Predigtreihe: Leben in christlicher Gemeinschaft (Teil 6)
19. November 2006
Pflichten gegen sich selbst
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir sind Kinder Gottes und zum Dienste Gottes verpflichtet. Wir sind Brüder untereinander und Schwestern und zum Dienste untereinander verpflichtet. Wir haben aber auch eine Verpflichtung uns selber gegenüber. Wir sollen nämlich das Bild in uns ausprägen, das Gott in uns sehen will. Wir sollen so werden, wie Gott will, dass wir sein sollen. Das ist die Aufgabe, die wir uns gegenüber haben.
Wir stehen als Menschen in einer dreifachen Seinsschicht. Wir haben das körperliche Sein gemeinsam mit anderen Wesen, auch mit den Tieren, das Wahrnehmen, das Erkennen. Wir haben die geistige Seinsschicht, Verstand und Willen, das haben wir mit den Engeln gemeinsam. Und wir haben schließlich Anteil am göttlichen Leben durch die heiligmachende Gnade, also eine unglaubliche Verbindung auch mit Gott. Dieses dreifache Leben ist übereinander geschichtet. Das körperliche Leben ist zweifellos die unterste Schicht. Darüber erhebt sich die geistige Schicht und noch darüber das übernatürliche Leben. Die Seele fasst alle diese drei Schichten zusammen. Sie trägt den Leib, sie lebt das geistige Leben, und sie ist auch die Stelle, wo das göttliche Leben uns durchflutet. Gott will, dass wir diese drei Seinsschichten zu einem geordneten Ganzen machen. Unser inneres Leben, unser ganzes Leben soll nicht ein Chaos sein, sondern es soll ein wohlgeordnetes Werk sein, ein Werk voll Harmonie und voll Ordnung. Ordnung aber heißt immer Unterordnung, Überordnung und Einordnung. Wo Ordnung ist, da muss das Niedere dem Höheren dienen und jedes seinem Rang gemäß sich einfügen. Das niederste Leben ist das körperliche, darüber erhebt sich das geistige Leben, und das höchste ist das Leben der Gnade.
Dieses Leben der Gnade muss uns vor allem anderen wert sein. Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden nimmt an seinem göttlichen Leben? Gott hat den Menschen so gedacht, dass er nur im göttlichen Leben, in der heiligmachenden Gnade, vollendet wird. Das geistige Leben ist unser Erkennen und Wollen; es muss auch im Dienste des Gnadenlebens stehen. Und selbst das körperliche Leben muss in diesem Dienste stehen, denn erst dann ist unser Inneres wohlgeordnet, ein Reich, in dem der begnadete Mensch gewissermaßen ein König ist.
Dieses Ideal des vollendeten, des vollkommenen Lebens hat uns Christus vorgelebt. Von ihm heißt es in der Heiligen Schrift: „Er nahm zu an Alter, an Weisheit und an Gnade bei Gott und den Menschen.“ Ja, Christus war ein voller und ganzer Mensch. Er hat seinen Körper entfaltet. Er ist groß und stark geworden, so dass er das Zimmererhandwerk, ein schweres Handwerk, meistern konnte. Und so soll auch unser körperliches Leben sich in Gesundheit und Kraft entfalten. Was nützt es, wenn der Kopf gescheit ist, aber der Körper seinen Dienst versagt? Christus nahm zu an Weisheit. Er hat sich auch geistig entfaltet; er hat dazugelernt. Kraft seiner menschlichen Natur hat er an Erkenntnis und an Erfahrung gewonnen. So sollen auch wir unseren Geist entwickeln und ausbilden, den Verstand schärfen und den Willen stärken. Christus nahm zu an Gnade. Jawohl, als Mensch hat er einen Zuwachs an Gnade erlebt. Er ist von einem Gnadenstande in den anderen immer mehr hineingewachsen, und das geschaffene Gnadenleben hat sich in ihm in reicher Fülle entfaltet. So soll auch in uns die Gnade wachsen, so soll auch in uns die Gnade zunehmen. So sollen wir einen Gnadenstand erreichen, wie ihn die Vollendeten gewonnen haben.
Leider ist ein solches Idealbild des Menschen selten. Wir sehen zu viele, allzu viele Zerrbilder des Menschen, dass der eine sich nur im körperlichen Bereich ausbildet und das Geistige beiseite lässt, dass ein anderer nur im Geiste lebt und den Körper vernachlässigt. Und schließlich gibt es auch das Zerrbild, dass jemand nur in der Religion leben will und darüber seine irdischen Pflichten versäumt.
Der rein sinnenhafte Mensch, der also ganz und gar dem Körperlichen lebt, der auf das Geistige und auf das Göttliche keinen Wert legt, der nur nach Kraft, Genuß und Macht strebt, das ist ein Zerrbild des Menschen. Es gibt ja den Kraftmenschen, dem Körperkraft alles ist. Ich fürchte – ich fürchte! – dass manche Sportler eben nur diesem Kraftmenschen nachstreben, dass sie nur Wert darauf legen, den Körper auszubilden, ihn behend und schön zu machen, ihm Kraft zu geben, dass sie darüber aber den Geist vernachlässigen und das Göttliche versäumen.
Ein weiteres Zerrbild ist der Geldmensch, dem alles daran liegt, Schätze aufzuhäufen, der nur Sorge hat, sie nicht zu verlieren und der nicht an den Geist und an Gott denkt. Das dritte Zerrbild ist der Sinnenmensch, der nur dem Genuß lebt. Ihn kümmert nicht der Dienst am Nächsten oder an Gott, sondern er strebt immer nur nach neuen Genüssen. Er fährt auf die Malediven, obwohl dort die Christen verfolgt werden. Solche Menschen sind im Innersten unzufrieden. Sie empfinden es, dass das nicht der ganze Mensch ist. Sie spüren, dass ihnen etwas fehlt und dass sie leer und hohl sind.
Es gibt aber auch den einseitigen Geistesmenschen. Wir kennen vielleicht den Typ, der nur dem Verstande dient, der kein Herz hat und kein Gemüt und vielleicht auch keinen Willen, sondern nur einen scharfen, einen ausgeprägten Verstand, berechnend und lebensfremd. Der Gemütsmensch ist ebenfalls ein Zerrbild des Menschen, der eben ein weicher, ein weichlicher Mensch ist, ein Schwächling, der aus Angst vor dem harten Lebenskampf sich hineinflüchtet in irgendwelche Nischen, und ebenso der Willensmensch, der zwar voll geistiger Kraft ist, der herrschen will, aber der darüber das Herz und das Gemüt versäumt. Nein, Verstand, Gemüt und Willen sollen in uns zusammenklingen. Nur so entsteht der harmonische Mensch.
Auch der übernatürliche Mensch kann zu einem Zerrbild werden, kann seine Ausbildung, seine allseitige Ausbildung versäumen. Auch im Übernatürlichen gibt es einseitige Menschen: der Betbruder, die Betschwester, die aus Frömmigkeit ihre natürlichen Pflichten und Aufgaben versäumen. Sie meinen, sie bräuchten nur Gnadenschätze zu sammeln und diesen Reichtum zu mehren, sie könnten alles erreichen durch Gebetsübungen, die sie häufen, als ob nicht auch die Pflichterfüllung im Beruf ein gottgegebener Ruf wäre, ein gottgegebener Dienst. Der Finsterling ist ebenfalls ein Zerrbild des übernatürlichen Menschen, der nur überall die gefallene Natur sieht und das Gute im Menschen übersieht, der die Frömmigkeit aufgehen lässt in der Verneinung der Natur und des Lebens und der so zum Sonderling wird. Aszese und Beherrschung sind notwendig, sind unbedingt notwendig, aber alle unerleuchtete Einseitigkeit ist von Übel.
Und dann gibt es noch den Wolkenwandler, einen Menschen, der im religiösen Genuß schwelgen möchte. Er sucht sich dem harten, nüchternen Werktag zu entziehen und will nur in einer unzugänglichen Klause das Göttliche genießen. Er meint, dass Gott alles schon allein tut und dass er selbst keinen Kampf und keine Arbeit zu leisten brauche. Nein, so ist es nicht. Gott will, dass wir im Übernatürlichen leben, aber dass wir mit beiden Füßen auf der Erde stehen und hier den uns auferlegten Dienst verrichten.
Der Dichter hat einmal ein schönes Wort geprägt, das für uns alle gilt, nämlich: „Ein jeder trägt ein Bild dessen, was er werden soll. Solange das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.“ Gott hat für jeden von uns ein Ideal aufgestellt, das wir erreichen sollen, ein persönliches Ideal, das wir mit unserem Streben und mit unserem Kämpfen und Ringen nach Möglichkeit erreichen sollen. Dieses Ideal müssen wir erkennen und lieben. Wir müssen dieses Ideal uns vor die Seele stellen. Gott will, dass wir eine harmonisch ausgebildete Persönlichkeit werden. „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Wir sollen also uns ausbilden, so dass wir, soweit es dem Geschöpf möglich ist, dem Vater im Himmel ähnlich werden. Denn wir haben eine hohe Würde. Uns ist im Priesterseminar immer wieder gesagt worden: Wer hoch von sich denkt, der strebt auch nach Hohem; wer niedrig von sich denkt, der strebt nur nach Niedrigem. Wir müssen also hoch von uns denken, denn wir haben eine Würde. „Du hast ihn nur wenig unter die Engel gestellt“, heißt es im 8. Psalm vom Menschen, „und ihn mit Glanz und Hoheit gekrönt.“ „Du hast ihn nur wenig unter die Engel gestellt und ihn mit Glanz und Hoheit gekrönt.“ Und der Apostel Petrus schreibt in seinem Briefe: „Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk.“ Das sagt er zu den Christgläubigen. Manche wenden das auf die Priester an, das stimmt aber gar nicht. Das gilt für alle Getauften. Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk. Und der Apostel Paulus belehrt uns: „Ihr seid um teuren Preis erkauft, verherrlicht und traget Gott in eurem Leibe.“ Wahrhaftig, ein höheres Lösegeld konnte niemand bezahlen als unser Herr Jesus Christus. Da heißt es also mit seiner Selbstschätzung ernst machen, hoch von sich denken und nach dem Hohen streben. „Sursum corda“ hören wir in jeder heiligen Messe – empor die Herzen! Sich Großes zutrauen. Ohne eine hochherzige Gesinnung wird nie etwas Großes geleistet. Da muss ich selbst Friedrich Nietzsche recht geben, der einmal uns zuruft: „Wirf den Helden in deiner Seele nicht weg!“ Wahrhaftig, ein ernster Aufruf. Wirf den Helden in deiner Seele nicht weg! Nicht eine Kaninchenseele in sich tragen, die immer nur mit dem Geringsten zufrieden ist, nein, sondern nach Großem streben, wie Gott es von uns will, und um dieses Ideal ringen. Wir alle wissen, wie weit wir davon entfernt sind. Wir alle wissen, dass wir nur durch zähe Ausdauer dieses Ideal auch nur annähernd erreichen können, aber wir müssen darum ringen, denn das ist der Wille Gottes: unsere Heiligung.
Dieses Ringen um das Ideal hat zwei Seiten. Erstens, wir müssen das Fehlerhafte in uns unterbinden. Das heißt natürlich zuerst Überwindung der Todsünde, aber auch nach Möglichkeit Beseitigung der lässlichen Sünde. Und wenn man noch weiter geht, mögliche Freiheit von Unvollkommenheiten. Danach sollen wir streben, planmäßig den Kampf mit dem Bösen aufnehmen, zuerst den Hauptfehler bekämpfen und nicht nachlassen, bis er besiegt ist. Dann die anderen Fehler angehen, einen nach dem anderen. „Wenn wir jedes Jahr nur einen Fehler ablegen würden“, so steht in der Nachfolge Christi, „wären wir bald vollkommene Menschen.“ Aber wir legen eben in keinem Jahr einen Fehler ab. Das ist es nämlich. Wenn wir jedes Jahr nur einen Fehler ablegen würden, wären wir bald vollkommene Menschen.
Die zweite Aufgabe lautet: das Gute in uns fördern, also nach Tugenden streben. Das Gute in uns ausbauen, aufbauen, um jene Tugenden uns bemühen, die uns am meisten fehlen. „Das Leben ist ein leerer Krug, du hast ihn anzufüllen, und was du dir gesammelt hast, wird dich im Jenseits stillen.“ Ja wahrhaftig, so ist es. Das Leben ist ein leerer Krug, du hast ihn anzufüllen, und was du dir gesammelt hast, wird dich im Jenseits stillen. Das heißt eben fortwährend ringen um die uns fehlenden Tugenden. „In dem Maße wirst du im Guten voranschreiten, als du dir selbst Gewalt antust“, steht wiederum in dem kostbaren Buch von der Nachfolge Christi. In dem Maße wirst du im Guten voranschreiten, als du dir selbst Gewalt antust. Also keine Zeit vertändeln, stets an das Ziel denken. Die Herrschaft über den Augenblick ist die Herrschaft über das Leben. Es kostet viel Kleinarbeit und Gebet, um zu einer vollendeten Persönlichkeit zu werden.
Aber wir sind ja nicht allein. Gott steht uns bei mit seiner Gnade, mit seinem Licht, mit seiner Kraft. Gott lässt uns nicht zugrunde gehen. Alles, was er in unser Leben einfügt, alles, was er uns schickt, alles, was er zulässt, will Hammer und Meißel sein, um unser Idealbild, das Christusbild in uns auszugestalten. Wir haben Menschen um uns, die uns bei dieser Herausbildung des Ideals helfen können. Ich habe immer gesagt: Man kann von jedem Menschen etwas lernen, von dem einen, wie man es machen soll, von dem anderen, wie man es nicht machen soll. Aber lernen kann man von jedem Menschen etwas. Es gibt viele Menschen, die besser sind als wir, denen wir absehen können, wie wir werden sollen und wie wir werden können. Wir haben den Ruf des Herrn gehört: „Folge mir nach!“ Und so wollen wir auch unserem Herrn und Meister nachfolgen. Wer sich dem Herrn verbunden hat, der ist verpflichtet auf seine Nachfolge. Er führt uns auf den Weg der Höhe. Er sucht uns durch Schläge, aber auch durch Freuden dem Ziele entgegenzuführen. Und wenn es so sein sollte, Gott sei es geklagt, dass wir in diesem Leben das Ideal nicht erreichen, dann müssen wir im jenseitigen Leben schmerzhaft geläutert werden. Die Peinen des Fegefeuers sind nach dem Urteil aller Heiligen groß. Im Buch von der Nachfolge Christi steht sogar der Satz, dass eine Stunde des Fegefeuers schmerzhafter ist als Jahrhunderte der Leiden auf dieser Welt. Das ist eine Meinung, eine persönliche Meinung, aber die Meinung eines Mannes, der mit Gott gewandert ist.
Deswegen wollen wir keine Zeit verlieren und die Bekehrung nicht aufschieben und die Reinigung nicht ins Jenseits verlegen, sondern hier und jetzt wollen wir dem Herrn folgen. „Folge mir nach“, bis wir ihn in der Herrlichkeit schauen dürfen.
Amen.