren Breiten nicht Unbekannter, er ist nämlich der Sieger von Mainz und Frankfurt. Aber Custine wurde des Verrates angeklagt, und damals bedeutete Anklage soviel wie Verurteilung. Er wurde also zum Tode verurteilt. Im Gefängnis ging er in sich; er bedachte, daß er aus Ehrgeiz seinen König und seinen Glauben verraten hatte. Da starb der Revolutionär in ihm, und es wurde der Christ geboren. Er verlangte nach einem Priester, er legte eine Beicht ab. Am nächsten Tage empfing er die heilige Kommunion. Als er die Stufen zum Schafott emporstieg, rief er: „Ave crux, spes unica“ – Heiliges Kreuz, du einzige Hoffnung, sei gegrüßt! Dann legte er sein Haupt unter das Fallbeil, und bald zeigte der Henker das bluttriefende Haupt der Beifall klatschenden Menge.

Ehrgeiz verwirrt unsere rechten Handlungen. Wir sollen um der Sache willen oder noch besser um der Person, nämlich der göttlichen Person, willen handeln, nicht um ehrgeizig für uns selbst Ruhm, Anerkennung, Beifall zu gewinnen. Der Ehrgeiz kann ausarten, nämlich zur Anmaßung. Anmaßend ist derjenige, der in einer ungeordneten Weise auf sich selbst vertraut, auf seine eigene Kraft baut. Die Anmaßung kann bis zur Vermessenheit gehen, daß jemand in einer absolut übertriebenen Weise auf irdische Mächte seine Hoffnung setzt, daß er Ehre erwartet, auch ohne Leistung, daß er Verzeihung erhofft, auch ohne Bekehrung. Vermessenheit kommt immer zu Fall. Es ist jetzt 80 Jahre her, meine lieben Freunde, daß ein großes 50.000-Tonnen-Schiff aus Southampton zur Jungfernfahrt nach Amerika aufbrach. Am 10. April 1912 verließ das Schiff den Hafen. Es hatte sieben Stockwerke und ragte zwanzig Meter über der Wasserlinie. Ein Offizier sagte lachend: „Uns kann nichts anhaben. Keine Welle kann uns überspülen. Wir sind unsinkbar.“ Deswegen hatte man auch die Ausrüstung an Rettungsbooten sträflich vernachlässigt. An Bord befanden sich 2.200 Personen, davon 892 Mann Besatzung. Und siehe da, am Weißen Sonntag 1912, am 14. April 1912, als das Schiff in der Nacht dahinraste, wurde es auf der gefährlichen Nordroute, die der Kapitän vermessenerweise gewählt hatte, auf der ganzen Seite von einem Eisberg aufgeschlitzt. Zunächst suchte man die Passagiere zu beruhigen, die Kapelle spielte lustige Weisen, aber dann ließ es  sich nicht mehr verheimlichen, daß das Schiff zu sinken begann. An Bord befanden sich drei Priester, ein Engländer, ein Litauer und ein bayerischer Pater aus der Benediktinerabtei Metten. Diese drei Priester, die am Morgen noch die heilige Messe gelesen hatten, scharten die Leute um sich und beteten ihnen vor. Von den an Bord befindlichen 2.200 Menschen wurden nur über 700 gerettet. 1.500 starben einen bitteren Tod durch Ertrinken. Die Kapelle spielte als letztes das Lied: „Nearer my God to Thee, nearer to Thee“ – Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir. So setzt Gott Zeichen, wie die Vermessenheit zu Fall kommt. Stolz und Vermessenheit haben oft furchtbare Stürze erlebt.

Die zweite Hauptsünde, der wir uns heute zuwenden, ist der Geiz oder die Habsucht. Der Geiz oder die Habsucht besteht in dem ungeordneten Verlangen nach Besitz und Eigentum, nach Geld und Gut. Ungeordnet ist das Verlangen, wenn man dafür zu viel Sorge aufwendet oder wenn man danach strebt allein um des Besitzens willen. Der Geiz tritt in zwei Formen auf, einmal, indem er ungeordnet ist im Nehmen, d.h. indem er also unrechte Mittel anwendet, um zu Besitz zu kommen; zum anderen, indem er ungeordnet ist im Geben, indem er niemandem etwas abtritt. Infolge des Geizes kommt es zu vielen anderen Sünden, zur Hartherzigkeit, zur Erbarmungslosigkeit gegen andere. Man greift zu unrechten Mitteln, um zu besitzen und zu erwerben: Gewalt, List, Tücke, Betrug, Meineid. Was sind schon für Meineide geschworen worden, um zu Besitz zu kommen oder um ungerechten Besitz zu erhalten! Der Geiz ist eine Wurzelsünde, aus der viele andere Fehler und Laster emporquellen. Der heilige Paulus sagt: „Kein Habgieriger, denn das ist Götzendienst, wird das Reich Gottes und Christi erben.“ Wieso ist die Habsucht oder der Geiz Götzendienst? Weil der Habgierige oder Geizige das Geld und das Gut so achtet und so schätzt, wie man nur Gott achten und schätzen darf. Er setzt Gott ab, und an die Stelle Gottes setzt er Hab und Gut. Beim Götzendienst darf man nicht auf den Namen, man muß auf die Sache schauen. Und wer irdische Schätze so verehrt und so behandelt, wie man nur Gott verehren und behandeln kann, der ist ein Götzendiener. Deswegen setzt der heilige Paulus die Habsucht mit dem Götzendienst gleich. Die Gefährlichkeit der Habsucht kann man auch daran erkennen, daß derjenige, der mit irdischen Mitteln wohlausgestattet ist, sich, wie man sagt, alles leisten kann; und das ist gefährlich, wenn man sich alles verschaffen und gewähren kann. Denn mit Geld und Gut kann man auch vieles Böse sich erkaufen, während der bescheiden Ausgestattete vor vielen Gefahren bewahrt bleibt.

Der russische Dichter Leo Tolstoi hat eine ergreifende Novelle geschrieben: „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ Ein wohlhabender Bauer erfährt, daß man sich bei den Baschkiren mit einer Mütze voll Gold soviel Land erkaufen könne, wie man an einem Tage vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang umschreiten könne. Er nimmt also einen Knecht mit und macht sich auf nach dem Lande der Baschkiren. „Ja, so ist es“, sagt ihm der Oberste der Baschkiren, „du kannst soviel Land erhalten, wie du vom Morgen bis zum Abend, vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang umschreitest.“ Der Bauer macht sich auf den Weg, er läuft und läuft. Die Sonne beginnt schon zu sinken, aber er will immer noch mehr von dem kostbaren, fruchtbaren Lößlande erwerben. Schließlich, als er sieht, daß es Zeit würde, umzukehren, da eilt er und stürzt er und jagt er dahin. Aber als er am Ausgangspunkt ankommt, fällt er zu Boden, ein Blutstrom quillt aus seinem Munde, der Bauer ist tot. Der Oberste der Baschkiren sagt zu seinem Knechte: „Hier hast du einen Spaten; hebe deinem Herrn ein Grab aus, zwei Meter lang, zwei Meter tief, einen halben Meter breit! Soviel Erde braucht der Mensch.“

Diese ergreifende Geschichte lehrt uns, zu begreifen, was es heißt, wenn der Volksmund sagt: „Das Totenhemd hat keine Taschen.“ Auf Erden gilt es zufrieden zu sein, sich zu bescheiden. Wir arbeiten nicht für diese Erde, wir arbeiten für die Ewigkeit, und auf dem Hunger nach Geld, da ruht der Fluch. „Sacra auri fames“, so haben die Lateiner gesagt, der verfluchte Hunger nach Gold. Von dem König Midas wird in der griechischen Mythologie berichtet, daß alles, was er anfaßte, nach seinem eigenen Wunsche vom Gott Dionysos in Gold verwandelt wurde. Das ging so lange, bis er nichts mehr zu essen hatte und an seinem Goldhunger elendig zugrunde ging. Das alles ist zur Warnung für uns geschrieben.

Wir wollen uns, meine lieben Freunde, vor Stolz, Anmaßung, Ehrsucht, Ehrgeiz hüten. Wir wollen aber auch vor Geiz, Habsucht und Besitzdrang auf der Wacht sein. Wenn wir besitzen, was zu unserem Leben notwendig ist, dann wollen wir zufrieden sein, im übrigen Gott die Ehre geben und seinen heiligen Namen preisen.

Amen.

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