Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Christus und die Kirche (Teil 5)

31. August 2008

Christus und sein Reich der Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben gesehen, wie die Kirche ihren Ausgang nimmt von Jesus mit seiner Sendung und der Berufung der Menschen aus seinem Volke, wie die Kirche dann emporwächst, geleitet von der Hierarchie und getragen von der Kraft ihrer Dogmen. Aber wir haben noch nicht in das Innere der Kirche geschaut. Wir haben ihr Geheimnis noch nicht erkannt. Denn nicht die Hierarchie und nicht die Dogmen machen ihr großes Geheimnis aus, sondern was sie im Innersten bewegt und trägt, nämlich Gottes Gnade. Christus und sein Reich der Gnade. Was heißt Gnade? Gnade heißt teilhaftig werden der göttlichen Natur. Das ist der richtige Begriff von Gnade: teilhaftig werden der göttlichen Natur, über das Irdische, Natürliche hinausgehoben werden in einen anderen Bereich, den wir den übernatürlichen nennen.

Christus war der erste, der sich eine menschliche Natur angeeignet hatte und sie mit seiner Gnade erfüllt hatte. Und alle Menschen sollten wie er in der Gnade leben. Wir wissen, der Plan Gottes wurde von Menschen durchkreuzt. Durch die Ursünde und in ihrem Gefolge durch die Erbsünde haben die Menschen die Gnadenausstattung verloren. Und so musste eine Erlösung geschehen. Es musste ein Erlöser kommen, der die verlorene Gnade zurückbrachte. Das war unser Heiland Jesus Christus. „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Eingeborenen Sohn dahingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das Leben haben.“ Das Reich der Gnade, das ist das große Geheimnis der Kirche. Dass sie die Gnadenstätte, die Gnadenanstalt ist, die Gnadenkörperschaft, das macht ihr innerstes Geheimnis aus.

Die Kirche hat nicht nur ein menschliches, irdisches, nein, sie hat ein übermenschliches, ein gottmenschliches Dasein. Sie ist, wie der große Tübinger Theologe Johann Adam Möhler einmal erklärt hat, sie ist „der in der Zeit fortlebende Christus“. Genau das ist sie: der in der Zeit fortlebende Christus. Das ist ihr innerstes Geheimnis, das wir nicht schauen, aber an das wir glauben. „Ich glaube an die eine, heilige, katholische Kirche.“

Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese Wahrheit mit folgenden Worten ausgedrückt: „Indem Christus Anteil gab an seinem Geiste, hat er die Menschen in geheimnisvoller Weise gleichsam zu seinem Leibe gemacht. In diesem Leibe strömt Christi Leben auf die Gläubigen über, die durch die Sakramente auf verborgene und doch wirkliche Weise dem leidenden und verherrlichten Christus geeint werden.“ Wahrhaftig, so ist es. Die Menschen, die in die Kirche eintreten, erhalten durch den Geist Christi Anteil an seinem Leibe; sie werden zu Gliedern seines Leibes. Die Kirche ist nicht bloß Organisation, sie ist auch Organismus. Wir kennen den Organismus aus der Natur: Die Pflanze, das Tier, der Mensch, sie bestehen aus Billionen von Einzelteilen. Aber diese Billionen von Einzelteilen werden durch eine Kraft geeint, wie immer wir sie auch nennen mögen, eine Lebenskraft, beim Menschen nennen wir sie die Seele, die die Billionen von Teilen zusammenfügt zu einer Einheit. Über den Stoff kommt die Lebenskraft, und das nennen wir organisches Leben, Zusammenfassung der Vielheit durch eine höhere Kraft zur Einheit eines Lebensganzen.

Das geschieht in ähnlicher Weise auch durch die Lebenskraft des Gottessohnes. Auch er fügt uns zusammen zu einem Leibe. Er ist das Haupt, und wir sind seine Glieder. Der Leib Christi ist eine Einheit durch die Macht der Gnade, durch die Kraft des Heiligen Geistes. Gott wirkt in den Erlösten mit seiner Gnade. Wir sind teilhaftig der göttlichen Natur. Der Herold dieser Wahrheit ist der heilige Paulus. Er hat in seinen Briefen wiederholt die Wirklichkeit der Kirche als einen Leib, nämlich den Leib Christi, beschrieben. An die Epheser schreibt er: „Christus ist das Haupt der Kirche, er, der Erlöser seines Leibes. Wir sind Glieder seines Leibes, er ist das Haupt.“ An die Korinther schreibt er: „Wißt ihr nicht, dass ihr Glieder Christi seid, dass eure Leiber Glieder Christi sind?“ Und denkt an das, was sich daraus alles ergibt, wie ihr mit eurem Leibe umgehen müsst! „Wie der Leib eine Einheit bildet und viele Glieder hat, alle Glieder aber trotz ihrer Vielheit den einen Leib bilden, so ist es auch bei Christus. Durch seinen Heiligen Geist sind wir alle getauft zu einem Leibe. Ihr seid der Leib Christi und Glieder an ihm.“ Und wiederum im Brief an die Römer, der ja in gewisser Hinsicht den Gipfelpunkt der Briefe des Paulus darstellt, im Brief an die Römer heißt es: „Wir viele zusammen bilden einen Leib in Christus.“

Wir haben für diese Wahrheit nicht nur die Theologie des Paulus, wir haben ein Wort des Herrn selber, dass wir zu seinem Leibe gehören. Saulus, so hieß er ja damals noch, zog nach Damaskus, um die Christen zu ergreifen und gebunden nach Jerusalem zu bringen. Aber vor Damaskus kam ein Lichtschein über ihn. Er wurde zu Boden gefällt, er stürzte, sein Pferd bäumte sich auf, und eine Stimme fragte: „Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?“ Saulus fragte: „Herr, wer bist du?“ „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Ja, aber er hatte doch gar nicht Jesus verfolgt, er hatte doch die Christen verfolgt. Und doch sagt die Himmelsstimme: „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Jesus setzt sich also mit den Christen gleich. Sie bilden eine Einheit. „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Wer das Christentum verfolgt, der verfolgt Christus. „Das Haupt schreit auf, weil seine Glieder geschlagen werden“, sagt der heilige Augustinus zu dieser Stelle aus der Apostelgeschichte. Das Haupt schreit auf, weil seine Glieder, die Christen, geschlagen werden.

Die Lehre, dass wir der Leib Christi sind, dass die Kirche der Leib Christi ist, der von ihrem Haupte, nämlich von Christus, belebt wird, gibt uns erst das richtige Verständnis für die Kirche. Wenn wir nur an ihren äußeren Apparat denken, an die Hierarchie, an die Verwaltung und die Bürokratie, dann kommen wir nie hinter das Geheimnis der Kirche. Ohne die Belebung durch Gottes Geist, ohne die Impulse der Gnade, ohne das wirksame Eingreifen Gottes in die Seelen sind Bestand und Wirken der Kirche nicht zu erklären. Ach, meine Freunde, das Fortdauern der Kirche unter den unaufhörlichen Schlägen schon 2000 Jahre lang, der Neuaufbau nach den immer wieder erfolgten Zusammenbrüchen, das Wiedererstehen nach den Kahlschlägen, das alles ist ohne das Einwirken der göttlichen Gnade nicht zu erklären. Dass die Kirche lebt und wächst trotz des Verrates des Judas, trotz der Verleugnung des Petrus, trotz der Flucht so vieler Priester aus unserem Abendmahlssaale, trotz des Versagens so viele Bischöfe, das ist völlig unerklärlich, wenn nicht eine göttliche Kraft in ihr wäre.

Als ich Student der Theologie war, sprach ich einmal mit einem gläubigen, frommen, gelehrten Theologieprofessor, und er sagte zu mir: „Für mich ist einer der überzeugendsten Beweise für die göttliche Herkunft der Kirche, dass der Klerus sie noch nicht kaputtgekriegt hat.“ Ein trauriges Wort, aber leider nicht unwahr.

Die Bekehrung von Sündern, dass aus einem Saulus ein Paulus wird, dass aus dem Manichäer Augustinus der große Kirchenlehrer wird, dass jeden Tag Menschen aufstehen von ihrer Sünde und ihrer Schuld im Bußsakrament, dass sie sich losmachen von Unzucht, Haß und Lauheit, das ist nur zu erklären durch die Macht der siegreichen Gnade. Dass auch in unserer Zeit der großen Schwäche der Kirche, dass auch in unserer Zeit, wo alles dazu angetan ist, die Kirche zu schmähen, dass auch in unserer Zeit Menschen zur Kirche stoßen, konvertieren, hochstehende Menschen, wertvolle Menschen wie meinetwegen Dr. Ernst oder Christa Meves, das ist nicht zu erklären ohne die Wirksamkeit des Heiligen Geistes.

Die Fruchtbarkeit der Kirche an Heiligen, auch heute, an Männern und Frauen und an Kindern, die sich für Gott und die Menschen mühen und abarbeiten, das Auftreten und Wirken von Männern wie dem heiligen Pfarrer von Ars oder von Frauen wie der Mutter Teresa aus Albanien, das ist völlig unverständlich, wenn man vergisst, dass die Strahlen des göttlichen Lichtes diese Menschen erleuchten und dass die Kraft der göttlichen Gnade sie leitet und stärkt. Die Leiden und Opfer, die Menschen im Dienste Gottes und seiner Kirche auf sich nehmen, die unerhörten Anstrengungen und Beschwerden der Missionare – ich denke an meinen lieben Schulfreund Pater Longinus Schmidt. Er ist so alt wie ich, 82 Jahre. Aber er leitet mit 82 Jahren in Ecuador eine Pfarrei von 20.000 Seelen. Die Martern und die Qualen der Blutzeugen, die unaufhörlichen Überwindungen und die Verzichte der Bekenner, das alles ist unbegreiflich, wenn die menschliche Schwäche nicht durch göttliche Stärke ergänzt und erhoben würde.

Wie groß und ehrfurchtgebietend ist unsere Kirche dank der Macht der Gnade! Wie wunderbar durchpulst ist sie vom göttlichen Christusleben! Wie weitreichend ihre Grenze! Man hat, meine lieben Freunde, in den letzten Jahrzehnten versucht, die Abspaltungen von dieser Kirche und die nichtchristlichen Religionen zu Heilswegen Gottes zu erklären. Das ist völlig irrig, das ist völlig falsch! Es gibt nur einen einzigen Heilsweg, und den führt die Kirche. Das Wort bleibt gültig: „Außerhalb der Kirche ist kein Heil.“ Das andere Wort ist genauso gültig, das Wort von der alleinseligmachenden Kirche. Man muss es nur richtig verstehen. Wenn die Kirche identisch ist mit dem Leib Christi und die Zugehörigkeit zum Leib Christi der Weg zum Himmel ist, dann müssen alle Menschen mit diesem Leibe in Verbindung treten. Diese Verbindung kann freilich verschiedenartig sein. Voll in der Gemeinschaft der Kirche und damit auch voll im Leibe Christi sind nur jene Getauften, die in sichtbarem Verband mit Christus verbunden sind durch die Bande des Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und der kirchlichen Leitung. Nur wer getauft ist, die Dogmen ohne Ausnahme bejaht und sich der kirchlichen Hierarchie unterstellt, der ist voll im Leibe Christi, voll in der Gemeinschaft der Kirche.

Aber es gibt andere Weisen der Verbundenheit. Denken wir an die Katechumenen, an die Taufbewerber. Sie sind noch nicht getauft, sie haben also noch nicht die Verähnlichung mit Christus empfangen, welche die Taufe gewährt, aber sie haben schon den Glauben, und sie sehnen sich nach der vollen Gliedschaft der Kirche. Sie unterstellen sich der kirchlichen Obrigkeit. Die Katechumenen sind deswegen innig mit der Kirche verbunden. Die nichtkatholischen Getauften haben ebenfalls Verbindung mit der Kirche durch die Taufe und durch die Stücke des Glaubens, die sie aus der Trennung von der Kirche mitgenommen haben. Sie sind auch jetzt noch wirksam, ohne Frage. Also auch die nichtkatholischen Getauften stehen in einer Verbindung zur Kirche und damit auch zum Leibe Christi. Selbst die Ungetauften, die Nichtchristen sind nicht fern von der Kirche. Sofern sie ihrem Gewissen folgen, sind sie mit der Kirche in irgendeiner Weise verbunden, die allein Gott weiß, aber sie stehen nicht fern. „Die Ungetauften sind auf die Kirche hingeordnet“, erklärt das Zweite Vatikanische Konzil. Alle sollen sie in die Kirche eintreten, die ganze Menschheit ist berufen, zur Kirche zu gelangen, denn die Kirche ist das universale, d.h. das allgemeine, niemanden ausschließende Sakrament des Heiles. Unsere Kirche ist kein Partikel, unsere Kirche ist das Ganze. Deswegen nennen wir sie katholisch. Katholisch heißt über den ganzen Erdkreis verbreitet, auf den ganzen Erdkreis hingerichtet, weltweit.

Und nicht nur das. Die Kirche umfasst nicht nur diese Erde, sie reicht auch ins Jenseits hinein. Zu ihr gehören alle, die im Fegfeuer ihre letzte Schuld büßen, die gereinigt werden durch das Blut Christi. Zu ihr gehören alle, die im Himmel triumphieren, die es geschafft haben, die eingegangen sind in die Seligkeit Gottes. Sie alle gehören zur Kirche.

Meine lieben Freunde, die Kirche ist ein Reich, das die Erde umspannt und das ins Jenseits hineinreicht. Zu ihr gehören alle, die im Blute Jesu gereinigt sind. Wenn wir diese Tiefe der Kirche begreifen, dann verstehen wir auch ihre Leiden. Diese Leiden, also das Blut der Martyrer, die Kerker der Gefangenen, die Stricke, mit denen die irdische Macht die Kirche band, diese Leiden sind nichts anderes als das durch die Zeiten hindurch gehende Kreuz Christi. Das Kreuz Christi wächst durch die Jahrtausende, reckt sich über die Völker, und riesengroß ist ein blutender Leib daran: Christus in seiner großen Passion. Diese Passion setzt sich fort an seinem geheimnisvollen Leibe. Paulus schreibt deswegen: „Ich muss an meinem Körper, an meinem Leibe ergänzen, was an den Leiden Christi noch fehlt.“ Jetzt verstehen wir also unsere Leiden für die Kirche und in der Kirche. Jetzt verstehen wir aber auch den Sieg, von dem die Welt staunend sagt, dass die Kirche nie unterging, dass sie sich aus Trümmern immer wieder erhoben hat, dass sie über den gewaltigen Arius und die Hunnenheere gesiegt hat, dass der Bolschewismus und der Nationalsozialismus sie nicht ausgelöscht haben. Das ist nichts anderes als die Auferstehung aus dem Grabe, das ist nichts anderes als der Ostersieger Christus, der auch in seiner Kirche fortlebt. „Fürchte dich nicht, Kirche, ich bin bei dir alle Tage bis ans Ende der Welt.“

So verstehen wir die Kirche auch in ihrer unbeugsamen Sprache. Sie muss so sprechen, weil sie den Herrn vertritt, der gesagt hat: „Wer euch hört, hört mich.“ Die Kirche kann ihre Verkündigung nicht abschwächen, wie es die nichtkatholischen Religionsgemeinschaften tun, sie kann sie nicht abschwächen, sie muss unbeugsam sein, denn der ist bei ihr und in ihr, der gesagt hat: „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden.“ Außerhalb der Kirche ist kein Heil. Die Kirche ist die alleinseligmachende. Die Kirche ist der Weg, der einzige Weg, der zu Gott führt, ob die Menschen es wissen oder nicht. Sie ist die Straße, auf der die Jahrtausende zu Gott ziehen.

Amen.

 

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