Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Evangelien – das Wort Gottes (Teil 4)

18. Juli 2004

Über eine unhistorisch-skeptische Theologie

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Etwa 500 Jahre vor Christi Erscheinen lebte der griechische Philosoph Parmenides. Die einzige Kunde, die wir von ihm haben, stammt von Simplikios, der wiederum 500 Jahre nach Christus lebte. Das, was Simplikios über Parmenides berichtete, ist das einzige, was wir von diesem wissen, vor allem über das Lehrgedicht über die Natur, das Parmenides verfasst hat. Und doch bezweifelt kein Altphilologe, dass Parmenides gelebt hat, dass er das Lehrgedicht über die Natur verfasst hat und dass Simplikios wahrheitsgetreu über ihn berichtet. 1000 Jahre trennen Simplikios von Parmenides, und dennoch sind wir überzeugt, dass er die Wahrheit über ihn berichtet. Die Evangelien sind fast noch zu Lebzeiten des Herrn geschrieben worden, wenige Jahre, wenige Jahrzehnte, nachdem er in den Himmel aufgefahren ist. Sie sind also viel näher an den Ereignissen als Simplikios gegenüber Parmenides. Deswegen müssen wir die Evangelien ernst nehmen.

Der Kardinal Ratzinger hat das schöne Wort gesprochen: „Der Jesus der Evangelien ist der einzig wirkliche Jesus.“ Ein treffliches Wort! Der Jesus der Evangelien ist der einzig wirkliche Jesus. Nicht, den missratene Neutestamentler aus den Evangelien herausdestillieren wollen, ist der Jesusder Geschichte, sondern der Jesus, wie er uns in Matthäus, Markus, Lukas und Johannes entgegentritt. Der Jesus der Evangelien ist der einzig wirkliche Jesus.

Wenn Sie aber unsere Theologiestudenten hören, dann vernehmen Sie ganz andere Dinge. Vor einiger Zeit besuchte mich ein Theologiestudent und sagte: „Mein Lehrer im Neuen Testament glaubt nicht an die Auferstehung Jesu.“ Ich wiederhole diesen Satz: „Mein Lehrer im Neuen Testament glaubt nicht an die Auferstehung Jesu.“ Er soll die anderen im Neuen Testament unterrichten, glaubt aber nicht an die Auferstehung Jesu. In den Vorlesungen und Seminarien bekommen die Studenten die angeblich gesicherten Ergebnisse der neutestamentlichen Wissenschaft vorgelegt. Wenn sie sich aber dann in der Literatur umsehen, wenn sie Bücher lesen, verschiedene Bücher, dann sehen sie, dass andere Gelehrte genau das Gegenteil von dem sagen, was sie in Vorlesung und Seminar gehört haben. Mit den gesicherten Ergebnissen der Wissenschaft ist es also nicht so weit her.

Die Forscher sind sich immer weniger einig über das, was Jesus gesagt und getan hat. Es gibt so viele konkurrierende Theorien und so wenige konkrete, gesicherte Ergebnisse. Wir wissen, dass Paulus vierzehn Briefe zugeschrieben werden, aber viele neutestamentliche Forscher behaupten, nur sieben Briefe würden tatsächlich von ihm stammen, die anderen sieben wären von anderen Verfassern. Den Studenten wird als gesicherte – als gesicherte! – Lehre vorgetragen die sogenannte Zweiquellentheorie. Das heißt, Matthäus und Lukas haben, als sie ihr Evangelium schrieben, angeblich zwei Quellen benutzt, nämlich das Markusevangelium und eine Logienquelle, eine Sammlung von Worten Jesu. Englische und amerikanische Forscher sind ganz vom Gegenteil überzeugt. Sie halten daran fest, obwohl sie keine Katholiken sind, dass das älteste Evangelium das von Matthäus ist.

Im Markusevangelium wird von dem blinden Bettler berichtet, der Jesus anging, um geheilt zu werden. Markus gibt seinen Namen an: Bartimäus. Darin sieht Rudolf Pesch, ein neutestamentlicher Forscher, ein Zeichen der Geschichtlichkeit. Rudolf Bultmann dagegen sagt, gerade darin sieht man die Ungeschichtlichkeit. Also bei ein und demselben Sachverhalt sieht der eine die Geschichtlichkeit gewährleistet, der andere plädiert für Ungeschichtlichkeit. Ludger Schenke in Mainz sieht in dem sogenannten Einsetzungsbericht bei Markus, also in der Einsetzung des eucharistischen Opfersakramentes, nicht etwa den ursprünglichen Abendmahlsbericht, sondern eine „christlich-hellenistische Kultanamnese“, eine christlich-hellenistische Kultanamnese. Das heißt: Weil man das Abendmahl feierte, hat man Jesus die entsprechenden Worte in den Mund gelegt. Rudolf Pesch dagegen ist in dieser Hinsicht davon überzeugt, dass tatsächlich der Bericht historisch wiedergibt, was geschehen ist. Es liegt nach ihm gerade keine Kultätiologie vor. Das Hauptprinzip dieser Erklärer des Neuen Testamentes scheint darin zu bestehen: Was theologisch harmlos ist, das könnte Jesus gesagt haben. Wenn er so redet wie jeder andere Mensch, dann ist es echt, aber wenn er etwas sagt, was darüber hinausgeht, was unerhört ist, was einzigartig ist, dann ist das Jesus von der Gemeinde oder vom Redaktor in den Mund gelegt. Vor allem hat Jesus nach diesen sogenannten Gelehrten keine Vorhersagen gemacht. Wir kennen alle das Wort Jesu im Markusevangelium: „Kein Stein (nämlich vom Tempel) wird auf dem anderen bleiben, der nicht niedergerissen wird.“ Dieses Wort hat nach Rudolf Pesch der Evangelist selber gebildet und Jesus zugeschrieben. Nachdem nämlich der Tempel zerstört war, so behauptet er, hat man dieses Wort erfunden und Jesus als Weissagung in den Mund gelegt. Man kann nur staunen, mit welcher Frechheit hier in das Neue Testament eingegriffen wird, mit welcher Unverfrorenheit hier die Evangelisten zu Fälschern gestempelt werden, und das alles im Namen der theologischen Lehre!

Meine lieben Freunde, das ist keine historisch-kritische Forschung, sondern das ist unhistorisch-skeptische Forschung. Unhistorisch, weil sie die Geschichte nicht ernst nimmt, skeptisch, weil sie nicht das Vertrauen, das Urvertrauen, das notwendige Vertrauen zu den Texten hat, die uns überkommen sind. Zur Bestimmung der Echtheit der Worte Jesu haben diese Schriftgelehrten ein sogenanntes Kriterium aufgestellt, nämlich: Echt sind Worte Jesu dann, wenn sie eine doppelte Unähnlichkeit an sich tragen. Sie dürfen weder den gleichzeitigen jüdischen Vorstellungen entsprechen noch dem Glauben der Urgemeinde. Nur wenn sie sich von beidem entfernen, von den Lehren des zeitgenössischen Judentums und von den Überzeugungen des Urchristentums, dann seien diese Worte Jesu echt. Jedermann wird sich an den Kopf fassen und fragen: Wie soll das zutreffen? Ja, war denn Jesus nicht selbst ein Jude? Hat er nicht im jüdischen Bereich gelebt? Hat er nicht die Schriften des Alten Testamentes gekannt und zitiert? Wie sollte er sich vom Judentum derart weit entfernt haben, dass nur das echt ist, was er gegen das Judentum gesagt hat? Und ebenso muß man fragen: Ja, hat sich denn die Urgemeinde nicht an die Worte Jesu gehalten? Hat sie ein ganz anderes, ein fremdes, ein fünftes Evangelium erfunden gegenüber den vier Evangelien, die der Heilige Geist der Kirche geschenkt hat?

Diese skeptische Methode zerstört die Historie und zerstört den Glauben an die Evangelien. Jesus kannte die ethische Lehre des Judentums, und er hat sie gereinigt und geklärt, in unverwässerter Form vorgebracht. Die Kirche hat sich auf Jesus berufen, und zwar, weil sie von seiner Persönlichkeit, von seinem Wirken, von seinem Reden überzeugt war. Sie hat die Worte Jesu aufgenommen; sie hat sie bewahrt, sie hat sie getreu bewahrt, und sie hat Schriften, die Jesu Leben und Reden nicht getreu wiedergaben, ausgeschieden. Das sind die sogenannten Apokryphen. Wir haben viele Berichte über Jesus, die aber nicht von der Kirche anerkannt sind, weil sie, geleitet vom Heiligen Geist, sie verworfen hat.

Vom heiligen Johannes Bosco wird berichtet, dass er die Predigt, die er am Morgen in der Pfarrkirche hörte, am Nachmittag seinen Schulkollegen wortgetreu aufsagen konnte. Er hatte ein so gutes Gedächtnis, dass er die gesamte Predigt behalten hat und seinen Mitschülern vermitteln konnte. Das war ein Phänomen, gewiß, aber die Menschen, welche zur Zeit Jesu lebten, hatten ein gutes Gedächtnis, ein viel besseres als wir. Ein Theologieprofessor sprach immer, wenn er von seinem Gedächtnis sprach, als von seinem Sieb, weil so viel durchfällt. Nein, die Zeitgenossen Jesu hatten ein gutes Gedächtnis, und sie haben das, was sie gehört haben, aufbewahrt. Sie haben Jesus erlebt in seinen Worten und in seinen Taten, sie haben sein außerordentliches Selbstbewusstsein erkannt. „Was ist denn das für einer?“ sagten sie, als er den Seesturm stillte. „Was ist denn das für einer, dass ihm sogar der Wind und die Wellen gehorchen?“ Die Schriftgelehrten unserer Zeit möchten Jesus herabstufen auf das Niveau eines Postbeamten in Kapharnaum.

Jesus hat sich, daran ist gar kein Zweifel, auf seine Zuhörer eingestellt. Er hat nicht zu allen in gleicher Weise gesprochen. Das muß ein jeder tun. Wenn ich als akademischer Lehrer eine Vorlesung halte, spreche ich anders, als wenn ich als Prediger vor einer Gemeinde stehe. So hat auch Jesus gehandelt. Er sagt es ja ausdrücklich im Markusevangelium: „Euch ist das Geheimnis des Gottesreiches gegeben. Denen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen dargeboten, damit sie sehen und doch nicht sehen, hören und doch nicht verstehen, damit sie sich nicht bekehren und ihnen vergeben werde.“ Hier sagt Jesus ausdrücklich, dass er zu seinen Jüngern anders spricht als zu der Volksmenge. Jesus hat auch wiederholt dieselbe Lehre vorgetragen. Er hat ja doch vermutlich zwei bis drei Jahre gelehrt. In dieser Zeit musste er selbstverständlich immer wieder dieselbe Thematik ansprechen. Er hat vor einer wechselnden Zuhörerschaft geredet, und so musste er seine Rede immer wieder neu formulieren. Ich sehe gar keine Notwendigkeit ein, von Dubletten zu sprechen. Jesus hat eben beispielsweise bei verschiedenen Gelegenheiten vom Lohn oder vom Reiche Gottes oder von der engen Pforte gesprochen. Das sind keine Dubletten, das sind verschiedene Gelegenheiten, bei denen Jesus zu dem Volke geredet hat. Er hat notwendigerweise immer wieder von denselben Gegenständen sprechen müssen. Die Jünger Jesu haben Jesu Worte nicht immer wortgetreu wiedergegeben, sondern sinngemäß. Das ist eine übliche Weise. Wenn wir von irgendwelchen Reden berichten, die wir gehört haben, dann geben wir das wieder, was uns im Gedächtnis geblieben ist und was wir, mit eigenen Worten zusammengefasst, dem anderen übermitteln wollen. Es gibt da diese schöne Anekdote, wie die Hausfrau ihren Ehemann fragte, der von der Kirche kam, worüber der Pfarrer gepredigt habe. Der Mann, etwas wortkarg, sagte: „Über die Sünde.“ „Und was hat er dazu gesagt?“ fragte die Frau. „Er war dagegen.“ Nun, das ist ja sehr knapp, aber es ist auch nicht falsch, denn dass der Pfarrer über die Sünde gepredigt hat, das wird stimmen, und dass er dagegen war, wird auch stimmen. Der Mann hat also nicht wortgetreu wiedergegeben, was der Pfarrer gesagt hat, sondern er hat es sinngemäß und sehr abgekürzt wiederholt.

Man kann vielleicht – vielleicht – auch darauf reflektieren, dass die Jünger die Worte Jesu auf die jeweilige Situation angewandt haben. Als Beispiel verweist man auf das Wort Jesu über die Ehescheidung. Er sprach zu ihnen: „Wer seine Frau entlässt und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch an ihr.“ Das Wort wird als unzweifelhaft von Jesus gesprochen angesehen. Aber Jesus fährt dann fort: „Und wenn sie ihren Mann entlässt und einen anderen heiratet, so bricht sie die Ehe.“ Also im ersten Satz spricht er vom Manne: „Wer seine Frau entlässt und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch an ihr.“ Jetzt kommt die Frau: „Und wenn sie ihren Mann entlässt und einen anderen heiratet, so bricht sie die Ehe.“ Da behaupten nun die Schriftgelehrten unserer Tage, der zweite Satz sei im Munde Jesu nicht möglich, weil nämlich zur Zeit Jesu in Palästina nicht die Frau den Mann entlassen konnte, sondern nur der Mann. Es bestand ungleiches Recht. Nur der Mann war befugt, seine Frau fortzuschicken, aber nicht die Frau.

Meine lieben Freunde, auf mich machen diese Äußerungen wenig Eindruck. Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass Palästina von den Römern besetzt war, und die Römer hatten selbstverständlich auch ihr Scheidungsrecht mitgebracht, und das römische Scheidungsrecht gestattete auch der Frau, sich vom Manne zu trennen. Zum anderen ist, was da vorgetragen wird, eine reine Vermutung. Man soll uns nicht Vermutungen als Gewissheiten ausgeben! Es ist denkbar, dass die Jünger das erste Wort Jesu durch das zweite ergänzt haben, aber es ist nicht bewiesen. Und deswegen: Hört auf, Hypothesen als Gewissheiten auszugeben! Hört damit auf!

Meine lieben Freunde, die Jünger Jesu haben manche seiner Worte nicht verstanden. Das wird ja immer wieder gesagt. Zum Beispiel im Johannesevangelium 2,22 ist die Rede davon, dass Jesus gesagt hat: „Reißt diesen Tempel ab, und ich will ihn in drei Tagen wieder erstehen lassen.“ Die Juden sagten: „46 Jahre hat man an dem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder erstehen lassen?“ Er meinte aber den Tempel seines Leibes. Nach seiner Auferstehung von den Toten erinnerten sich seine Jünger an dieses Wort und glaubten der Schrift und dem Worte, das Jesus gesprochen hatte. Also sie haben zunächst dieses Wort nicht verstanden, so wie die Juden, die meinten, er habe von dem Tempel aus Steinen gesprochen. Aber nach der Auferstehung Jesu erinnerten sie sich an dieses Wort, und sie konnten erkennen, dass Jesus wahrhaft und wahrhaftig gesprochen hatte.

Meine lieben Freunde! „Der Jesus der Evangelien ist der einzig wirkliche Jesus.“ So hat Kardinal Ratzinger richtig gesagt. Er befindet sich damit in guter Gesellschaft. Der evangelische Theologe Albert Schweitzer, den Sie ja alle kennen von seinem Urwaldhospital in Lambarene in Afrika, der genannte Albert Schweitzer hat einmal geschrieben: „Entweder hat Jesus nicht existiert, oder er war so, wie Matthäus und Markus ihn schildern.“ Eine gute Aussage! Entweder hat Jesus nicht existiert, oder er war so, wie Matthäus und Markus ihn schildern. Was die Urkirche von Jesus verkündet und was sie über Jesus verkündet, das ist weder Entstellung noch Verfälschung. Der Jesus der Evangelien ist der einzig wirkliche Jesus. Die Worte, die ihm zugeschrieben werden, stammen von ihm, und die Taten, die er vollbracht haben soll, hat er vollbracht. Der Jesus der Evangelien ist der einzig wirkliche Jesus.

Vor 200 Jahren lebte in Bayern der große Bischof Johann Michael Sailer. Seine Bücher, Predigten, Reden sind noch heute lesenswert. In einer dieser Predigten hat er das schöne Wort geprägt: „Nicht mehr leben möchte ich, wenn ich ihn nicht mehr reden hörte.“ Jawohl, meine lieben Freunde: Nicht mehr leben möchte ich, wenn ich ihn nicht mehr reden hörte!

Amen.

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