Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Der Weg zum Heil (Teil 6)

18. Februar 2007

Die Tugend der Vollkommenheit erstreben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Unser Heiland mahnt uns: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ Diese Mahnung haben die Apostel aufgenommen. Paulus ruft uns zu: „Seid vollkommen!“ und Petrus mahnt: „Seid heilig!“ Wir sind aufgerufen, vollkommen zu werden. Was heißt das: vollkommen sein? Vollkommen sein heißt, die Tugenden, die wir nach Gottes Willen besitzen sollen, in einem erheblichen Maße zu besitzen. Wer vollkommen ist, besitzt alle Tugenden, die Gott an ihm sehen will. Er ist Meister im religiösen, im sittlichen, im aszetischen Leben geworden. Wir verehren vollkommene Künstler. Denken wir etwa an große Meister auf den Instrumenten, auf der Geige, auf dem Klavier. Wie entzückt sind wir, wenn wir einen solchen Künstler erleben! So sollen auch wir vollkommene Christen werden, Christen, die es in ihrem Christenleben zur Meisterschaft gebracht haben. Wir sollen nicht Anfänger und Stümper bleiben, nein, wir sollen den Anfang hinter uns lassen und fortschreiten zur Meisterschaft. Wir sind dazu berufen. „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ Wir wissen, wir haben es noch nicht erlangt, aber wir wollen auf dem Wege sein. Wir wollen zusehen, dass wir es ergreifen.

Die Vollkommenheit besteht in der Liebe. Die Liebe ist eben die Zusammenfassung aller Gebote. Der Herr hat es ja eindeutig gesagt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deinem ganzen Gemüte, aus allen deinen Kräften und deinen Nächsten wie dich selbst! An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ Das heißt, wer die Liebe im wirklichen, vollkommenen Maße besitzt, der erfüllt alle anderen Gebote sowieso; denn die Liebe verbietet ihm, unrecht zu tun. Die Liebe hält ihn an, recht zu tun und den Menschen Güte, Geduld und Erbarmen zu beweisen. Die Liebe schließt aus dem Herzen alles aus, was schwere Sünde, was lässliche Sünde, was Unvollkommenheit ist. Wir sollen nicht nur die schwere Sünde meiden, nein, wir sollen auch den Kampf gegen die lässliche Sünde energisch führen, und wir sollen uns bemühen, die Unvollkommenheiten, die keine Sünden sind, aber eben Schwächen, wir sollen uns bemühen, die Unvollkommenheiten zu entfernen, um zur vollkommenen Liebe zu gelangen.

Es gibt Menschen, die haben nicht nur einen niederen Grad der Liebe erlangt, sondern sie haben den höchsten, den heroischen Grad der Liebe gewonnen. Wir nennen diese Menschen Heilige. An ihnen können wir ablesen: Sie konnten es, also können es auch wir. „Seid meine Nachahmer, wie ich der Nachahmer Christi bin“, mahnt der Apostel Paulus, und so sagen alle Heiligen: Seid unsere Nachahmer, wie wir Christus nachgeahmt haben.

Der Weg zu diesem Ziel ist die Erfüllung unserer beruflichen und unserer christlichen Aufgabe. Ein Priester besuchte einmal eine Fabrik. An einer Maschine traf er einen jungen Menschen mit hellen Augen. Er sagte zu ihm: „Willst du nicht heilig werden?“ „Das ist doch ausgeschlossen, wie soll ich das können?“ „Du kannst es. Du brauchst nur deine Arbeit so zu verrichten, dass sie im Aufblick zu Gott und im Dienst an den Menschen geschieht. Dann wirst du heilig.“ So ist es, meine lieben Freunde, es geht in jedem Stande. Ob Priester oder Laie, ob Mann oder Frau, ob Kind oder Greis, ein jeder Mensch besitzt die Möglichkeit, vollkommen zu werden. Allen steht der Weg zur Heiligkeit offen.

Für das Erreichen des Zieles stehen uns göttliche und menschliche Kräfte zur Verfügung. Göttliche Kräfte! Unter ihnen ragt hervor das Wort Gottes. Wir haben Gottes Offenbarung, wir haben seine Wortoffenbarung im Alten und Neuen Testament. Es ist die Wahrheit. Andere Religionen haben Splitter der Wahrheit, das geben wir zu. Andere Religionen haben Elemente der Wahrheit, das sei eingeräumt. Aber niemand hat die Fülle und die Klarheit der Wahrheit wie wir, wie wir sie von Gott selbst in seinem Christus empfangen haben. Das ist der himmelweite, nicht überbrückbare Unterschied zwischen allen Religionen und dem christlichen Glauben. Gottes Wahrheit ist Licht. Wir wissen den Weg, wir sehen den Weg, wir kennen den Weg, wir wissen, was wir tun müssen. Gottes Verheißungen, Gottes Drohungen, Gottes Gebote, Gottes Verbote: das ist der Weg, den wir gehen müssen. Das ist der Weg, auf den Gott uns ruft. Nur müssen wir auf Gottes Wort hören; wir müssen seine Wahrheit uns aneignen; wir müssen nach seiner Wahrheit leben.

Ich bin immer glücklich, meine lieben Freunde, wenn wir Priester an jedem Sonntag den sehr, sehr langen Psalm 118 beten dürfen. Dieser Psalm 118 wiederholt hundertemal das sehnsüchtige Verlangen: „Laß mich deinen Geboten folgen. Laß dein Wort mein Licht sein. Laß deine Gebote mein Entzücken sein.“ So muss es sein. „Zwei Dinge sind es, die wir in unserem Leben brauchen: Speise und Licht“, schreibt einmal der Verfasser des Buches von der Nachfolge Christi. „Darum hast du uns Schwachen deinen Leib zur Erquickung und dein Wort zur Leuchte meinen Füßen gegeben.“ So ist es: der Leib Jesu zur Erquickung und das Wort Jesu als Leuchte für unsere Füße.

Die zweite göttliche Kraft, die uns zuteil wird, ist die Gnade. Wir gebrauchen das Wort oft. Wir müssen uns immer wieder klar werden, was es bedeutet. Was ist denn Gnade? Gnade ist jede Gabe Gottes, die er uns zu unserem Heile verleiht. Da wissen wir, was Gnade ist. Gnade ist jede Gabe Gottes, die er uns zu unserem Heile verleiht. Dabei unterscheiden wir die heiligmachende und die helfende Gnade. Diese Gnade ist uns notwendig. Ohne seine Gnade können wir überhaupt nichts Übernatürliches tun. Der Herr sagt es eindeutig im Johannesevangelium: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“, nämlich nichts übernatürlich Nützliches, nichts übernatürlich Heilendes. Ohne Gnade können wir nicht vollkommen und nicht heilig werden.

Die Gnade schöpfen wir aus verschiedenen Quellen. Im Gebet fließt die Gnade. Wenn wir richtig beten, wenn wir andächtig beten, wenn wir ergeben in Gottes Willen beten, dann fließt die Gnade in unsere Seele. Wenn wir dem heiligen Messopfer beiwohnen, fromm beiwohnen, innerlich beiwohnen, dann schickt uns Gott seine Gnade. Wenn wir die Sakramente empfangen, etwa das Bußsakrament, dann fließt die Gnade Gottes über uns. Gottes Sache ist es, die Gnade zu verleihen, unsere Sache ist es, sie aufzunehmen. Unser Herz muss bereit sein. Es muss geöffnet sein. Wir müssen es uns gefallen lassen, dass Gott uns retten will. Also müssen wir unser Herz bereiten. Das sind die göttlichen Kräfte: Gottes Licht, Gottes Wort und Gottes Gnade, die uns zuteil werden.

Aber das genügt nicht. Ein frommer Mensch betete einmal zu Gott: „Gib mir Kraft, gib mir Stärke!“ Da hörte er die Antwort von Gott: „Gib dir Mühe!“ Eines ist es, Gottes Gnade zu empfangen, das andere ist es, in der Gnade zu wirken, in der Gnade zu arbeiten, sich zu mühen. Zum Austeilen der Gnade Gottes muss die eigene Anstrengung kommen. Der Herr hat es uns eindeutig gesagt: „Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!“ Drei Dinge: Er verleugne sich selbst, er nehme sein Kreuz auf sich, er folge mir nach. Was heißt das: Selbstverleugnung? Selbstverleugnung besagt, dass wir zu eigenen Wünschen, Plänen, Programmen nein sagen können müssen. Wir müssen oft das, was wir gerne tun möchten, fallen lassen, um höheren Zielen zu folgen. Wir müssen um Gottes willen den eigenen Willen oft aufgeben, um dem Willen Gottes zu folgen. Man muss das eigene Ich opfern, wenn man Jesus nachfolgen will. Das beginnt in Kleinigkeiten und kann zu heroischer Gottes- und Nächstenliebe führen. Eigene Wünsche, eigene Liebhabereien, eigene Pläne drangeben, um Größeres, um Wertvolleres, um Höheres zu erreichen. Das ist also die Selbstverleugnung: der Verzicht auf Geringerwertiges um des Höherwertigen willen.

Die zweite Aufforderung lautet: das Kreuz tragen. „Wer mir nachfolgen will, der trage sein Kreuz, der nehme sein Kreuz auf sich.“ Kreuze bleiben keinem einzigen von uns erspart. Es leidet die ganze Menschheit, es leidet auch jeder einzelne. Aber es kommt darauf an, wie wir leiden. Dass wir leiden müssen, das ist ausgemacht, aber an uns liegt es, wie wir leiden. Also entweder geduldig, ergeben, willig oder unwillig, mürrisch und ungeduldig. Gehobelt wird in jedem Falle, aber es kommt darauf an, wie wir den Hobel führen. Tragen müssen wir immer, aber an uns ist es, ob das Tragen uns zum Heile oder zum Unheil gereicht. „Christ, flieh doch nicht das Kreuz, du musst gekreuzigt sein, du gehst sonst nimmermehr ins Himmelreich hinein.“ So hat unser schlesischer Dichter Angelus Silesius gedichtet. Christ, flieh doch nicht das Kreuz, du musst gekreuzigt sein, du gehst sonst nimmermehr ins Himmelreich hinein. So ist es also an uns, das Kreuz zu tragen und nicht abzuwerfen. „Wenn du das Kreuz gewaltsam abwirfst, wirst du gewiß ein anderes finden, und das ist vielleicht schwerer als das, welches du abgeworfen hast.“ So hat es ehern hingemeißelt der Verfasser des Buches von der Nachfolge Christi. Wenn du das Kreuz gewaltsam abwirfst, wirst du gewiß ein anderes finden, und das ist vielleicht schwerer als das, welches du abgeworfen hast.

Die dritte Aufforderung lautet: Folge mir nach! Wir sollen Christus nachgehen. Das heißt also, die Wege gehen, die er gegangen ist und die er uns weist. Wir sollen uns von ihm führen lassen. Das ist gar nicht sehr schwer. Wenn wir ratlos sind, wenn wir uns fragen: Was soll ich denn tun? Wie soll ich denn gehen? Soll ich nach rechts, soll ich nach links gehen?, dann haben wir ein einfaches Mittel, um uns zu orientieren. Wir brauchen nur zu fragen: Was würde Jesus an meiner Stelle tun? Was verlangt Jesus an diesem Punkte von mir? Dann wissen wir in aller Regel sogleich, wie wir gehen sollen. Gewöhnlich, nicht immer, aber gewöhnlich ist der schwerere Weg der von Gott gewollte. Denn wir Menschen neigen zur Bequemlichkeit. Das ist ja der Erfolg, meine lieben Freunde, das ist ja der Erfolg der so genannten Reformen in unserer Kirche, weil sie bequem sind! Deswegen laufen die Leute ihnen nach. Und das ist der falsche Weg, denn der falsche Weg ist bequem, und der richtige Weg ist steil. Er führt bergan. Also die Nachfolge Christi lehrt uns den Weg mit Christus zu gehen, den Weg der Ausdauer, den Weg des Eifers, den Weg der täglichen Selbstüberwindung.

Es ist nützlich, meine lieben Freunde, sich eine Tagesordnung beizulegen, um diesen Weg gehen zu können. Wenn wir am Morgen erwachen, dann soll das erste, was wir tun, der Blick zum Himmel sein. Zuerst sollen wir uns mit dem Kreuze bezeichnen, um zu zeigen, dass wir dem Gekreuzigten zugehören und dass auch dieser Tag eine Station unseres Kreuzweges sein wird. Wir sollen die gute Meinung machen: O Gott, laß mich diesen Tag zu deiner Ehre, zum Heile meiner Seele, zum Segen für meine Mitmenschen verbringen. Das ist die gute Meinung. Laß mich diesen Tag zu deiner Ehre, zum Heile meiner Seele, zum Segen für meine Mitmenschen verbringen.

Manche von Ihnen haben das Glück und auch die Kraft und den Willen, am Morgen das Messopfer zu besuchen, das Höchste, was man tun kann, das Beglückendste, was wir tun können. Im Messopfer lernen wir nämlich uns selbst zu opfern. Das ist die Schule unseres Opfergeistes, das Messopfer. Hier geht Christus durch das Opfer zum Vater. Wenn wir mit ihm gehen wollen, dann geht es nur als Opfernde. Wie soll einer mit dem sich opfernden Christus zusammenkommen, wenn er nicht opfern will? Also das Messopfer lehrt uns, unser Tageswerk dem Herrn zum Opfer zu bringen. Wer nicht zum Messopfer gehen kann, der soll bei Tage die Stationen des Messopfers abschreiten. Er soll die Lebensmesse, wenn ich so sagen darf, feiern, also den Gebetsgottesdienst, indem er eben betet, bei Tage sich immer wieder an Gott erinnert, die Tischgebete verrichtet und Stoßgebete zum Himmel schickt. Er soll dann auch den Lehrgottesdienst halten, indem er wenigstens kurz ein gutes Buch oder die Heilige Schrift zur Hand nimmt, um sich über Gottes Wort zu orientieren. Er soll die Opferung vollziehen in der schweren Berufsarbeit, in der enttäuschenden, in der manchmal misslingenden Berufsarbeit. Er soll den Opferdienst vollziehen im Dienst am Nächsten, in dem schweren Dienst am Nächsten und – und! – im freiwillig gewählten Verzicht – im freiwillig gewählten Verzicht. Dann schließlich soll er die Wandlung auch an sich erfahren, nämlich das Umgewandeltwerden in Christus.

Mir erzählte einmal ein Kartäuser, wie ein junger Mann in das Kartäuserkloster eintreten wollte. Der Kartäuserprior fragte ihn: „Was stellen Sie sich so vor hier?“ „Ja, ich möchte ein guter Kartäuser werden.“ Da sagte ihm der Prior: „Sie sollen Christus werden!“ Er sollte also umgewandelt werden in diesem Kloster in Christus. Und das ist ja irgendwie unser aller Aufgabe: Umgewandelt werden in Christus. Das letzte, was wir am Tage vollziehen wollen, ist die Kommunion, das heißt die Vereinigung mit Christus. Sie vollzieht sich immer, wenn wir in Liebe an Christus denken, und besonders natürlich, wenn wir ihn besuchen in seinem Tabernakel.

Und schließlich am Abend sollen wir danken und bitten, danken für das Tagewerk, das uns gelungen ist, bitten für das, was uns misslungen ist, um Verzeihung unserer Sünden und um eine gute Ruhe flehen. Noctem quietam et finem perfectum concedat nobis dominus omnipotens. So beten wir Priester jeden Abend. Eine ruhige Nacht und ein glückliches Ende möge uns der Herr verleihen!

Wenn wir so leben, meine lieben Freunde, dann sind wir auf dem rechten Wege, dann sind wir auf dem Weg zum Himmel. „In den Himmel will ich kommen, das hab ich mir vorgenommen. Mag es kosten, was es will: für den Himmel ist nichts zu viel. Wenn du nur ernstlich willst, so ist der Himmel dein. Wie selig und wie glücklich kann auch der Ärmste sein!“

Amen.

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