Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Himmel, Hölle und Fegfeuer (Teil 1)

5. Dezember 2021

Der Himmel

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wenn der Mensch von Eigenherrlichkeit und Selbstsucht frei ist, wird er jener Lebensform teilhaftig, die wir den Himmel nennen. Sie ist der Zustand der vollendeten Gottesherrschaft und gleichzeitig das vollendete Heil. Himmel ist das theologische Bildwort für den endgültigen Heilszustand der durch Christus mit Gott für immer vereinten, geretteten Menschen. Es ist ein Grundsatz unseres Glaubens: Es gibt einen Himmel oder ein ewiges Leben, in dem die Gerechten endlos an der Seligkeit Gottes teilnehmen. Wenn wir sagen, dass wir in den Himmel kommen, so meinen wir, dass wir zu Gott gelangen, dass wir an seiner Lebensfülle und an seiner Existenzkraft Anteil gewinnen. Der Himmel ist nicht erstlich ein sachlicher Besitz, sondern eine personale Begegnung, eine Begegnung vollendeter und beglückender Liebe. Im Himmel sein heißt mit dem erhöhten Christus zusammen sein und so in der Vereinigung des Menschen mit Gott stehen. Himmel ist somit primär eine personale Wirklichkeit. Sie bleibt geprägt von ihrem geschichtlichen Ursprung, nämlich von dem österlichen Geheimnis Tod und Auferstehung Christi. Der vollendete Mensch erfährt Christus unmittelbar als das Brot und das Leben, als das Licht und die Wahrheit. Das Leben des Himmels besteht darin, dass der mit Christus Verbundene den Herrn unmittelbar sieht und sich seiner Vereinigung mit ihm unmittelbar bewusst ist. Der Vollendete im Himmel schaut Christus ins Antlitz, demjenigen, der das Gesetz seines Lebens war, mit dem er den Leidenskelch getrunken, dem er sich in Gehorsam und Vertrauen überantwortet hatte.

Die Verbundenheit mit Christus begründet die Lebensgemeinschaft mit dem himmlischen Vater. Erst wenn der Mensch vor dem Antlitz des Vaters steht, ist er dort angekommen, wo er letztlich ankommen soll. Wenn er in dessen Antlitz zu blicken vermag, dann darf er in das Antlitz der existenzmächtigen Wahrheit und Liebe selbst hineinschauen. Die Seligen im Himmel sehen unmittelbar und unverhüllt Gott selbst von Angesicht zu Angesicht. In der Gottesschau erfüllt sich die Sehnsucht der Jahrtausende. Von ihr träumten die Denker und die Frommen bei allen Völkern und in allen Religionen. Auf sie hofften alle Offenbarungsgläubigen des Alten Testamentes. In ihr sahen sie die Gnade aller Gnaden. Die Gottesschau ist der wesentliche Inhalt des mit dem Tode anhebenden Lebens. Sie ist die Erfüllung der höchsten Verheißung des Herrn. „Selig die Herzensreinen, denn sie werden Gott anschauen“ (Mt 5,8). Gott gestattet den Vollendeten einen Blick in das Geheimnis seines Selbst. Sie schauen die Glut und das Licht der personhaften Wahrheit und der personhaften Liebe. Der Selige des Himmels begegnet Gott in der Haltung der Anbetung. Die Liebe, mit der er Gott umfängt, ist eine anbetende Liebe. Die Anbetung, mit der er sich im hingibt, ist von der Liebe durchglüht. Die Vollendeten bringen der Liebe in Person diese Anbetung freudig und beglückt dar. Es ist ihr Jubel, die Liebe anbeten zu dürfen.

Doch Gott bleibt Gott, der Mensch bleibt Geschöpf. Gott ist auch für den Menschen im Zustand des Himmels ein unbegreifliches Geheimnis. Der Mensch sieht zwar Gott unmittelbar, aber er durchdringt ihn nicht bis auf den Grund seines Seins. Die Unbegreiflichkeit Gottes kann für das Geschöpf nie, auch nicht im Zustand des Himmels, aufgehoben werden. Doch das ewige Mysterium Gottes ist für den Vollendeten keine ewige Tragik, sondern ewige Seligkeit. Er erlebt es als beglückende Erfüllung seines Wesens.

Außer dem wesentlichen Gut der Seligkeit, der Schau Gottes, gibt es noch akzidentelle Freuden des Himmels: der Verkehr mit Christus und seiner glorreichen Mutter, mit den Engeln und Heiligen, das Bewusstsein überwundener Gefahren, die Freiheit von Leiden und aller Art Übel, volle Sicherheit im erlangten Besitz. Ohne Zweifel ist das Leben im Himmel ein geselliges Leben. Das Insein in Christus schließt notwendig das Mitsein all derer mit ein, die den Leib Christi bilden. Himmel ist seinem Wesen nach Gemeinschaft der Heiligen, das Hochzeitsmahl Gottes mit der in Christus vereinten Menschheit. Die Teilhabe des Einzelnen an Christus bedeutet auch die Teilhabe der Einzelnen aneinander. Deshalb darf ein verwandeltes Fortleben der mitmenschlichen Beziehungen dieser Welt im Himmel mit Recht erhofft werden. Eine große Zahl von Lieben erwartet uns drüben, eine stattliche mächtige Schar von Eltern, Großeltern und Kindern sehnt sich nach uns, um die eigene Rettung bereits unbekümmert und nur um unser Heil besorgt. Unter ihren Augen, in ihre Arme zu eilen, welche Freude für sie und uns zugleich! Die Seligen erkennen nicht nur jene, die sie in der Welt kannten, sie grüßen auch wie längst Bekannte die Guten alle, die sie niemals gesehen haben. Es gibt kein Nichtkennen, wo die Seligen den schauen, der alles kennt.

Der Himmel bedeutet die höchste Erfüllung des Menschen; er ist die höchste Verwirklichung des menschlichen Wesens. Aus der Vollendung des menschlichen Wesens und der Erfüllung aller Lebenssehnsucht strömt eine ungeahnte Seligkeit. Religiös-sittliche Vollendung und höchstes Glück sind im Zustand des Himmels endgültig auf das innigste miteinander verbunden. Den von jeder Schuld und Strafe gereinigten Menschen wird eine vollkommene übernatürliche Seligkeit zuteil. In den Seligpreisungen verkündet Christus, dass es in jener Welt keinen Hunger und keine Träne mehr geben wird. Die Vollendeten leben in der Freude über ihr endgültiges Heil. Das Leben der jenseitigen Welt ist Erquickung, Trost, Friede und Ehre. Es ist ein Leben des Reichtums und der Unvergänglichkeit, der Kraft und der Heiligkeit. Die Unsündlichkeit ist ein Gut der Seligkeit, das sich unmittelbar aus der Schau Gottes ergibt. Es ist die Eigentümlichkeit des Glücklichseinwollens, dass es notwendig und zugleich frei besteht. Mit der Befreiung von der Sünde hängt zusammen die Befreiung von den Leiden, welche die Schrift oft hervorhebt (Röm 8,21ff.; 1 Kor 15,53f., 2 Kor 2,1-9; Apk 14,13; 21,2ff.). Die himmlische Existenz ist Leben ohne Tod, Wahrheit ohne Irrtum, Glück ohne Gefahr.

Der Himmel ist höchste, von Gott gewirkte Aktivität des Menschen. In der Teilnahme am Leben Gottes gewinnt der Vollendete eine Intensität des Lebens, wie sie ihm auf Erden immer versagt bleibt. Der Selige lebt in höchster Wachheit des Geistes und des Herzens. Wenn wir den Himmel die ewige Ruhe nennen, so ist damit keine tötende Ruhe der Untätigkeit gemeint. Der Himmel ist höchstes Tun, aber es vollzieht sich mühelos, ohne Anstrengung, ohne Erschlaffung. In diesem Sinne ist er Ruhe. Hienieden ist jeder Besitz mit Unruhe mannigfacher Art verbunden. Im Jenseits gibt es dergleichen nicht mehr: Alles ist still wie das geglättete Meer, keine Unruhe, nur wahrer Friede. Wenn ein Mensch Gott unmittelbar schaut, so ist sein Herz so von ihm gefangen, dass er sich nicht mehr von ihm abwenden kann. Die Gottesschau ist von keiner Versuchung und von keiner Sünde bedroht. Der Himmel ist die endgültige Geborgenheit des Menschen in der Liebe Gottes. Gott selbst wirkt, dass sich ihm der Selige mit dem äußersten Einsatz seines Geistes und Herzens hingibt. Der Selige ist in der Liebe gefestigt.

Die unmittelbare Gottesschau und die in ihr gründende Seligkeit wird nie ein Ende nehmen. Die Endlosigkeit des Himmels ist von der vollkommenen Seligkeit nicht trennbar. Im Seligen kann keine Furcht aufkommen, dass er jemals verliert, was er besitzt. Er braucht um die Freundschaft mit Gott nicht zu bangen. Er ist ihrer über jeden Zweifel und für immer sicher. Die Schrift betont die Ewigkeit der Seligkeit an vielen Stellen (Mt 25,46; Joh 3,16.36; 1 Joh 5,20; 2 Kor 4,17f.; 5,1; 1 Petr 1,4; 5,10). „Wir wissen“, schreibt Paulus nach Korinth, „dass wir nach dem Abbrechen unserer irdischen Zeltwohnung eine Wohnstätte von Gott empfangen, ein nicht von Händen erbautes, ewiges Haus im Himmel.“ Dennoch stellt der Zwischenzustand vom Tode des Einzelnen bis zum Jüngsten Tage noch nicht die letzte Vollendung dar; denn dem Leben der vollendeten Geistperson fehlt noch die Leibhaftigkeit. Sie wird erst durch die Auferstehung der Toten verwirklicht. Der Himmel ist also in gewisser Hinsicht unvollendet vor der Wiederkunft Christi. Der Himmel wird erst dann erfüllt sein, wenn alle Glieder des Herrenleibes versammelt sind. Dieses Vollsein des Christusleibes schließt die Auferstehung des Fleisches ein; es heißt Parusie. Damit ist die Anwesenheit Christi vollendet; sie umfasst alle zu Rettenden und mit ihnen das All.

Manche fragen, wo sich der Himmel befindet. Die Antwort lautet: Der Himmel ist dort, wo die Seele ihre Glückseligkeit genießt; diese besteht in der Gottanschauung, in der Teilnahme an dem Sein und Leben Gottes. Mehr zu wissen ist uns nicht gegeben. Wir vermögen keinen Ort anzugeben, der für die Daseinsform der vollendeten Menschen vorbehalten ist. Der Himmel kann nicht räumlich bestimmt werden. Der Himmel partizipiert an der Transzendenz, der Überweltlichkeit Gottes. Wie Gott dem Menschen überlegen und unverfügbar ist, so ist es auch der Himmel. Der Himmel ist eine unstoffliche und zeitlose Größe. Joseph Ratzinger gab folgende Beschreibung des Himmels. Dies ist eine neue Dimension gegenüber den physikalischen Dimensionen; in diese letzteren lässt sich die Gegenwart Christi nicht einordnen. Himmel ist demnach nicht räumlich, sondern essentiell „oben“. Die Bildworte „oben“, „über“ sind berechtigt, sofern das räumliche Oben ein Ursymbol der essentiellen Überlegenheit darstellt, um die es geht. Der bedeutende theologische Denker Engelbert Krebs meinte folgende Aussage wagen zu können: „Der Ort, an welchem die Seligen nach Wiederannahme ihrer Leiber den Himmelszustand erleben, erstreckt sich wohl über das ganze erneuerte Weltall.“

Als Hannibal mit seinen Truppen nach unsäglich mühevollem und opferreichem Übergang über die Alpen Oberitalien erreichte, ließ er vor dem Abstieg in die Po-Ebene halten und zeigte seinen Kriegern die Herrlichkeit des Landes, das sich zu ihren Füßen breitete. „Das alles ist euer, wenn ihr ausharrt und den Sieg erringt.“ Der punische Feldherr zeigte seinen Soldaten als Lohn ihrer Mühen ein glückliches Land auf dieser Erde. Unser Herr zeigt seinen Gläubigen die ewige Seligkeit des Jenseits. Es ist und bleibt wahr: Wenn der Mensch liebt, was Gott liebt, steigt er zum Reiche dessen auf, dessen Liebe er teilt. Das ist der Himmel. Die Seelen der vollendeten Gerechten werden sogleich, nachdem sie dem irdischen Leib entflohen sind, in den Himmel aufgenommen. „Wenn du nur ernstlich willst, so ist der Himmel dein. Wie unermesslich reich kann auch der Ärmste sein“ (Angelus Silesius).

Amen.

  

 

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