Predigtreihe: Die Zehn Gebote (Teil 17)
10. November 2002
Über Sinn und Ziel der Gebote Gottes (7.,10.)
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir haben über viele Sonntage die ersten acht der Zehn Gebote betrachtet. Wenn wir heute uns dem 9. und 10. zuwenden, dann kann das ganz kurz geschehen, denn das 9. und das 10. Gebot sind ja nur Anwendungen des 6. und des 7. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau!“ „Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Hab und Gut!“ Es wird uns damit nur gesagt, daß die Gebotserfüllung im Inneren anfangen muß und sich nicht begnügen darf mit der Unterlassung der äußeren bösen Tat. Das Innere muß beim Gebot den Ausschlag geben, und wer nur die böse Tat meidet und nicht den bösen Gedanken, nicht das böse Wollen, der hat das Gebot nicht vollkommen erfüllt. Wir sind ja manchmal in der Gefahr des Pharisäers, der meinte, er sei ein guter Mensch, weil er kein Räuber, kein Ehebrecher und kein Mörder sei. Aber das genügt nicht. Die Gebote müssen ganz erfüllt werden, auch im Herzen.
Wir wollen heute noch einmal den tiefsten Grund und das letzte Ziel aller Gebote uns vor Augen führen. Sie strömen ja aus der Liebe Gottes. Gott hat sie uns nicht gegeben, um uns zu quälen, zu belasten, zu bedrängen. Gott hat sie gegeben, um uns zu befreien, zu trösten und zu erheben. Wir müssen uns die innere Notwendigkeit der Gebote darstellen; sie sind keine Willkür-Satzungen, sondern sie ergeben sich notwendig aus der Ordnung der Welt und aus der Ordnung des Menschen. Es ist metaphysisch unmöglich, daß Vergehen gegen die Gebote dem Menschen in einer letzten Weise Nutzen bringen können. Irdisch gesehen ja, oberflächlich gesehen ja, für den Augenblick ja, aber auf die Dauer, in der Tiefe, vor Gott gesehen können Gebotsübertretungen uns kein Glück und keinen Frieden und keinen Erfolg bescheren. Wir wollen uns vor Augen führen, daß die Gebote nicht nur eine Aufgabe sind, sondern auch eine Gabe. An jedem Sonntag beten wir Priester den längsten Psalm, den es in den 150 Psalmen gibt, den 118. Psalm. In diesem Psalm werden hunderte Male die Vorzüge der
Gebote, der Satzungen, der Gesetze Gottes gepriesen. Mit gutem Grund. Die Gebote legen uns nicht nur Bindungen auf, sie vermitteln uns auch Befreiung. Die Gebote sind nicht nur Lasten, sondern sie sind auch Flügel, die uns erheben und über die Fährnisse und Untiefen dieses Lebens hinwegtragen. – Wir wollen diese Wirklichkeit der Gebote in drei Sätzen zusammenfassen, nämlich
1. Die Gebote sind Gesetze der Freiheit.
2. Sie sind Gesetze der Gemeinschaft und
3. sie sind Gesetze des Lebens.
Die Gebote Gottes sind Gesetze der Freiheit. Sie sind von der Freiheit gefordert, denn sie wenden sich an unsere Freiheit, ach, was sage ich, sie wenden sich an unsere Liebe, und es gibt nichts Freieres als die Liebe. Die Liebe ist immer frei geschenkt und frei gewollt. Deswegen sind die Gebote Gesetze der Freiheit, weil sie von der Liebe verlangt und erfüllt werden, weil aller Zwang ihnen fern ist. Sie sind dem Zwang entrückt. Die Gebote werden von der Liebe verlangt. Sie sind ein Ausdruck der Liebe Gottes, der uns sicher durch das Leben geleiten will. Die Gebote werden aber auch in der Liebe erfüllt. Sie überwinden alle Enge und Engherzigkeit, alle Kleinlichkeit und Kargheit. Die Gebote führen über das Ich hinaus, denn sie wenden sich alle an das Du, an das göttliche Du und an das menschliche Du. Sie führen deswegen über die Kargheit und über die Kleinlichkeit des eigenen Ich hinaus. Ich habe schon manche Menschen getroffen, die fortwährend um sich kreisen und deswegen krank werden, die sich nicht zum anderen wenden und deswegen in sich verkrümmt sind. Sie würden frei werden, wenn sie sich dem Du zuwenden würden, dem göttlichen Du und dem menschlichen Du. Die Wendung zum Du bedeutet für den Menschen Freiheit, Freiheit von der Verkrümmtheit in das eigene Ich. Die Gebote führen deswegen auch zur Freiheit. Wenn man sich aus den Leidenschaften, aus den Lastern, aus den Trieben befreien will, dann braucht man sich nur an die Gebote zu halten; sie führen uns todsicher zur Freiheit. Die Überwindung der Leidenschaften, der Laster, der Triebe ist Erfüllung der Gebote. Und wenn zunächst ein gewisser Widerwille in uns sein mag, weil die Gebote eben dem fleischlichen Menschen lästig sind, mit wachsender Erfüllung wird er immer mehr inne, daß die Gebote Gesetze der Freiheit sind. Sie machen uns frei von unseren Leidenschaften, Lastern und Trieben. Die Menschen, welche die Gebote erfüllen, werden immer mehr geneigt, das zu tun, was ihnen auferlegt ist, weil sie erkennen, daß es sie frei macht. Die Gebote sind Gesetze der Freiheit.
Sie sind aber auch Gesetze der Gemeinschaft; denn sie wenden sich alle nach außen. Kein Gebot geht auf das eigene Ich. Alle gehen auf ein Du, auf das göttliche Du und auf das menschliche Du. Sie sind deswegen Gesetze der Gemeinschaft. Einmal deswegen, weil sie zur Gemeinschaft führen. Sie sind der Weg zur Gemeinschaft. Wenn irgendwo eine Gemeinschaft entstehen soll, dann muß man sich an die Gebote halten, denn die Gemeinschaft entsteht durch das freie und freudige gegenseitige Schenken. Der Geist der Gebote ist ein solches Schenken. In der Familie ist es der Geist der gegenseitigen Verantwortung, der gegenseitigen Ehrfurcht, des gegenseitigen Dienens. Im Volke ist es der Geist des Rechtes und der Rücksichtnahme, der aus bloßen Interessenten Volksbürger, Staatsbürger macht. In der Ehe ist es der Geist der schenkenden und der dienenden Liebe, die aus zwei Menschen wahrhaftig eins macht. Die Gebote sind der Weg zur vollkommenen Gemeinschaft. Die Gemeinschaft aber, wenn sie einmal besteht, will sich auch auswirken. Wie kann sie sich anders auswirken als auf dem Weg der Gebote? Wenn die Gemeinschaft einmal zustande gekommen ist, dann ist ihr Ziel durch die Gebote bestimmt. Was die Gebote sagen, das müssen die in der Gemeinschaft Verbundenen verwirklichen, also Anbetung und Ehrfurcht in den ersten drei Geboten, Liebe zu Eltern und Liebe zu Kindern, Achtung vor dem Nächsten, Treue, Wahrhaftigkeit, Erbarmung in den sieben anderen Geboten. Das ist doch, was die Gebote lehren. Und wenn die Gemeinschaft Bestand haben will, dann muß sie sich nach den Geboten richten, dann muß sie sich das Ziel setzen, diese Gebote vollkommen zu erfüllen, damit die Gemeinschaft erhalten bleibt in der Weise, wie sie zustande gekommen ist. Geht hin, so muß man denen, die in der Gemeinschaft leben, sagen, tut all das, was in den zehn Geboten steht, und dann wird eure Gemeinschaft Bestand haben, dann wird sie von Ehrfurcht und Nähe, von Zurückhaltung und Umarmung, von Liebe und Treue, von Verantwortung und Gehorsam bestimmt sein.
Die Gebote sind aber auch Gesetze des Lebens. Ohne die Gemeinschaft kann schon das leibliche Leben nicht bestehen. Wir sind als Menschen angewiesen auf die Gemeinschaft, wenn wir unser leibliches Leben erhalten wollen. Aber nicht nur in dem Sinne, daß uns die Nahrung gereicht wird und die Kleidung und die Wohnung bereitet wird, sondern in dem Sinne, daß wir Menschen haben müssen, die vom Geist der Gebote erfüllt sind; daß wir Menschen haben müssen, die einen sittlichen Willen haben; daß uns Menschen geleiten müssen, die die Gebote zum Ziel ihres Strebens und Lebens machen. „Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sondern von jedem Worte, das aus dem Munde Gottes kommt.“ Und die Gebote kommen aus dem Munde Gottes. Wenn der Mensch sie sich zu eigen macht, dann vermag er Leben zu erhalten. Ohne die Gebote, ohne Treue, ohne Liebe, ohne den Willen zum Kind wäre die Menschheit längst ausgestorben. Die Gebote weisen den Weg zum Leben; sie sind Lebensbedingung, sie sind Lebensvoraussetzung.
Die Gebote sind Gesetze des Lebens aber auch noch in einem anderen Sinne. Auch für unser geistiges Leben sind sie notwendig. Das Geistesleben besteht nicht nur im Verstand, das Geistesleben muß auch Willen und Herz umfassen. Die Verstandesgaben allein, ohne Willenszucht und ohne Herzenstakt und ohne Liebeskraft, sind eine verhängnisvolle Mitgift. Der Mensch muß nach Allseitigkeit seiner geistigen Kräfte streben, und wenn schon eine Kraft das Übergewicht haben soll, dann muß es der Wille sein und nicht der Verstand. Das eben bilden und stärken die Gebote Gottes: den Willen und das Gemüt. Sie helfen uns, die verhängnisvolle Einseitigkeit des Intellektuellen zu überwinden. Außerdem bringen sie uns einen Reichtum an seelischen Haltungen. Sie lehren uns das Bejahen und Einfügen und entfernen uns vom Zersetzen und Zergliedern. Sie lehren uns Ehrfurcht vor der Wirklichkeit, das Schenken und das Dienen. Durch die Gebote lernen wir Bescheidenheit und Geneigtheit zum Opfer, Danken und Bereitschaft zum Tragen und Dulden. Diese Werte, diese Haltungen sind unerläßlich, damit unser eigenes Leben gelingt und damit es zum Segen wird für die anderen.
Wenn wir die Gebote betrachten, dann müssen wir dankbar sein unserem Gesetzgeber. Wir müssen ihm danken dafür, daß er uns Gebote der Freiheit, der Gemeinschaft und des Lebens gegeben hat. Wir wollen ihm in dieser Stunde sagen: Herr, zu wem sollen wir gehen, du allein hast Worte des ewigen Lebens!
Amen.