Predigtreihe: Die Zehn Gebote (Teil 4)
21. Juli 2002
Die Anrufung des Namens Gottes (2.)
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir haben am vergangenen Sonntag erkannt, daß wir uns von den nichtigen Götzen abwenden und dem wahren Gott zuwenden müssen, daß wir ihn preisen: „Du allein bist der Heilige, du allein der Höchste, du allein der Herr!“ Aber da erhebt sich die Frage: Dürfen wir denn Gott unsere Anerkennung aussprechen? Müssen wir nicht eigentlich vor ihm schweigen in lautloser Ehrfurcht, ob unserer Kleinheit und Erbärmlichkeit? Ist es denn eine Ehre für Gott, wenn wir ihn preisen, oder tun wir ihm damit eine Schmach an? Der Herr hat das Gebot gegeben: „Du sollst den Namen Gottes nicht vergeblich nennen!“ Das ist das zweite Gebot in der Zehn-Gebote-Tafel. Wir sollen ihn also nicht mit unseren kleinen, kleinlichen, erbärmlichen Geschäften dieser Erde in Verbindung bringen. Freilich, nicht so sehr durch den Laut des Mundes wird Gottes Ehre getroffen, sondern vielmehr durch unser Sein und Leben. Ob wir ihm mit unserem Verhalten, mit unserem Wollen, mit unserem Tun Ehre oder Unehre bringen, darauf kommt es an. Wir rufen Gottes Namen über uns an, und es ist beim Menschen so, daß er das meiste, was in seine Nähe kommt, herabzieht und mißbraucht. Aber wir können nicht anders als Gottes Namen anrufen; wir müssen ihn anrufen. Wir müssen ihn anrufen als den allwissenden Gott, als den helfenden Gott und als den schaffenden Gott.
Wir rufen den Namen Gottes über uns an als des allwissenden Gottes. Allbekannt ist jene feierliche Zeremonie, wenn vor den staatlichen oder kirchlichen Autoritäten jemand einen Eid leistet: „So wahr Gott mein Zeuge ist, so wahr er mich durchschaut, so wahr ist meine Aussage“, bekennt der Eidleistende. Das ist eigentlich etwas Furchtbares, daß wir Gott gleichsam vorladen, um zu bezeugen, daß wir die Wahrheit sagen. Das kann nur in den feierlichsten und wichtigsten Angelegenheiten geschehen, und deswegen sagt auch der Heiland: „Im täglichen Verkehr soll eure Rede ein Ja für ein Ja und ein Nein für ein Nein sein. Alles, was darüber ist, das ist vom Bösen.“ Über die leichtfertige oder gewohnheitsmäßige Anrufung Gottes hinaus geht noch jener furchtbare Mißbrauch, wenn der Mensch einen Meineid leistet, wenn er Gott zum Zeugen einer Unwahrheit macht, wenn er Gott zum Zeugen seiner Lüge macht. Dieses Verbrechen ist nur möglich, weil die Menschheit weithin den Glauben an den lebendigen Gott verloren hat, weil die Menschheit nicht mehr inne ist seiner Majestät und nicht mehr weiß um seine allwissende Macht. Gott selbst sieht die Gefahr, daß sein Name in Verruf gebracht wird. Deswegen befiehlt er: „Du sollst den Namen Gottes nicht vergeblich, du sollst ihn nicht eitel nennen!“
Aber wenn es möglich ist, den Namen Gottes zu verunehren durch unziemliche Anrufung, so ist es auch möglich, ihn zu ehren durch geziemende Anrufung. Wir dürfen den Namen des allwissenden Gottes über uns nennen. Aber freilich, weit über das Nennen des Namens Gottes hinaus geht der Gedanke, daß Gott unser Sein und unser Wesen durchschaut. Nicht nur bei der Leistung eines Eides, immerfort stehen wir vor ihm und werden von ihm bis auf den Grund unseres Wesens durchschaut. Er kennt jede Regung unseres Herzens, jedes Zucken unseres Geistes, jede Wallung unserer Seele. Was muß Gott da sehen, wenn er uns durchschaut! Es ist für einen wahrhaftigen Menschen schwer, in das Auge eines unbestechlichen Freundes, eines ernsten Vaters, einer fragenden Mutter, einer ahnenden Gattin, eines erstaunten Kindes zu schauen. Das ist schwer, weil er sich an seine geheimsten Vergehen, an seine verdecktesten Erbärmlichkeiten erinnert. Und was ist das gegenüber Gott, dem nichts verborgen ist, dem alles offenliegt, der unser Ruhen und unser Aufstehen kennt, dem die Nacht nicht finster ist und vor dem wir nicht fliehen können bis an die Grenzen der Erde! Gott durchschaut uns bis in alle Fasern unseres Seins, und mancher zittert, was einmal sein wird, wenn Gott uns vor seinen Richterstuhl fordert. Aber eigentlich stehen wir jeden Augenblick vor seinem Richterstuhl. Auch jetzt schon, und nicht erst am Jüngsten Tage durchforscht uns sein allwissendes Auge. Petrus hat in einer schweren Stunde gesagt – und er hat es fast schluchzend gesagt: „Herr, du weißt alles.“ Und er konnte doch in Wahrhaftigkeit hinzufügen: „Du weißt auch, daß ich dich liebe!“ Was werden wir sagen, wenn wir vor Gott stehen? Herr, du weißt alles. Wir berufen uns auf den allwissenden Gott.
Wir berufen uns zweitens auf den helfenden Gott. Wenn wir unsere Werke tun, rufen wir ihn an, und wenn sie getan sind, dann sagen wir: Gott war mit uns. Wir dürfen Gottes Hilfe anrufen, und wir sollen sie anrufen. Wir flehen ja in der Litanei: „Daß du uns in deinem heiligen Dienst erhalten wollest, Herr, wir bitten dich, erhöre uns!“ Aber ist unser Dienst auch ein heiliger? Sind unsere Werke so, daß wir Gottes Namen darüber anrufen dürfen? Vor vielen Jahrhunderten brachen aus dem christlichen Abendland die Heere, die Kreuzfahrerheere, auf, und sie hatten auf ihren Lippen und im Herzen den Ruf: „Gott will es!“ Es war viel echter Glaube, viel heilige Begeisterung in diesen Menschen, die da auszogen, um das heilige Grab zu befreien. Freilich, es war dabei auch viel unredliches Wollen, viel wilde Triebe waren darin und viel unheiliges Begehren. So mag es bei den Völkern wohl immer sein; wir haben darüber nicht zu richten. Wohl aber haben wir darüber zu richten, wie es in uns aussieht, ob wir Gott in Wahrheit anrufen über unsere Taten, über unsere rechten Taten. „Gott will es“, sagen wir. Aber wenn wir näher hinschauen, dann sehen wir: Ich will es. Mein Geist will es, mein Fleisch will es. „Gott will es“, sagen wir, aber in Wirklichkeit müßte es heißen: Meine Gekränktheit, mein Zorn, meine Leidenschaft, meine Bitterkeit, meine Verletztheit, meine Sinnlichkeit, meine Körperlichkeit – die will es.
Das heißt, Gottes Namen eitel nennen, wenn wir ihn über unsere unrechten Absichten und Handlungen anrufen. Aber wir dürfen ihn über unsere rechten Handlungen anrufen. Wenn wir uns gewiß sind, daß wir nach Gottes Willen handeln, dann dürfen wir ihn anflehen. Eine heilige Monika, die über die Meere und Länder ihren verlorenen Sohn sucht, darf flehen: Laß mich ihn finden! Ein Mensch, der versucht ist und heimgesucht ist, darf flehen: Herr, leihe mir deine Hilfe! Ein jeder, der treu seine Arbeit tut und am Morgen zur Arbeitsstätte geht, darf flehen: Laß dein heiliges Antlitz über mir leuchten! Jeder Priester, jeder Arzt, jeder Erzieher, der seinen Dienst antritt, darf zu Gott rufen: Gib mir die Seelen, gib mir die Menschenleben, um die ich kämpfe, um die ich ringe! Und alle Menschen, die sich in wahrhaftiger Liebe begegnen, dürfen sagen: Dein heiliger Name ist angerufen über uns, Herr, verlaß uns nicht! Und wenn es zum Sterben geht, nach einem Leben der Mühe und der Plage, aber wenn der Glaube bewahrt wurde und der Lauf vollendet ist und der gute Kampf gekämpft ist, dann darf ein jeder sagen: Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden! Wir dürfen also Gottes Namen über uns anrufen in allem, was recht und berechtigt ist. Denn es gibt ein Tun, das Gott wohlgefällig ist, und darüber dürfen wir ihn anflehen.
Wir dürfen auch drittens – und das ist das Schwerste – den Namen des schaffenden Gottes über uns anrufen. In einem Psalm heißt es: „Laßt uns niederfallen und weinen vor Gott, unserem Herrn, denn er hat uns gemacht, und wir sind sein Volk und die Schafe seiner Weide!“ Ist das nicht merkwürdig? Warum sollen wir denn weinen vor Gott, weil er uns gemacht hat? Wahrhaftig, wenn man es bedenkt, dann ist es nicht nur zum Weinen, dann ist es zum Erschrecken. Denn Gott hat uns gemacht; wir sind seine Werke, wir sind seine Gebilde. Wie wir sind und wie wir uns geben, fällt darum auf Gott zurück. Wenn man uns sieht, dann muß man sagen: Das ist das Volk Gottes. Wenn man uns sieht, dann kann man bemerken: Das sind die Erlösten. Wenn man uns sieht, dann müssen die Menschen sagen: Das sind die Gläubigen. Kann man da nicht die Schlußfolgerung ziehen: Wenn so die Gebilde Gottes sind, die Werke seiner Hände, muß da nicht auch der Schöpfer so sein? Muß da nicht auch der Erlöser so sein wie diese Erlösten? Und da überfällt uns ein heiliges Erschrecken. Da müssen wir niederfallen und weinen und sagen: Nein, nein, so ist es nicht, so darf es nicht sein. So bist du nicht, unser Herr und Schöpfer. So bist du nicht, unser Heiland und Erlöser, so wie wir sind. Das soll man dir nicht nachsagen. Dein Name soll gepriesen und nicht geschmäht werden. „Du sollst den Namen Gottes nicht vergeblich nennen!“
Es gibt aber doch Menschen, und es hat immer solche gegeben, die sich auf den schaffenden Gott berufen durften. Es gab Menschen, die sich wahrhaftig auf Gott berufen und sagen durften: „Gott ist mit uns.“ Es gab Menschenwerke, die in Gott und für Gott getan sind; und es gab ein Wollen, das von Gott ausging und zu Gott hinführte. Gewiß, wenn man die Menschheit, die dumpfe und dunkler Masse der Menschheit ansieht, dann überfällt einen eine Bangigkeit und eine Sorge, ob nicht der Name Gottes doch geschändet und gelästert wird durch diese Menschheit. Zahllosen Menschen ist der Glaube an Gott deswegen geraubt worden, weil sie es mit Menschen zu tun hatten. Aber es gibt doch den einen oder anderen, es gibt doch Tausende, es gibt doch viele, die schon wach und reif und gottähnlich geworden sind. Es gibt doch Menschen, um deretwillen man sagen muß: Ich freue mich, daß es einen Schöpfer gibt. Es gibt Menschen, um deretwillen wir nicht nur die Erde lieben und das Leben preisen, sondern um deretwillen wir den Himmel loben und Gott rühmen. Solche Menschen gibt es. Und deswegen, wenn wir die Frage stellen: Hat sich Gott mit der Menschheit denn Ehre eingelegt oder Schande eingehandelt?, müssen wir wohl sagen: Ja und abermals ja; Gott hat auch die Menschen zu seiner Ehre geschaffen. Sie sind ein Ausdruck seiner Herrlichkeit und seiner Majestät.
An Weihnachten stehen wir vor der Krippe und bewundern den menschgewordenen Gott. Gott hat es für möglich und erträglich gehalten, ein Menschenkind zu werden. Das ist ja noch viel mehr, als wir erwarten und erahnen konnten. Wenn das möglich war, dann muß es auch möglich und erträglich sein, aus den Menschen etwas zu machen. Dann muß es möglich sein, daß die Menschen das Gute, das Gott in ihnen angelegt hat, entfalten. Dann muß es möglich sein, daß die Menschen reif und wach und gottähnlich werden. Es kann nicht vergeblich sein, daß Gott seinen Namen über den Menschen angerufen hat, als er sie schuf. Er hat seinen Namen an die Menschen gehängt, und das kann nicht vergeblich sein. Es muß der Name Gottes über den Menschen angerufen sein zu seiner Ehre und zu seinem Lobe.
Amen.