Predigtreihe: Die Zehn Gebote (Teil 9)
25. August 2002
Die Herrschaft des Rechtes im Gesetz (5.)
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Familie ist die Urgemeinschaft und das Urbild jeder Gemeinschaft. Sie ist ja bestimmt durch das gegenseitige Schenken und Empfangen. Ein Strom geht von den Eltern zu den Kindern und von den Kindern zu den Eltern, ein Strom des Schenkens und des Empfangens.
Aber die Familie ist nicht die einzige Gemeinschaft. Der Mensch ist auf Gemeinschaft angelegt, kann nur leben in der Gemeinschaft, kann sich nur behaupten in der Gemeinschaft. Es muß auch andere Gemeinschaften geben, und die müssen ebenso durch das Schenken und Empfangen bestimmt sein. Wo das Schenken und Empfangen ausfällt, da setzt der Kampf ein, der Kampf des einen gegen den anderen, der Kampf aller gegen alle. Die Menschen stehen sich ja gegenseitig im Wege. Es gibt Spannungen; sie sind Konkurrenten im Lebenswillen, im Genußwillen, im Besitzwillen, und diese Konkurrenz wird im Tierreich mit brutaler Gewalt ausgetragen. Im Tierreich siegt immer der Stärkere. Nicht so bei den Menschen. Dem Menschen ist aufgegeben, den brutalen Kampf ums Dasein abzulösen durch die Herrschaft des Rechtes. Unter den Menschen soll nicht die pure Gewalt den Sieg davontragen, sondern unter den Menschen sollen Recht und Gerechtigkeit das Verhalten zueinander bestimmen.
Die Grundlegung des Rechtes geht auf Gott selbst zurück. Er hat den Grundpfeiler des Rechtes eingerammt, als er auf die Tafeln vom Sinai schreiben ließ: „Du sollst nicht töten!“ Durch dieses Gebot hat Gott den Menschen als etwas Heiliges, als etwas Unverletzliches erklärt. Er selbst hat sich das Leben des Menschen vorbehalten. Er selbst schützt das Leben des Menschen, er stellt sich vor das Leben des Menschen, und wer den Menschen angreift, muß erst Gott angreifen. Er muß erst eine göttliche Ordnung zerstören, bevor er den Menschen, das eigene Leben oder das Leben des anderen, angreifen kann. Mit dem Gebot „Du sollst nicht töten!“ ist nicht nur der Totschlag und der Mord verboten, sondern das Leben insgesamt, auch die Erhaltung und die Entfaltung des Lebens ist unter den Schutz Gottes gestellt. Das äußere und das innere Leben, die Tätigkeit des Menschen, alles das fällt unter das heilige Gesetz: „Du sollst nicht töten!“ An die Stelle des brutalen Gewaltkampfes soll die Herrschaft des Rechtes treten. Diese Herrschaft des Rechtes kann man in drei Sätzen aussprechen, nämlich
1. Du sollst an das Recht glauben,
2. du sollst das Recht schützen, und
3. du sollst das Recht schaffen.
Der erste Satz lautet: Du sollst an das Recht glauben! Gott hat in unsere Seele einen Sinn für Gerechtigkeit und einen Abscheu gegen das Unrecht eingesenkt. Es ist im Menschen ein Instinkt, ein gottgegebener Instinkt für das Recht, der freilich entfaltet und ausgebaut werden muß. Aber es gehört zu der Mitgift der menschlichen Natur, daß er das Rechte wollen und das Üble vermeiden soll. Wenn man ein Kind tödlich verletzen will, dann muß man ihm Unrecht tun. Kinder haben ein ganz feiner Gespür für das, was recht und gerecht ist. Und wer Recht und Gerechtigkeit verletzt, der trifft ein Kind tödlich. Du sollst an das Recht glauben! Das heißt: Du sollst nicht an die Gewalt und an die Macht glauben, sondern an die Vernunft und an den Ausgleich, den das Recht verschafft. Die Gewalt sucht stets das Ihre, das Recht sucht jedem das Seine zu geben. Der Grundsatz „suum cuique“, einem jeden das Seinezu geben, einem jeden das, was ihm gebührt, was ihm zukommt, was ihm zusteht, zu geben, ist ein eherner Grundsatz des Rechtes und dient der Überwindung der Gewalt, der Selbstsucht, der Laune und der Willkür. Du sollst an das Recht glauben! Das heißt auch: Du sollst an den Sieg des Rechtes glauben. Dieser Glaube ist nicht leicht; denn in unserer Welt, wo sich die Dinge hart drängen, scheint oft das Unrecht zu siegen. Da scheint der Gewalttätige der Überlegene zu sein. Aber das ist nur in der äußeren Welt, nur in der Sinnenwelt der Fall. In der inneren Welt, in der Welt, wo Gott lebt, ist derjenige, der der Gewalt unterliegt, weil er für das Recht eintritt, der Sieger.
Im Jahre 1085 starb in Süditalien, in Salerno, der große Papst Gregor VII. Er starb in der Verbannung. Er mußte weichen, weil der deutsche König Heinrich IV. mit seinen Heerscharen ihn vertrieben hatte. Das letzte Wort dieses Papstes war: „Ich habe das Unrecht gehaßt und die Gerechtigkeit geliebt. Darum sterbe ich in der Verbannung.“ Wahrhaftig, ein Sieger! Ein Sieger trotz des Verlustes seiner Residenzstadt, trotz des Sterbens in der Verbannung. Das göttliche Recht ist das Fundament unseres Lebens. Lieber Unrecht leiden als Unrecht tun, so hat es uns der Herr gelehrt. Derjenige, der dich auf die rechte Wange schlägt, dem reiche auch noch die linke hin, ehe du zum ungerechten Schlagen ausholst. Derjenige, der dir den Mantel nimmt, dem laß auch noch den Rock, bevor du dir mit Gewalt zurückholst, was dir genommen wurde. Das göttlich gesetzte Recht ist das Fundament unseres Zusammenlebens, die Grundlage des Fortschritts und aller wahren Kultur. Wer auf diesen Felsen baut, der hat wahrhaftig gut gebaut. Da kommen die Stürme, da rauscht der Regen; das Haus fällt nicht ein, weil es auf den Felsen gebaut ist.
Der zweite Satz lautet: Du sollst das Recht schützen! Das Recht ist auf Erden eine gebrechliche, eine zerbrechliche Angelegenheit. Es ist zart und erhaben und deswegen auch so gefährdet. Es muß geschützt werden. Du mußt das Recht schützen. Du mußt es schützen vor dir selber, nämlich vor der Selbstsucht, dem Eigennutz, der Laune, der Willkür, vor der Begierde. Davor mußt du das Recht schützen. Dieser Schutz geschieht, indem wir uns immer mehr vom Recht und von der Gerechtigkeit leiten lassen, indem wir durchdrungen werden vom Recht und der Gerechtigkeit, indem wir den Glauben an das Recht in unser Leben überführen und danach handeln. Wir schützen das Recht, wenn wir uns vom Recht in allen unseren Handlungen leiten lassen und das Unrecht meiden.
Das Recht muß freilich auch geschützt werden vor anderen. Es muß geschützt werden vor den Gewalttaten anderer. Wir müssen die Menschen zur Gerechtigkeit und zum Recht erziehen. Diese Erziehung zum Recht geschieht, indem man die Menschen die wehtuenden Folgen der Rechtsverletzung spüren läßt. Es muß ein Strafrecht geben. Der Mensch muß inne werden, daß die Verletzung des Rechtes geahndet wird. Nicht um sich zu rächen, wohl aber um die Menschen zu erziehen, daß sie sich rechtmäßig und gerecht verhalten. In der Mainzer Kirchenzeitung hält sich ein Leserbriefschreiber auf, daß der oberste Hüter des Glaubens in unserer Kirche, der Kardinal Ratzinger, den abgefallenen Bischof, der es wagte, Frauen eine Weihe zu spenden, d. h. eine Weihe zu mimen, eine Weihe vorzutäuschen, mit der Exkommunikation belegt hat. Er hält sich darüber auf und klagt über Ungerechtigkeit. Meine lieben Freunde, was der Kardinal Ratzinger getan hat, das ist Dienst am Recht, das ist Ausübung der Gerechtigkeit. Wer so mit dem Sakrament umgeht wie dieser abgefallene Bischof, der muß an den wehtuenden Folgen spüren, was er angerichtet hat. Man kann mit Sakramenten nicht verfahren wie mit Spielen. Es ist nicht möglich, daß man einen Säugling von seinen Sünden losspricht, denn ein Säugling hat keine persönlichen Sünden. Ein Säugling kann nicht das Bußsakrament empfangen; es wäre ein Mißbrauch des Bußsakramentes, einem Säugling die sakramentale Lossprechung zu geben. Er ist, um es deutlich zu sagen, ein untaugliches Subjekt für den Empfang der sakramentalen Lossprechung. Man kann nicht einen Toten taufen. Ein Toter ist unfähig, ein Sakrament zu empfangen. Auch das erste und wichtigste und grundlegende Sakrament, die Taufe, kann er nicht empfangen. Er ist ein untaugliches Subjekt. Ähnlich-unähnlich ist es auch mit der Spendung von Weihen. Frauen sind untaugliche Subjekte, um die Weihen zu empfangen. Dieser Zusammenhang ist nicht schwer einzusehen. Der Logos, die zweite Person in Gott, unser Messias Jesus Christus, ist als Mann erschienen. Er hat in seine nächste Nachfolge und zu seinen Diensten Männer erkoren. Er hat eine theologische Anthropologie begründet, und die heißt: Zu seinen Dienern und zu den Verwaltern seiner Geheimnisse sind nur Männer geeignet und tauglich. Wer dieses Gesetz nicht beachtet, der tut unrecht.
Das Recht muß geschützt werden vor den Unmündigen,. vor den Schwachen und vor den Böswilligen. An der Strafe muß der Mensch inne werden, was es heißt, für die Folgen seiner Taten einzustehen. Freilich muß die Schwere der Strafe auch der Größe des Rechtsbruches entsprechen, und eine Strafe wie die Exkommunikation, die ja den Ausschluß aus dem tätigen Leben der Kirche bedeutet, ist angemessen für den, der Sakramente veruntreut und mit Sakramenten Mißbrauch treibt. Dem Recht haftet eine gewisse Erzwingbarkeit an. Das heißt: Was das Recht gebietet, muß von dem, der ihm nicht nachkommen will, erzwungen werden. Erzwingbarkeit ist eine notwendige Eigenschaft des Rechts. Es ist nicht dem freien Spiel der Partner überlassen, sondern die Gemeinschaft muß das Recht durchsetzen; es muß erzwungen werden, weil das notwendig ist für das menschenwürdige Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft. Zu der Erzwingbarkeit des Rechtes gehört auch das, was wir Notwehr nennen. Notwehr ist nicht Abgehen vom Recht und Übergehen zur Gewalt, sondern Notwehr ist Anwendung des Rechtes bei einem ungerechtfertigten Angriff. Wenn das Leben, die Existenz des Einzelnen oder eines Volkes bedroht wird, dann hat der Einzelne, dann hat das Volk das Recht der Notwehr. Man kann zu den Waffen greifen, um sich gegen einen Angriff auf seine Existenz zu wehren. Das Recht müssen wir schützen. Wir müssen es schirmen, denn es ist die Grundlage unseres menschlichen Zusammenlebens.
Das Recht müssen wir aber auch schaffen. Gott hat die Anlage zum Recht in unsere Seelen eingesenkt, und er hat in seiner Gesetzgebung die Umrisse des Rechtes festgelegt. Aber die Anlage muß entwickelt werden. Es muß eine Rechtserziehung stattfinden. Der Mensch muß das Rechtsbewußtsein ausbilden; er muß sich dazu erziehen, dem Recht zu gehorchen, auch wenn es gegen seine Wünsche und seine Launen geht. Und er muß sich dazu erziehen, dem Unrecht zu wehren, auch wenn die Verführung und die Verlockung für das Unrecht zu sprechen scheinen. Wir müssen das Recht schaffen, das heißt auch, daß wir die Umrisse des Rechtes, die Gott gegeben hat, ausbilden müssen. Umrisse des Rechtes sind etwa in den Zehn Geboten niedergelegt. „Du sollst nicht töten!“ Aber was heißt das im einzelnen? Wie muß das im einzelnen ausgelegt werden? Daß dieses Gebot auch das verkümmerte, auch das scheinbar nutzlose Leben umfaßt, das muß die Gesetzgebung festlegen. Daß das Gebot „Du sollst nicht töten!“ auch das Kind im Mutterschoß umfaßt, das muß die Gesetzgebung herausstellen, und wehe dem Gesetzgeber, der diese Linien, die von Gott vorgezeichnet sind, nicht auszieht! Wehe dem Gesetzgeber! „Du sollst nicht töten!“ heißt die körperliche Unversehrtheit des Menschen schützen, aber auch seine geistige Würde wahren. Der Gesetzgeber, der sich immer mehr zurückzieht von der Ordnung der geschlechtlichen Sittlichkeit, der verfehlt seine Aufgabe. Die rot-grüne Regierung hat hier versagt. Unser Einwand gegen sie ist nicht so sehr, daß sie wirtschaftlich nicht auf die Höhe gekommen ist, unser Einwand ist, daß sie die sittlichen Werte nicht hinreichend schützt!
Der Gesetzgeber muß das Recht schaffen. Er muß die Religion schützen. Auch darin hat der Gesetzgeber versagt. Jeder Muslime und jeder Jude kann in Deutschland auf sein Recht pochen, kann den Schutz des Rechtes anrufen, aber ein Katholik ist beinahe rechtlos. So ist die Lage. Wir müssen endlich dazu kommen, daß auch die religiösen Empfindungen, die religiösen Äußerungen des Christen und des Katholiken geschützt werden, daß das Recht auch für uns geschaffen wird, nicht nur für andere. Das Recht schaffen heißt die Gewalt, den Rechtsbruch immer mehr zurückdrängen und das Recht auf allen Gebieten des Lebens zur Herrschaft bringen, den Willen zum Recht stärken und die Gesinnung der Rechtsbeugung, des Hasses, der Abneigung immer mehr zurückdrängen, überwinden, ja ausrotten. Es muß als unanständig gelten, wenn man zum Unrecht seine Zuflucht nimmt, um sich im Lebenskampf zu behaupten.
Der von Gott begründete sittliche Wille muß in uns und in der Öffentlichkeit zur Herrschaft kommen. Nun ist freilich die Rechtsordnung nicht das Höchste. Über der Rechtsordnung, von ihr geleitet, soll die Sittenordnung herrschen. Es gibt eine Überbietung des Rechtes, und diese Überbietung geschieht durch die Liebe. Die Liebe bedarf des Schutzes des Rechtes. Ohne Recht, ohne den Rechtsboden ist die Liebe schutzlos. Aber die Liebe kann das Recht überbieten, indem sie darüber hinausgeht. Die Liebe muß zunächst einmal alles erfüllen, was das Recht gebietet. Sie kann sich nicht davon dispensieren, dem Recht seine Achtung zu bezeugen. Aber die Liebe kann über das Recht hinausgehen. Sie kann die relative Starrheit des Rechtes lösen, und sie kann in der Überbietung des Rechtes den Menschen trösten und erheben. Der Weg des Menschen geht vom Kampf ums Dasein, vom Instinkt des Gewalttätigen zu den Inspirationen des Rechtes und der Liebe. Im Buch der Psalmen steht ein schönes Wort: „Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb.“ Ja, wahrhaftig, im Reiche des Königs Christus hat man das Recht lieb. Denn Gott ist ein Gerechter und ein Liebhaber der Gerechtigkeit. Immer wieder beten wir in den Psalmen: „Gott ist gerecht und wünscht und verwirklicht die Gerechtigkeit.“ Unsere Aufgabe ist es, uns dem Recht einzuordnen, dem Recht Raum zu geben in unseren Herzen, Raum zu geben in unseren Handlungen, gerecht und nüchtern in dieser Welt zu leben, damit auch wir am Ende unserer irdischen Laufbahn mit Gregor VII. sagen können: „Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht gehaßt.“
Amen.