Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Wirklichkeit Jesu Christi (Teil 1)

21. Februar 2016

Der lebendige Jesus

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Ich hatte mir vorgenommen in dieser Bußzeit, die Wirklichkeit unseres Heilandes Jesus Christus vor Ihren und meinen Augen erstehen zu lassen. Wir möchten ihn immer besser erkennen, damit wir ihn immer mehr lieben und ihm immer treuer folgen. Wir wissen es: Jesu Verkündigung gilt der Verherrlichung des Vaters, der Erfüllung des göttlichen Willens, der Aufrichtung des Reiches Gottes. Neben diesem Ziel, neben diesem einzig Notwendigen hat die irdische Zielsetzung wenig Gewicht und keinen Platz. Es scheint, als ob Jesus nur für die Herrlichkeit des Vaters entzündet wäre und die Werte des Diesseits, die irdischen Werte, daneben laufen ließe, missachtete, verkannt hätte, oder wenigstens als ob ihm diese irdische Welt mit ihren Gegensätzen und ihren Spannungen etwas Gleichgültiges wäre. Das Leben, das ihm auf den stillen Hochtälern Galiläas begegnete oder ihm in den Städten wie Jerusalem und Bethsaida umflutete: Hat er das Leben geflohen oder hat er es gemeistert? Kein Zug im Leben Jesu, kein Zug in seinem Bilde ist von den Evangelisten so eindeutig und kraftvoll herausgearbeitet worden wie die Leidenschaft für den himmlischen Vater. „Meine Speise ist es, den Willen des Vaters im Himmel zu tun.“ „Niemand kennt den Sohn als der Vater und niemand kennt den Vater als der Sohn.“ Jesus ist ganz erfüllt von dem lebendigen Gott. Seine Botschaft knüpft an die Predigt der Propheten an, für die Gott der lebendigste und wirklichste Gegenstand war. Für Jesus ist der Vater der immer Tätige: „Mein Vater wirkt bis jetzt, und auch ich wirke.“ Er ist der immer Tätige, er ist der immer Wirkende. Er schickt Sonne und Regen, er kleidet die Lilien des Feldes, er nährt die Raben, kein Sperling fällt ohne seinen Willen vom Dach, und alle Haare des Hauptes sind beim Menschen gezählt. Das Brot, das wir essen, ist Gabe des Vaters. Der Mensch gehört nach seinem ganzen Sein und Wirken Gott an, so wie ein Schaf seinem Hirten und Herrn. Und darum ist auch das Geschick der Menschen vom Willen Gottes getragen. Nicht ein augenloses Schicksal sitzt am Webstuhl der Zeit, sondern der Wille des Vaters regiert die ganze Welt. Einmal warnten wohlmeinende Pharisäer Jesus vor dem König Antipas: „Er will dich töten.“ Jesus antwortete: „Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen heute und morgen; erst übermorgen werde ich vollendet“, d.h.: mein Schicksal ruht in der Hand Gottes, nicht in der Hand des Herodes Antipas. Bei ihm steht der Ablauf des Weltgeschehens, seine Erschütterungen und seine Kriege bis zum letzten Tage. Einmal kamen einige Leute zu Jesus und erzählten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus vergossen hatte, als sie gerade opferten. Er erwiderte ihnen: „Meint ihr, dass diese Galiläer größere Sünder gewesen wären als die übrigen Galiläer, weil sie solches erleiden mussten? Wenn ihr euch nicht bekehrt, wird es euch genauso ergehen.“ Und dann erzählten ihm andere von den achtzehn Personen, die beim Umsturz des Turmes von Siloe ums Leben gekommen waren. „Meint ihr, sie seien schuldiger gewesen als alle anderen Bewohner von Jerusalem? Wenn ihr euch nicht bekehrt, werdet ihr alle umkommen.“ Das Los der Menschen hängt nicht von irdischen Begebenheiten ab, sondern vom Willen des Vaters. Von hier aus kann Jesu Stellung zum Dasein nur eine bejahende sein, ja, eine gehobene. Nicht eine kalte Notwendigkeit, nicht die Unerbittlichkeit des Schicksals tritt ihm entgegen, sondern der Wille des Vaters. Für Jesus gibt es keine tote Natur. Im Berg und im Wasser, in den Blumen und in den Vögeln und vor allem natürlich im Menschen sieht Jesus den Vater, begegnet er dem Lebendigsten, Köstlichsten, was es gibt, nämlich dem Vater. Und so wird seine Berührung mit der wirklichen Welt auch eine Berührung mit dem Willen des Vaters, ein unmittelbares Erleben seiner Weisheit, seiner Macht, seiner Güte. Darum ist Jesus eine realistische Naturbetrachtung zu eigen. Er freut sich über die Vögel des Himmels, die nicht säen und nicht ernten, und doch ernährt sie der himmlische Vater. Er sieht die Lilien des Feldes, sie spinnen nicht und sie weben nicht, aber nicht einmal Salomon in seiner Herrlichkeit war gekleidet wie eine von ihnen. Er betrachtet die Kinder auf der Gasse, wie sie pfeifen, singen, tanzen und schmollen. Er gedenkt der Freuden der jungen Mutter, die ihre Schmerzen vergisst, wenn das Neugeborene zur Welt gekommen ist. Er bemerkt die Hausfrau, die den verlorenen Denar im Hause sucht. Das Kleine und Kleinste hebt er auf und betrachtet es liebevoll. Natürlich betreibt Jesus keinen reinen Naturkult, wie das heute vielfach der Fall ist, sondern die Natur ist ihm nichts anderes als der plastisch ausgeformte Wille Gottes. Er sieht in der Natur deren Schöpfer. Seine Liebe zur Natur ist nichts anderes als eine andersgewendete Liebe zu Gott.

Herrlicher freilich noch schließt sich Jesus dem Menschen auf. Ist doch das menschliche Wesen derart vom Willen des Vaters durchpulst und mit ihm verbunden, dass man Gott nicht wollen kann, ohne auch den Menschen zu wollen. Das Alte Testament hatte die beiden Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe nebeneinander gestellt; Jesus verbindet sie: „Alles, was ihr von den Menschen erwartet, das sollt ihr ihnen tun; das ist das Gesetz und das sind die Propheten.“ Die Menschenliebe Jesu ist Gottesliebe, nur von einer anderen Seite her gesehen. Er kennt keinen reinen Menschenkult, der von Gott absieht. Er liebt die Menschen, weil Gott sie liebt. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschlands steht der Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Warum? Das haben die Väter des Grundgesetzes vergessen, zu sagen. Sie ist unantastbar, weil der Mensch das Ebenbild Gottes ist, weil Gott ihn nach seinem Bilde geschaffen hat, deswegen ist die Menschenwürde unantastbar; das haben die Schöpfer des Grundgesetzes vergessen. Er nahm ein Kind und stellte es in die Mitte – die Kinder hat er vor allem geliebt: „Wenn ihr nicht werdet wie Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“ Er versteht es, sich in fremde Gemütszustände einzufühlen: in die Angst eines Vaterherzens. Der Synagogenvorsteher Jairus kommt zu ihm, weil seine Tochter gestorben ist. Seine Bekannten sagen: „Was belästigst du den Meister?“ Jesus aber spricht zu Jairus: „Sei ohne Furcht, glaube nur.“ Jesus versteht den Schmerz einer vereinsamten Mutter. Als er nach Naim kommt, trägt man eben einen Toten heraus, den einzigen Sohn seiner Mutter, die Witwe war. Jesus empfindet Mitleid mit ihr und spricht: „Weine nicht!“ Er versteht auch den Schmerz des gelähmten Mannes, den man vor ihn bringt. Jesus spricht zu ihm: „Sei getrost, mein Kind, deine Sünden sind dir vergeben.“ Sein Verhalten gegen Gestrauchelte ist besonders ergreifend. Einmal bringt man eine Frau zu ihm, die beim Ehebruch ertappt wurde – darauf stand die Strafe der Steinigung –, da sagt Jesus: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Und da gingen alle fort, vom einen bis zum anderen, vom ersten bis zum letzten; keiner hob einen Stein auf. Da fragte er die Frau: „Hat dich keiner verurteilt?“ „Keiner, Herr.“ „So will auch ich dich nicht verurteilen. Gehe hin und sündige nicht mehr!“ Und wie war er gütig gegenüber dem verleugnenden Petrus. In der schwersten Stunde des Herrn sagte dieser: „Ich kenne den Menschen nicht“, mit dem er so lange gewandert ist, der ihn so ausgezeichnet hat, der ihn zum ersten der Apostel gemacht hat: „Ich kenne den Menschen nicht.“ Und was sagt Jesus? Nichts. Er schaut ihn nur an mit einem Blick, und in diesem Blick liegt mehr als in vielen Worten. Eine Frau, eine Sünderin, eine Dirne trat hinzu, als er im Hause eines Pharisäers zu Tische saß. Sie benetzte seine Füße mit ihren Tränen, sie trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes, sie küsste die Füße und stellte Öl bereit, um sie zu salben. Der Herr ließ es geschehen, weil er die Reue und die Liebe der Frau sah. Dann sprach er: „Deine Sünden sind dir vergeben. Dein Glauben hat dir geholfen. Gehe hin in Frieden!“ So hat Jesus den Umgang mit den Sündern gepflegt.

Und wie wird er ergriffen, wenn er auf menschliches Leid trifft. Wie oft steht im Evangelium: „Er hatte Mitleid mit ihnen“ oder „Es jammerte ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben“. Wiederholt weist Jesus fremde Bitten ab, aber niemals eine Bitte um Hilfe in Not. Er heilte sie alle. Nicht selten wartet er gar nicht, bis man ihn anfleht. In der Synagoge war ein Mann mit einer verdorrten Hand. Jesus sprach zu ihm: „Komm her, stell dich in die Mitte!“ Dann befahl er ihm: „Strecke deine Hand aus!“ Er streckte sie aus, und seine Hand war gesund. Lieber gibt er den Pharisäern durch eine scheinbare Missachtung des Sabbatgebotes Ärgernis, als dass er die Hilfe verweigert. Er kann kein Elend in seiner Nähe sehen. Er ist bereit, das Essen aufzuschieben, wenn er einen Kranken sieht. Er ging in das Haus eines vornehmen Pharisäers, um zu speisen, da trat ihm ein wassersüchtiger Mann entgegen. Er fasste ihn an, heilte ihn und ließ ihn von dannen gehen, erst dann setzte er sich zu Tisch. Und was hat er für zärtliche Worte für die Armen, für die Geplagten. „Mein Kind“, spricht er zu dem Gelähmten, „meine Tochter“, sagt er zu der kranken Frau. Und wenn sich der menschliche Jammer abgrundtief vor ihm auftut, etwa vor dem Grab des Lazarus oder vor dem todgeweihten Jerusalem, da erschauert er im Geiste und erregt sich selbst, ja, da weint er. So sehr ist der Nächste sein eigenes Ich, dass ihm selbst getan wird, was man dem Geringsten seiner Brüder getan hat. Jesus sieht den Menschen. Er sieht ihn aber nicht bloß in Sünde und Schuld, nein, er sieht auch sein tiefes Leid. Und sein ganzes reiches, weites Herz gehört den Menschen in ihrem Leid, aber auch in ihrer Freude. Er nimmt unbefangen an den kleinen Freuden teil, die der Tag bringt. Er lässt sich zu Tische laden, und wenn seine Gegner ihn deswegen als Fresser und Weinsäufer beschimpfen, so stört ihn das nicht. Einmal veranstaltet Levi ein großes Mahl, ein andermal isst er im vertrauten Kreis bei Simon und dessen Schwiegermutter oder bei der geschäftigen Martha. Er lädt sich selbst ein bei Zachäus: „Ich muss heute in deinem Hause sein.“ Das Mahl und die Hochzeit dienen ihm auch als Bilder für die jenseitige Freude. Sie bilden den Rahmen und den Stoff für seine Gleichnisse. Nietzsche hat einmal die Meinung vertreten: „Jesus hat nie gelacht.“ Woher weiß er das? Wie sollte der nicht selber eine tiefe, reine Freude empfunden haben, der die frohe Botschaft vom Vater verkündet und der in allem Fröhlichen und in allem Herben das Walten des himmlischen Vaters bezeugt? Im Willen des Vaters liebt Jesus die Menschen und ihr Leben, nicht bloß ihr Weinen, sondern auch ihr Lachen hat es ihm angetan.

Von demselben Vaterwillen gewinnt er auch ein inneres Verhältnis zu dem, was sich an Unrat und Schlamm auf dem Grunde des Menschentums absetzt. Er gewinnt auch ein Verhältnis zu seinen Kleinlichkeiten und Erbärmlichkeiten. Kein Auge sieht so scharf wie das seine den Jammer des allzu Menschlichen. „Ihr seid arg“, sagt er seinen Zuhörern; „Ihr seid boshaft“, herrscht er sie an; „Ihr seid ein falsches und ehebrecherisches Geschlecht“, so wirft er ihnen vor. Etwas wie eine innere geheime Abneigung gegen dieses verbogene und verzerrte Menschentum muss in seiner Seele gelebt haben, deswegen muss er es noch weiter ertragen. Aber er übt eben die Geduld, die Geduld des Ertragens und des Aushaltens. Er lässt das Unkraut wachsen bis zur Ernte. Einmal zog er durch Samaria, also jenes Gebiet in Palästina, das den Juden feindlich war. Und sie nahmen ihn nicht auf, sie gaben ihm nicht einmal für die Nacht eine Herberge. Da sagten die Jünger Jakobus und Johannes: „Herr, willst du, so werden wir Feuer auf dieses Dorf herabrufen.“ Jesus antwortete ihnen: „Ihr wisst nicht, wessen Geistes ihr seid. Der Menschensohn ist nicht gekommen, Seelen zu verderben, sondern zu retten.“ Im Willen des Vaters wurzelt Jesu königliche Überlegenheit über alle Verzerrungen des menschlichen Kulturlebens, über allen Zerklüftungen und Gegensätzen. Er steht jenseits aller politischen und wirtschaftlichen Kämpfe. Einmal trat einer aus der Volksmenge zu ihm und sagte: „Meister, sag meinem Bruder, er soll sein Erbe mit mir teilen.“ Da entgegnete er: „Mensch, wer hat mich zum Erbteiler über euch gesetzt?“

Wie steht Jesus zum Leben, meine lieben Freunde? Nichts von Weltmüdigkeit, nichts von Weltschmerz, nichts von Weltüberdruss und auch nichts von Weltflucht ist an ihm. Mit beiden Augen sieht er die Wirklichkeit, mit beiden Händen erfasst er sie und mit seinem ganzen Herzen bejaht er sie. Es gibt keine Wirklichkeit, die er gewalttätig hinwegleugnen möchte oder über die er hinwegsehen wollte. Jesus ist kein Träumer, er ist Realist, der vollen, ganzen Wirklichkeit zugewandt, ob Schatten oder Licht von ihr ausgeht. Und seine Hingabe an die Menschen und an die Dinge ist kein bloßer Gehorsam gegen Gott, der das Herz kalt lässt, nein, der Wille Gottes und die Dinge sind für ihn nichts Getrenntes. Der Wille Gottes ist vielmehr in den Dingen und durch die Dinge lebendig. Indem Jesus den Willen Gottes liebt, liebt er auch die Dinge aus ihren Wesenheiten heraus. Gerade weil für Jesus die Wirklichkeit nicht anders besteht als im Ausdruck des Vaterwillens, ist seine Liebe zu ihr von der Liebe des Vaters aufgenommen. Er gehört der Wirklichkeit, die ihn umgibt, nicht anders als dem Vater im Himmel. Und darum gibt er sich niemals restlos gefangen. Er ist stets überlegen über alle Wirklichkeiten, auch über alle Reize. Als der Satan ihm große Angebote macht, da sagt er: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.“ Er ist von einer wunderbaren inneren Gehaltenheit. Er ist eine Person, die eine selbstsichere Überlegenheit über alle Stimmungen und Empfindungen hat, und das alles verklärt und erhebt seine Lebensfreude: sein langes Fasten in der Wüste, seine durchwachten Nächte, sein armes Wanderleben, sein angestrengtes Predigen, seine Hingabe an die Armen und Elenden, die vornehme Art seiner Auseinandersetzung mit seinen Feinden, vor allen aber der Heroismus seines Lebens und Sterbens können nur aus einem Herzen verstanden werden, das sich selbst vollendet besitzt, aus einem Herzen, das nicht von den Dingen gelebt wird, sondern selbstmächtig in ihnen lebt. Jesus hat das Leben nicht geflohen, er war dem Leben nicht untertan. Er hat das Leben gemeistert.

Amen.

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