Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Kardinaltugenden (Teil 2)

8. Mai 2022

Die Gerechtigkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Gerechtigkeit ist jene Tugend, die den Willen dauernd geneigt und bereit macht, jedem das ihm Geschuldete zu geben und zu belassen (S. th. 2,2 q. 58 a.1), volle Gleichheit herzustellen zwischen Recht und Pflicht, Anspruch und Leistung. Die Gerechtigkeit bestimmt das Verhältnis der Menschen zueinander, indem sie einem jeden nach Recht und Billigkeit zuerkennt, was ihm gebührt. In der menschlichen Gesellschaft ist das Geschuldete 1) des Einzelnen an die Gemeinschaft, 2) der Gemeinschaft an den einzelnen, 3) des Einzelnen an den Einzelnen. Demnach gibt es eine dreifache Gerechtigkeit: die gesetzmäßige, die austeilende und die ausgleichende. Gerechtigkeit ist nicht nur ein anzustrebendes Ideal, sondern eine Notwendigkeit menschlichen Zusammenlebens. In allem gerecht zu sein, sollte schon der Sinn und das Interesse für das Gesamtwohl uns antreiben. Ohne Gerechtigkeit sind Ziel und Aufgabe eines jeden Gemeinwesens gefährdet. Ohne sie könnte weder in der Familie noch im Staat noch in der Kirche ein gedeihliches Zusammenleben bestehen. Denn wo eine Vielheit ist, da entsteht notwendig Verwirrung, wenn nicht die gegenseitigen Rechte gewahrt werden. Da herrscht Willkür von Seiten der Vorgesetzten, Ungehorsam bei den Untergebenen, da sucht jeder seinen Vorteil. Wir unterscheiden drei Bereiche der Gerechtigkeit.

1. Die Gerechtigkeit hebt die Pflichten des Einzelnen gegenüber dem Ganzen hervor (z.B. Wahlpflicht, Gerichtspflicht, Pflicht zum sozialen Gebrauch des Eigentums). Sie verlangt vom Einzelnen, sowohl von den Trägern der Autorität wie den Untertanen, der (staatlichen) Gemeinschaft das ihr Geschuldete zu geben, d.h. das, dessen sie zur Erreichung des Gemeinschaftszieles (= des Gemeinwohles) bedarf. Ihr konkreter Inhalt ist meist durch die positiven (staatlichen) Gesetze festgelegt. Recht im objektiven Sinne ist die Gesamtheit der vom Staat (oder Kirche) institutionalisierten Regeln, die zueinander in einer gestuften Ordnung stehen und menschliches Verhalten anleiten oder beeinflussen (Rechtsordnung). Das Recht soll das friedliche Zusammenleben der Bevölkerung im Schutz des Rechts gewährleisten (Rechtsfrieden). Das Recht steht unter Legitimationszwang, den es durch eine sach- und interessengerechte Problembewältigung zu lösen sucht. Das Recht muss auf Gerechtigkeit hin orientiert sein. Gerechtigkeit bildet zusammen mit der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit das Gefüge des Rechts. Der Staat besitzt ein Strafrecht. Die Gerechtigkeit verlangt, dass Straftat und Strafmaß in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen. Im Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland das Weitererzählen von Nachrichten feindlicher Rundfunksender und Zweifel am deutschen Endsieg mit dem Tode bestraft. Auch damals schon wurde diese Sanktion ganz überwiegend als maßlos ungerecht empfunden.

Mit der gesetzmäßigen Gerechtigkeit deckt sich teilweise die soziale Gerechtigkeit. Sie berücksichtigt an erster Stelle die aus der sozialen Natur des Menschen sich ergebenden Gemeinschaftsverpflichtungen, unabhängig davon, ob sie in positive staatliche Gesetze gefasst sind. Im sozialen Rechtsstaat wird Gerechtigkeit aus der dialektischen Spannung von Geschichte und Vernunft begriffen und zur ständigen Aufgabe der Bürger und ihrer politischen Institutionen im Sinne permanenter politisch-sozialer Reformbereitschaft. Soziale Gerechtigkeit wird unterschiedlich bestimmt, was jedem in sozialer Hinsicht zustehe und nach welchen Kriterien die Güter in einer Volkswirtschaft zu verteilen seien: 1) Besitzstands-Gerechtigkeit als Sicherung einer erworbenen Position in der Gesellschaft. 2) Bedürfnis-Gerechtigkeit als Anspruch auf eine Grundausstattung mit bestimmten Gütern zur Befriedigung von Grundbedürfnissen. 3) Chancen-Gerechtigkeit als Forderung nach Überwindung von Diskriminierungen und nach Ausgleich von Benachteiligungen. 4) Leistungs-Gerechtigkeit als Schaffung von für alle gleich geltenden Regeln mit der Chance, im Wettbewerb eine den Fähigkeiten und Anstrengungen entsprechende Position zu erlangen.

Im zwischenstaatlichen Bereich erweist sich Gerechtigkeit als zentrale Aufgabe der internationalen Ordnung. Ausgleich des wirtschaftlich-soziales Gefälles zwischen den Industriestaaten einerseits und den Entwicklungsländern anderseits, Entwicklung einer neuen Weltwirtschaftsordnung sowie neuer Konzepte der Friedenssicherung, der Entwicklungspolitik und der politischen Zusammenarbeit in den internationalen Organisationen. Der Krieg ist eine traurige Wirklichkeit, welche die Geschichte der Menschheit begleitet. Der ewige Friede ist ein Traum, und zwar ein gefährlicher Traum (Mirabeau). Nach der Lehre der Kirche ist der Krieg ein furchtbares Übel. Ungerechter Krieg ist schwere Sünde. Selbst wenn der Kampf in sich gerecht ist, ist er die nächste Gelegenheit zu Sünden fast gegen jedes Gebot. Der Krieg destabilisiert die Gesellschaft, bringt Hunger und Elend, erniedrigt die Menschen, tritt die Menschenwürde mit Füßen, lässt weder Arbeit noch Ruhe zu, verhindert den Fortschritt, vernichtet lebenswichtige Ressourcen, bringt Unordnung und zerstört die Umwelt, spaltet und verwundet die Herzen der Menschen. Die Menschen sind gehalten, ihre Meinungsverschiedenheiten auf eine Weise zu lösen, die des Menschen würdig ist. Da Kriege faktisch unvermeidlich sind, hat man sich Gedanken gemacht, wie man Kriege vermeiden, rasch beenden oder möglichst wenig verlustreich gestalten kann. Augustinus und Thomas von Aquin entwickelten die Lehre vom gerechten Krieg. Danach durfte Krieg nur geführt werden, um die gestörte Rechtsordnung wiederherzustellen. Die Kriegführung war an einen gerechten Grund und rechtmäßige Methoden gebunden. Die Parteien blieben dem Ziel des Friedens verpflichtet. Spätere Denker wie Franz von Vitoria haben diese Gedanken weiterentwickelt. Diese Lehre hat sich nicht gewandelt, aber ihr Umfeld hat sich verändert. Krieg im Industriezeitalter ist mit einem Ausmaß an Zerstörung verbunden, das es zur moralischen Pflicht macht, alles zu tun, Kriege nicht nur fallweise zu verhindern, sondern strukturell unmöglich zu machen. Das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung bleibt jedem Staat erhalten. Das heutige Völkerrecht kennt nur noch das Recht auf Verteidigung gegen einen Angreifer.

2. Die austeilende Gerechtigkeit besagt die verhältnismäßige Gleichheit in der Behandlung einer Mehrzahl von Personen: die Zuteilung von Rechten und Pflichten nach Maßgabe der Würdigkeit, Fähigkeit, Bedürftigkeit (z.B. die unterschiedliche Besteuerung je nach Höhe des Einkommens). Diese Gerechtigkeit wird die Tugend der Vorgesetzten genannt. Sie haben als solche zunächst die Obsorge für die Untergebenen, und zwar je nach der Stellung mehr für das zeitliche oder für das geistliche Wohl derselben. Sodann fordert die Gerechtigkeit von den Vorgesetzten, dass sie Ämter, Würden und Auszeichnungen nach Fähigkeiten und Leistung, nach Verdienst und Tüchtigkeit ohne Ansehen der Person zuteilen und ebenso Lasten und Verpflichtungen auferlegen. In Bezug auf die materiellen Güter hat die Gerechtigkeit dafür zu sorgen, dass ein jeder erhält, was ihm gebührt, dass keine ungerechten Forderungen erhoben und Schädigungen vermieden werden. Der pflichtmäßigen Fürsorge der Oberen für die Untergebenen entspricht seitens der Untergebenen die treue Beobachtung der Gebote und Vorschriften. Jedes Glied der menschlichen Gesellschaft ist als Teil des Ganzen verpflichtet, das Wohl der Gesamtheit zu fördern.

3. Insofern alle Menschen einander gleichberechtigt gegenüberstehen, kommt die ausgleichende Gerechtigkeit zur Geltung. Die ausgleichende Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit unter den von Natur Ungleichen, aber vor dem Gesetz Gleichen. Sie bedeutet die absolute Gleichheit von Leistung und Gegenleistung unter den vom Gesetz Gleichgestellten (z.B. Ware und Preis, Schaden und Ersatz). Bei ihr decken sich Pflicht und Leistung. Sie hat eine doppelte Aufgabe: einmal dahin zu wirken, dass der Nächste in seinen Rechten nicht verletzt wird; dann aber auch einem jeden das zu geben, was ihm von Rechts wegen zukommt. Die Gerech-tigkeit tritt allen in gleich verpflichtender Kraft gegenüber und drängt auf Erfüllung der Pflichten. Verträge unterstehen der ausgleichenden Gerechtigkeit, die den Austausch zwischen Personen unter genauer Beobachtung ihrer Rechte regelt. Die ausgleichende Gerechtigkeit ist streng verpflichtend. Sie fordert, dass man Eigentumsrechte wahrt, Schulden zurückzahlt und sich an freiwillig eingegangene Verpflichtungen hält. Ohne ausgleichende Gerechtigkeit ist keine andere Form der Gerechtigkeit möglich. Im Tauschverkehr zwischen Leistung und Gegenleistung soll Gleichheit bestehen. So soll der Angebotspreis für ein Sachgut den bei seiner Produktion aufgewendeten Arbeitsmengen und Ausgaben (einschließlich des standesgemäßen Unterhalts für den Produzenten) entsprechen. Gerechter Lohn ist in der christlichen Soziallehre der Lohn, der den Lebensbedarf des Arbeiters und seiner Familie deckt und dabei die Leistungsfähigkeit des Unternehmens und die gesamte Wirtschaftslage berücksichtigt (Quadragesimo anno).

Jeder normale und rechtlich denkende Mensch wünscht gerecht behandelt zu werden. Dieses Postulat beginnt im frühesten Kindesalter. In der Familie muss es gerecht zugehen. Die Eltern sind die berufenen Erzieher ihrer Kinder. Sie müssen einem jeden das gleiche Wohlwollen zuwenden. Es gibt leider nicht sehr viele Eltern, deren Umgang für ihre Kinder wirklich ein Segen ist (Marie von Ebner-Eschenbach). Erziehen heißt vorleben. Alles andere ist höchstens Dressur. Viele Eltern glauben, sie könnten ihre Kinder zu Verschwiegenheit, Takt, Ehrlichkeit und Vertrauen erziehen, während sie sich zanken, die Kinder anlügen, ihre Briefe durchschnüffeln und über ihre innersten Angelegenheiten zu anderen reden. In der Schule werden die Leistungen der Schüler benotet, es werden Zensuren gegeben. Die Schüler möchten gerecht beurteilt werden. Vorliebe und Abneigung sollen nicht in die Bewertung der Leistungen eingehen. Lob und Tadel müssen mit Begründung und Feingefühl ausgeteilt werden. Der ungerechte Erzieher verspielt seine Autorität und verletzt die Seele seiner Zöglinge. Im Berufsleben darf es keine ungerechtfertigte Bevorzugung und Zurücksetzung geben. Auch der einfache Mensch ist empfindlich gegen parteiliche Beurteilung durch seine Vorgesetzten.

Als Folge und Ergebnis gerechten Handels und Wandels werden gewisse Errungenschaften erwartet. Die Gerechtigkeit bringt als erste Frucht den Frieden. „Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“, heißt es im Psalm 84,11. Dabei ist allerdings vorausgesetzt, dass die Menschen mit gerechter Behandlung zufrieden sind und nicht Bevorzugung verlangen. Sobald die Ungerechtigkeit in das Herz einzieht, zieht der Friede aus. Fast all die Klagen und die vielen Bitterkeiten auf der Welt erheben ihre Stimme gegen die Ungerechtigkeit, die weder Gesundheit noch Erdengut noch Ehre schont. Die zweite Frucht der Gerechtigkeit ist die ungehemmte Entfaltung der menschlichen Kräfte zu segensreichem Schaffen. Ungerechte Zurücksetzung, falsche Deutung der Absichten, unverdienter Tadel lähmen die Kraft und begünstigen Mutlosigkeit. So erwächst durch Ungerechtigkeit ein unberechenbarer Schaden für einzelne, für ganze Gemeinschaften und für die gesamte Gesellschaft in Staat und Kirche. Es gab Perioden in der Geschichte, in denen zwischen den Bewohnern oder den Bürgern eines Landes verletzende Unterschiede gemacht wurden. In Deutschland wurden im 19. und 20. Jahrhundert katholische Bürger bewusst und mit Absicht vom Aufstieg und von führenden Stellungen ferngehalten. In den Vereinigten Staaten beklagen noch heute Bürger mit schwarzer Hautfarbe ihre verletzende Zurücksetzung in den politischen Gemeinden und Schulen. Täuschen wir uns nicht: Die Gerechtigkeit hängt während dieser Weltzeit häufig am Kreuz. Die Ungerechtigkeit triumphiert oft. Aber einmal wird dies beendet sein, nämlich dann, wenn das Endgericht hereinbricht. Am Ende der Tage wird die Gerechtigkeit Gottes ihren höchsten Triumph feiern. Dem Verdienst wird sein Lohn, der Schuld ihre Strafe. Gott wird richten ohne Ansehen der Person.

Gerechtigkeit ist ein Grundbegriff der Ethik, der Rechts- und Sozialphilosophie sowie des sittlichen, religiösen, politischen, sozialen und juristischen Lebens. Die Gerechtigkeit als sittliche Tugend ist der beständige, feste Wille, Gott und dem Nächsten das zu geben, was ihnen gebührt. Die Gerechtigkeit ist eine erhabene Tugend. Nur der erwirbt sie, der sich selbst gründlich kennt und die Menschen unvoreingenommen beurteilt. Wahrhaft und vollkommen gerecht ist nur derjenige, der, was gerecht ist, auf gerechte Weise vollbringt, d.h. mit Freiwilligkeit, Bereitwilligkeit und aus Liebe zu Gott. O dass doch in Erfüllung gehe, was der Prophet Amos verkündigt hat: Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach (Am 5,24).

Amen.

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